Bücherbrief

Teilnehmende Beobachtung

04.07.2015. Ralf Rothmann über Väter und Söhne, Paula Hawkins über scheinbar perfekte Ehen, 570 Gedichte aus Afrika und die Geburt des modernen Istanbul - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juli.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den Perlentaucher bei buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, der eine Provision bekommt.

Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich hier anmelden. Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.

Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2015, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2015, den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Ralf Rothmann
Im Frühling sterben
Roman
Suhrkamp Verlag 2015, 234 Seiten, 19,95 Euro



Das ist keine kleine Leistung: einen schmalen Roman über den Zweiten Weltkrieg vorzulegen, der selbst gestandene Literaturkritiker ausnahmslos erschüttert zurücklässt. Mit "Im Frühling sterben" ist Ralf Rothmann genau das gelungen. In der Geschichte um einen jungen SS-Deserteur, den befreundeten Kameraden, der an seiner Exekution beteiligt ist und die Erblast zwischen Vätern und Söhnen "herrscht eine Endzeitstimmung wie bei Cormac McCarthy", schreibt Thomas Andre auf Spiegel Online. Auch Ina Hartwig (Zeit), Sandra Kegel (FAZ) und Lothar Müller (SZ) sind von der Wucht des Romans ergriffen: so viel
einhelliges Lob liest man selten! In der FR hebt Christian Thomas besonders die "spirituelle Empathie" des Autors hervor und stellt fest: "Man wird diesen Roman nicht los." Für die Welt hat sich Britta Heidemann ausführlich mit Rothmann über den Roman unterhalten.

Paula Hawkins
Girl on the Train
Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich. Roman
Blanvalet Verlag 2015, 448 Seiten, 12,99 Euro



Mit begeisterten Besprechungen (etwa in NPR, New York Times, The Independent und Guardian) und internationalem Beststellerstatus im Rücken hat Paula Hawkins" Krimi "Girl on the Train" auch in Deutschland Kritik wie Leserschaft erobert und es auf Anhieb in die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste geschafft! Zwischen Hitchcocks "Fenster zum Hof" und Gillian Flynns "Gone Girl" siedeln die Rezensenten die multiperspektivisch erzählte Geschichte um eine ohne ersichtlichen Grund verschwundene junge Frau an. Wie alle Figuren plausibel, nachvollziehbar, bisweilen sogar sympathisch gezeichnet sind und man ihnen letztlich doch nicht über den Weg trauen kann, hat Sylvia Staude in der FR schwer beeindruckt. Vor allem die Hauptfigur, die traurige Trinkerin Rachel, hat es den Rezensenten von FAZ und SZ angetan. Die brüchigen Existenzen und gescheiterten Lebensentwürfe, die zerrütteten Beziehungen, Seitensprünge und Einsamkeit der Protagonistinnen treffen jedenfalls einen Nerv, erklärt Stefanie Bolzen in der Welt.

Eric Vuillard
Kongo
Roman
Matthes und Seitz 2015, 108 Seiten, 16,90 Euro



Ausgehend von der Kongokonferenz, die der belgische König Leopold II. 1884 in Berlin initiierte, erzählt Eric Vuillard die verheerende Geschichte des Kongo. Dabei geht der Autor jedoch nicht nüchtern faktentreu vor, sondern rhapsodisch bruchstückhaft, bitter ironisch und mitunter grotesk überzeichnend, wie Georg Renöckl in der NZZ fasziniert feststellt. Auch SZ-Rezensent Joseph Hanimann kann sich der präzisen Wucht dieser "scharf geschwungenen Arabeske" nicht entziehen und hebt insbesondere die "klirrend scharfe und zugleich bilderreich üppige Übersetzung" von Nicola Denis hervor. Im DFL zeigt sich Cornelius Wüllenkemper "überwältigt von vielen bizarren Details des blutigen Kolonialabenteuers, die in der offiziellen Schulgeschichtsschreibung untergehen". Vehementer Einspruch kommt allerdings von Marko Martin, der das Buch im Dradio Kultur als beispielhaft für ein heutiges Phänomen verreißt: "Geschichte als Steinbruch für hyper-ambitionierte Autoren und deren "Ich stelle mir vor"-Preziosen - ein wenig Holocaust, ein wenig Kolonialismuskritik, ein wenig von alldem."

