Bücherbrief

Wohnplatz von Rieseninsekten

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
30.04.2007. Ein Blick in die Hölle, ein Wien voller Rieseninsekten und eine Straße durch die Apokalypse. In unserem Bücherfrühling flattern keine Bänder, sondern die Nerven. Die besten Bücher im Mai.
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Noch mehr Anregungen gibt es natürlich weiterhin
- im vergangenen Bücherbrief
- in Vorgeblättert
- in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag"

Die besten Bücher des Früphlings finden Sie übrigens in den brandneuen Büchern der Saison. Und natürlich haben wir die aktuellen Literaturbeilagen ausgewertet.


Buch des Monats

Murat Kurnaz
Fünf Jahre meines Lebens
Ein Bericht aus Guantanamo



Nichts weniger als ein Dokument systematischer Folter und Barbarei liegt für die FAZ hier vor. Murat Kurnaz' Schilderung seiner knapp fünfjährigen Haft mit Schlägen, Elektroschocks und Schlafentzug in Guantanamo erinnert sie eindrücklich an Abu Ghraib. Auch wenn man keine der Aussagen überprüfen könne, hält die FAZ sie doch für glaubwürdig. Selbst wenn nur die Hälfte stimmt, ergänzt die FR, ist es noch erschreckend genug. Ihr wurde durch die detaillierten Beschreibungen klar, was hinter dem Wort Folter steckt. Einen schwer erträglichen Blick in die Hölle hat die erschöpfte SZ hinter sich.


Literatur


Cormac McCarthy
Die Straße
Roman



Amerika wurde schon oft zerstört, aber selten so vollständig wie von Cormac McCarthy. Ein Vater und sein Sohn laufen durch eine postapokalyptische Einöde aus kalter Asche und grauem Schnee auf die Küste zu. Ein literarischer Albtraum, schreibt die taz, dem man sich nicht unbedingt ausliefern muss. Für die FR ist der Roman die perfekte Horrorfilm-Vorlage, auch wenn man das Buch wohl nicht angemessen verfilmen könne. Und auch die zunächst zögernde Zeit kapituliert am Schluss vor dieser Mischung aus Melville, Poe und Easton Ellis.

Michael Stavaric
Terminifera
Roman



Mit Michael Stavaric reift einer der besten Autoren Österreichs heran, prophezeit die NZZ. Sein zweiter Roman handelt von einem Krankenpfleger, der Wien als Wohnplatz von Rieseninsekten erlebt. Fantastisch findet die NZZ nicht nur die gigantischen Ameisen und die rätselhaften Wanderheuschrecken, sondern vor allem Stavarics genaue Beschreibung der automatisierten Krankenhauswelt. Der komplizierte und bewusst fragmentarische Satzbau überzeugt sie wie schon im Debütroman. Beim nächsten Mal wünscht sie sich zur Abwechslung aber mal was ganz anderes von Stavaric.

Per Petterson
Im Kielwasser
Roman



Per Petterson ist dabei, die deutsche Kritik im Handstreich zu erobern. Im vergangenen Jahr wurde er für "Pferde stehlen" gefeiert, jetzt sorgt auch sein Vorgängerroman für Furore. Als kalt brennendes Glanzlicht dieses Bücherfrühlings bezeichnet die Zeit die Geschichte um die Trauerarbeit eines Schriftstellers, dessen halbe Familie bei einem Schiffsunglück ums Leben kam. Hellsichtig, großartig, poetisch, kraftvoll, mit diesem und weiteren Lob wird Petterson von der deutschen Kritik überschüttet. Norwegen hat nun wieder eine reelle Chance, der schwedischen Mankell-Übermacht auf dem deutschen Buchmarkt Paroli zu bieten.

