Bücherbrief

Rücksichtslos, aber nicht ohne Empathie

06.08.2015. Harper Lees neuer Atticus Finch, die Meads bei Lily King, Gedichte von Emily Dickinson und die wundersame Entstehung der baskischen Identität. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2015, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2015, den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Harper Lee
Gehe hin, stelle einen Wächter
Roman
Deutsche Verlags-Anstalt 2015, 320 Seiten, 19,99 EUR



Harper Lees Solitär "Wer die Nachtigall stört" ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur und mit Gregory Peck einschlägig verfilmt. Doch die Südstaaten-Geschichte um den Anwalt Atticus Finch, der sich gegen Unrecht und Rassismus stemmt, ließ die Autorin immer auch ein wenig als One-Hit-Wunder dastehen. Mit der Veröffentlichung des Romans "Gehe hin, stelle einen Wächter" hat Lee diesen Verdacht nun ausgeräumt. Vor der "Nachtigall" geschrieben, aber zeitlich später angesiedelt, erzählt der "Wächter", wie Jean Louise Finch (Scout) als junge Frau in ihre alte Heimat zurückkommt und dort ihren Vater als sehr viel komplexere Person erlebt als die achtjährige Scout in "Wer die Nachtigall stört": nicht als lupenreinen Idealisten, sondern als Opportunisten mit sogar rassistischen Zügen. taz-Rezensentin Sylvia Prahl findet diese Version viel glaubhafter. Sie liest den Roman auch als Geschichte einer Emanzipation der Vatertochter Scout. Auch Felicitas von Lovenberg in der FAZ und Angela Schader in der NZZ finden die Geschichte im "Wächter" reifer und komplexer erzählt als im berühmten Vorgänger. Die britische Autorin Ursula Le Guin verteidigt Atticus in ihrem Blog gegen den Vorwurf, er sei zum Rassisten geworden: "Ich denke, wenn wir Atticus erst als Heiligen und jetzt als Dämon sehen, dann weigern wir uns einfach, ihn als Mann zu sehen." In der Welt wiederum sieht Wieland Freund die Lichtgestalt Atticus Finch weniger um eine Facette ergänzt, wie es oft hieß, sondern rundweg widerlegt.

Lily King
Euphoria
Roman
C. H. Beck Verlag 2015, 262 Seiten, 19,95 EUR



Stark fiktionalisiert, aber gut recherchiert erzählt Lily King in ihrem Roman "Euphoria" die Lebensgeschichte der Ethnologin Margaret Mead, die zusammen mit ihrem Mann und ihrem Liebhaber in den dreißiger Jahren die Papuas in Neuguinea erforschte. Mit großer Begeisterung verfolgt Ulrich Rüdenauer in der SZ, wie King die Forscher und Liebenden in den reinsten Erfahrungsrausch versetzt: voller "Leidenschaft, Wissensgier, Eifersucht". In der New York Times liest Emily Eakin den Roman als intelligente und auch witzige Geschichte konkurrierender Egos. Sie erinnert aber auch daran, was wir Mead in Hinsicht auf sexuelle Befreiung, Frauenrechte und die Legalisierung von Marihuana zu verdanken haben. In der FAZ lobt Sandra Kerschbaumer den Roman zugleich als "sinnlich-suggestiv" wie auch als Auseinandersetzung mit den Positionen Meads. Im Deutschlandfunk erzählt Martin Grzimek ausführlich von seiner Lektüre.

Ulrich Peltzer
Das bessere Leben
Roman
S. Fischer Verlag 2015, 448 Seiten, 22,99 EUR



Ulrich Peltzers Romane sorgen stets für Aufregung im Literaturbetrieb, auch auf "Das bessere Leben" haben sich die Kritiker mit großen Erwartungen gestürzt: Der Roman folgt drei Managern mit linker Vergangenheit auf den Bewusstseins- und Finanzströmen der globalisierten Wirtschaftswelt, von Zürich über Amsterdam nach Sao Paulo. Sehr konsequent findet Roman Bucheli in der NZZ Peltzers "Ästhetik der Planlosigkeit", die keinen inneren Zusammenhang mehr kennt, sondern nur noch den Zufall. In der FAZ sieht ein begeisterter Patrick Bahners "die Existenz des flexiblen Menschen im heutigen Kapitalismus" beschrieben. Für Dirk Knipphals ist "Das bessere Leben" allen linken Diskursen zum Trotz weniger ein politischer, als vielmehr ein hochliterarischer Gegenwartsroman. Einwände wurde jedoch auch geltend gemacht: In der SZ vermisst Gustav Seibt das Fehlen einer analytisch-reflexiven Ebene. In der Zeit findet Ijoma Mangold das Ganze unnötig komplex, und in der FR sorgt sich Harald Jähner gar um die intellektuell überforderte Jugend.