Steffen Kopetzky
Risiko
Roman
Klett-Cotta Verlag 2015, 731 Seiten, 24,95 Euro



Ziemlich streng gehen die Kritiker mit Steffen Kopetzkys historischem Roman "Risiko" ins Gericht. Für Rainer Moritz (NZZ) gibt es zu viele Adjektive, Andreas Förster (FR) stört die beinahe pedantische Detailfülle und Andreas Kilb (FAZ) stolpert über manch verschwurbelten Satz. Einig sind sie sich allerdings darin, dass Kopetzky mit der von Oskar Niedermayer 1914 initiierten, kurios gescheiterten deutschen Afghanistan-Expedition nicht nur eine höchst bemerkenswerte historische Episode ausgegraben hat, sondern sie - von den erwähnten Abstrichen abgesehen - auch in angemessene und ansprechende literarische Form zu überführen versteht, die den Leser über 700 Seiten bei der Stange hält. "Brillant komponiert" findet gar Shirin Sojitrawalla im DLF den Roman, und Christoph Schröder gerät im Tagesspiegel regelrecht ins Schwärmen: "ungemein intelligent und klug verzahnt mit der Gegenwart, geradezu hemmungslos unterhaltsam und spannend noch dazu." Angela Leinen (taz) und Ronald Düker (Zeit) haben sich beim Lesen allerdings eher gelangweilt.

Jürgen Theobaldy
Rückvergütung
Roman
Verlag Das Wunderhorn 2015, 160 Seiten, 19,80 Euro



Um einen raffinierten Coup, Versicherungsbetrug im großen Stil geht es in "Rückvergütung", doch Jürgen Theobaldys Roman ist viel mehr als ein Krimi im engeren Sinne, versichern die Rezensenten. Als Relikt der klassischen Angestelltenliteratur bezeichnet es Christoph Schröder in der SZ, für Lothar Struck (literaturkritik.de) ist es ein Schelmenroman, und FAZ-Rezensent Hans Christoph Buch liest es als ein "gelungenes Remake" von Robert Walsers "Der Gehülfe". Einig sind sie sich, dass es sich bei "Rückvergütung" um eine fesselnde Lektüre mit kritischer Relevanz handelt, und dass Theobaldy in komischen, kriminalistischen und erotischen Stellen stets den richtigen Ton trifft. Als "geradezu erholsam" empfindet Struck, "dass Theobaldy sich jeglichen moralischen Kommentars enthält".

Cesar Aira
Wie ich Nonne wurde
Novelle
Matthes und Seitz 2015, 125 Seiten, 16 Euro



Ein völlig Unbekannter ist der diesjährige Man Booker-Finalist César Aira in Deutschland nicht, sieben seiner Bücher sind hierzulande bei vier verschiedenen Verlagen erschienen. Nun macht sich mit Matthes und Seitz ein fünfter daran, dem argentinischen Autor mit der "Bibliothek César Aira" ein festes Zuhause zu geben. Den Auftakt bildet die bislang unveröffentlichte Novelle "Wie ich Nonne wurde", die mit der Eisvergiftung eines sechsjährigen Mädchens namens César Aira beginnt und von dort einen so irrwitzige Lauf nimmt, dass sich Merten Worthmann in der Zeit "im literarischen Autoscooter" wähnt. Als "tiefschwarze Parodie auf literarische Kindheitserinnerungen" beschreibt Richard Kämmerlings im Tages-Anzeiger die Geschichte, als "surreal" bezeichnet Victoria Eglau (Dradio Kultur) Airas Erzählweise, "rhizomatisch" nennt sie Eberhard Geisler in der NZZ. Vom bescheidenen Umfang darf sich der Leser allerdings nicht täuschen lassen, mahnt Lennart Laberenz im Standard: "César Airas wunderbare Erzählungen, kurz und scheinbar schnell zu lesen, öffnen sich dennoch nur dem Geduldigen, wie die zwanglose Welt eines Kinderspiels." Wer angefixt ist, kann sich zudem auf weitere Novellen von Aira freuen.

Al Imfeld (Hrsg.)
Afrika im Gedicht
Offizin Verlag 2015, 816 Seiten, 59 Euro



Fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis dieser mehrsprachige Band mit 570 Gedichten afrikanischer Autoren erscheinen konnte, erzählt Rezensentin Angela Schader in der NZZ. Sie zieht den Hut vor dem Herausgeber, dem Schweizer Afrikanisten Al Imfeld, den Übersetzern und dem Offizin Verlag, der mit diesem Buch eine "erratische" Fülle an Material bietet, weitgehend geografisch geordnet, staatlich verfolgte Dichter vorstellend, aber auch Texte, die einem Gaddafi huldigen. Sehr hilfreich auch, lobt sie, dass der Band daneben eine Art Ideengeschichte des modernen Afrika enthält, die Gedichte in Einheiten eingeteilt und mit Einführungen versehen sind. Alle Gedichte sind in der Zeit nach der Unabhängigkeit geschrieben worden, erzählt Birgit Voß im DRadio Kultur, viele Autoren kennt Imfeld persönlich. "Ein wirklicher Schatz", versichert sie.