A.M. Homes
Dieses Buch wird Ihr Leben retten
Roman



A.M. Homes' Bücher werden gerne verfilmt. In den USA reißt sich Hollywood um die Rechte, meint die Zeit, und sie kann verstehen, warum. Die Geschichte über den erfolgreichen Aktienhändler, den heftige Schmerzen die mühsam erreichte Kontrolle über sein Leben verlieren lassen, sei in Wirklichkeit ein Drehbuch zwischen zwei Buchdeckeln. Die taz nennt das Buch eine surrealistische Romanattrappe, die SZ fühlt sich bei der Satire an den Film "Stranger than Fiction" erinnert. Dem Erzählsog von Homes kann sich trotz aller Hollywood-Kompatibilität keiner entziehen.

Herman Bang
Sommerfreuden
Erzählungen



Zum 150. Geburtstag des schillernden dänischen Journalisten und Schriftstellers Herman Bang werden drei seiner Erzählungen wieder aufgelegt. Im Titelstück geht es um eine der ersten Touristenhorden, die die beschauliche Ruhe eines Hotels zerstört. Einen Lichtschreiber hat die SZ hier wiederentdeckt, der vom Kammerspiel bis zum Drama alle Register beherrscht. Die FR beeindruckt, wie der literarische Impressionist Ungesagtes durch winzige Andeutungen mitschwingen lässt.


Sachbuch


Josef Reichholf
Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends



Das aufregendste Sachbuch des Frühjahrs, frohlockt die FAZ, die vom Zoologen Josef Reichholf nicht nur die Klimadaten der letzten tausend Jahre, sondern auch ihren Einfluss auf die Kultur erklärt bekommt. Demnach wäre es ohne die Erwärmung um 1800 wohl nicht zur Romantik und ihrer Nachtschwärmerei gekommen. Wer sich dem Themenkomplex Klima, Energie und "Energiesicherheit" von der politischen Seite nähern will, dem empfiehlt sie den instruktiven Band Sascha Müller-Kraenners über die zunehmende Verknappung der Energieressourcen, die startenden Verteilungskämpfe und die notwendige Entdeckung alternativer Bezugsquellen

Joseph Ratzinger
Jesus von Nazareth
Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung



Wer äußert sich hier zum jüdischen Propheten Jesus, Papst Benedikt XVI. oder Joseph Ratzinger? Hier spricht eindeutig der Theologe Ratzinger, meint die NZZ, und er spricht gar nicht schlecht, da sind sich im Grunde alle Kritiker einig. Ratzingers Rat, bei der Gestalt Jesu mehr den Evangelisten als den Historikern zu vertrauen, hält die NZZ aber für kontrovers. Die SZ bewundert gerade diese radikale Ernsthaftigkeit und Kompromisslosigkeit, Ratzingers deutliches Bekenntnis zum jüdischen Ursprung des Christentums läutet für sie gar eine neue Epoche der kirchlichen Selbstbeschreibung ein. Die taz bedauert nur den hermetischen Charakter der Studie.


Hörbuch

Victor Hugo
Der letzte Tag eines Verurteilten
Erzählung



Die SZ zweifelt dank Victor Hugo und Christian Brückner nicht nur an der Todesstrafe, sondern am Strafvollzug im Allgemeinen. Brückner sei ja nicht nur mit einer für dieses Sujet perfekten brüchigen Stimme gesegnet, sondern lese auch großartig langsam. So langsam, dass er schließlich für eine Weile ganz verstumme - um dann genau im richtigen Moment wieder fortzufahren.


Bildband


Roger Melis
In einem stillen Land
Fotografien 1965-1989



Roger Melis' 169 ganzseitige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die zwischen 1965 und 1989 entstanden, konservieren laut SZ das ganz spezielle DDR-Gefühl. Die bewusst unspektakulären Momentaufnahmen verdeutlichen für sie eindrücklich die seltsame Mischung aus Selbstachtung und Scham, Mut und Hoffnungslosigkeit, die die Stimmung in der DDR ausmachte. Nichts weniger als das Wesen der Deutschen Demokratischen Republik erblickt sie zum Beispiel in der Aufnahme zweier Arbeiter, die einer Parteirednerin betont lässig nicht zuhören.