Sachbuch

Charles King
Mitternacht im Pera Palace
Die Geburt des modernen Istanbul
Propyläen Verlag 2015, 544 Seiten, 28 Euro



Das Pera Palace im euopäischen Viertel Beyoglu war Istanbuls mondänstes Hotel, hier logierten die Reisenden des Orient-Express; in den Romanen von Agatha Christie, Ernest Hemingway und Graham Greene war es eine feste Größe. Anhand des Pera beschreibt der amerikanische Politikwissenschaftler Charles King, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Hauptstadt des Osmanischen Reichs das moderne Istanbul wurde: Er erzählt von Tango und Blues, von Agenten und Doppelagenten, von der Vertreibung der Griechen, Bulgaren und Armenier, von Frauenrechtlerinnen und Miss Universums, von Atatürk und Trotzki. In der SZ findet das Christiane Schlötzer so kundig wie vergnüglich. In der FAZ lässt sich Rainer Hermann von dem Buch so sehr fesseln, das er auch nach fünfhundert Seiten gern noch weiter gelesen hätte.

Alice Goffman
On the Run
Die Kriminalisierung der Armen in Amerika
Antje Kunstmann Verlag 2015, 368 Seiten, 22,95 Euro



Alice Goffman hat sechs Jahre in einem Schwarzenviertel von Philadelphia gelebt und berichtet in ihrem Buch von der ganzen Härte und Kälte, die in diesem von Drogen und Gewalt geprägten Milieu herrschen. In der FAZ weiß Michael Hochgeschwender das zu schätzen, allerdings gehen ihm die Sympathien der Autorin für ihre durchaus schwerkriminellen Protagonisten doch zu weit. Ähnlich sieht das Susanne Lenz in der FR, Sie lobt das Buch als reportagehaft und lebendig geschrieben. Die Probleme, die Goffman beschreibt, seien unverkennbar: Heute sitzen 500 Prozent mehr Menschen in amerikanischen Gefängnissen als 1975, die Hälfte davon sind Schwarze. Allerdings hätte sich Lenz mehr Belege gewünscht für Goffmans Kritik an der Polizeiarbeit. In den USA hat das Buch vor allem durch die vielen Todesschüsse auf schwarze Jugendliche viel Aufmerksamkeit erfahren, aber auch Kritik. In der New Republic etwa fragte der Jurist Steven Lubet, ob "teilnehmende Beobachtung" soweit gehen könne, bei einem geplanten, wenn auch nicht ausgeführten Fememord das Fluchtauto zu fahren. Allerdings bereut Goffman in ihrem Buch diese Aktion. Im Tagesspiegel gibt es ein Interview mit Goffman, in dem sie vor allem über die Zweiklassen-Justiz in den USA spricht.

Gillen D"Arcy Wood
Vulkanwinter 1816
Die Welt im Schatten des Tambora
Theiss Verlag 2015, 336 Seiten, 29,95 Euro



Das Jahr 1815 ist mit Waterloo und dem Wiener Kongress in etlichen historischen Sachbüchern vertreten. In "Vulkanwinter 1816" erinnert Gillen D"Arcy Wood an ein Ereignis, das in seiner globalen Reichweite jegliche Politik in den Schatten stellte. Die Explosion des Tambora auf einer kleinen indonesischen Insel war der schwerste Vulkanausbruch der letzten 25.000 Jahre und löste Überschwemmungen, Missernten, Hungersnöte, Wirtschaftskrisen und Pandemien aus, die bis nach Europa und Amerika reichten. Als eindrucksvolle Fallstudie über die Interdependenz natürlicher und menschlicher Systeme liest Matthias Glaubrecht (Welt) das Buch, während Matthias Schulz im Spiegel auch auf die positiven Effekte (Wood nennt sie "Telekonnexionen") hinweist: Die Draisine, das Fahrrad, sogar Mary Shelleys Roman "Frankenstein" entstanden in unmittelbarer Folge der Katastrophe. "Dieses gut lesbare und faktenreiche Buch ist auch ein Weckruf", meint Günther Wessel im Dradio Kultur und blickt sorgenvoll in unsere klimamanipulierte Zukunft.


Munro Price
Napoleon
Der Untergang
Siedler Verlag 2015, 464 Seiten, 24,99 Euro



Unter den Neuerscheinungen zum zweihundertsten Jahrestag von Waterloo ragte für einige Rezensenten das Buch des britischen Historikers Munro Price heraus. Denn es stellt vor allem klar, dass Napoleons Untergang lange vor der großen Schlacht besiegelt war. En détail schildert Price all die politischen Fehler, die Napoleon seit seinem Rückzug aus Russland machte, und die Gelegenheiten, die er verstreichen ließ. In der Zeit würdigt Stephan Speicher, dass Price viele bisher unerschlossene Quellen auswertet, die ihm ebenso Napoleons "Gladiatorennatur" anschaulich machten wie die fatale "Angewohnheit, den Feind zu verachten". In der SZ freut sich Gustav Seibt, hier nicht nur Geschichte als farbiges Epos geboten zu bekommen, sondern "Stoff zum Nachdenken". Andreas Kilb findet in der FAZ das Buch zwar etwas "verkopft und konzeptlastig", aber durchaus "lesenswert".
Stichwörter