Charb
Brief an die Heuchler
Und wie sie den Rassisten in die Hände spielen
Klett-Cotta Verlag 2015, 96 Seiten, 12,00 EUR



Dass Stéphane Charbonnier alias Charb zwei Tage, nachdem er seinen "Brief an die Heuchler" vollendet hatte, von Islamisten ermordet wurde, macht den Text für Alex Rühle (SZ) zu einem "tragischen Vermächtnis". Gleichsam aus dem Grab ergreift der Zeichner und Charlie Hebdo-Chefredakteur darin noch einmal das Wort und wehrt sich gegen den Vorwurf der "Islamophobie", der ihn jahrelang von rechts und links verfolgte. Charb präzisiert die Stoßrichtung seiner Satire als "Islamismus-Phobie" und sieht sich dabei "mit allen im Bunde, die bereit sind, die Aufklärung zu verteidigen", wie Andreas Platthaus in der FAZ festhält. "Ein "pointenreiches, scharfsinniges Pamphlet" nennt Jörg Magenau das Buch im Dradio Kultur, und der Schriftsteller Michael Ebmeyer würdigt es in seinem Blog bei Zeit Online als in Zeiten von Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhetze auch in Deutschland hochaktuelles "Fanal gegen die soziale Feigheit".

James Agee
Da mir nun bewusst wird
Prosa, Skripte, Projekte
Diaphanes Verlag, Zürich 2015, 240 Seiten, 22,95 Euro



James Agee ist hierzulande vor allem durch seine lange Reportage "Preisen will ich die großen Männer" über Baumwollfarmer im Alabama der 1930er Jahre bekannt und bewundert. Dass er als Filmkritiker, Essayist und Erzähler eigentlich auch der Begründer des New Journalism war, zeigt dieser Band mit Prosa und Skizzen, in denen er den Journalismus der Teilhabe und Subjektivität zur Kunstform erhebt. Bisher legte sich nur Frank Schäfer in der taz für diesen Band ins Zeug, das aber umso nachdrücklicher. Er beschreibt Agee durchaus als "unsteten Geist mit tausend Ideen und zu wenig Geduld", der von Neugier ebenso getrieben war wie von Selbstüberschätzung. Aber das wird völlig nebensächlich angesichts der Wucht dieses Schreibens: "Agee ist ein großartiger Menschenbeobachter, rücksichtslos, aber nicht ohne Empathie."

Emily Dickinson
Sämtliche Gedichte
Carl Hanser Verlag 2015, 1408 Seiten, 49,90 EUR



Mit knapp 1800 Gedichten auf gut 1400 Seiten bietet der Hanser Verlag erstmals Emily Dickinsons dichterisches Gesamtwerk in einer zweisprachigen Ausgabe - und die Rezensenten sind begeistert! Nicht zuletzt über die Leistung Gunhild Küblers, die Gedichte ins Deutsche zu übertragen, zu kommentieren und die trotz 1400 Seiten sehr handliche Dünndruckausgabe mit einem umfangreichen Nachwort zu versehen. Als "schlicht sensationell" und offensichtlich das Werk einer "Schwester im Geiste" preist es der DLF. Harald Hartung bescheinigt der Schweizer Übersetzerin in der FAZ für ihre "beherzte poetische Übertragung" einen "sprachlichen und philologischen Eros". In der FR ermuntert Arno Widmann zur Lektüre: "Dickinson schreibt einfache Sätze mit einfachen Wörtern. Viele der Gedichte sind gerade mal vier Zeilen lang. Man liest eines, liest weiter und noch weiter und plötzlich liest man nicht mehr, sondern denkt weiter. Man hebt ab." Zu seinem vollkommenen Glück fehlt Jürgen Brôcan in der NZZ lediglich "die Wiedergabe zumindest eines instruktiven Beispiels im Faksimile".


Sachbuch

Ibon Zubiaur
Wie man Baske wird
Über die Erfindung einer exotischen Nation
Berenberg Verlag 2015, 120 Seiten, 20,00 EUR



Kaum eine Region hat in Europa ihre ethnische Besonderheit mit solcher Härte behauptet wie das Baskenland mit seiner exotischen Sprache, der Schwerindustrie und dem Kunstmuseum in Bilbao. Ibon Zubiaur beschreibt in seinem Essay, wie konstruiert und künstlich die baskische Identität ist, die der Region erst im 19. Jahrhundert vom Nationalisten Sabino Arana übergestülpt wurde. Der 1971 geborene, seit langem in Deutschland lebende Zubiaur gehörte nach Francos Tod zur ersten Generation spanischer Schüler, die auf Baskisch unterrichtet wurde - um die Sprache dann nie wieder zu sprechen. Paul Ingendaay, der noch immer voller Bitterkeit an den Terror der Eta denkt, findet diesen locker geschriebenen Essay in der FAZ geradezu befreiend. In der SZ lobt Sebastian Schoepp Zubiaurs Buch als Lehrstück über fehlgeleiteten, auf Abgrenzung und Feindschaft bauenden Identitismus. In der taz empfiehlt Reiner Wandler den Essay. Völlig in Ordnung geht übrigens für sämtliche Kritiker, dass Zubiaur von seinem Spott den Fußballverein Athletic Club Bilbao ausnimmt, der nur Spieler aus der Region aufnimmt und trotzdem in der ersten Liga spielt.


Albrecht Schöne
Der Briefschreiber Goethe
C. H. Beck Verlag, München 2015
ISBN 9783406676031
Gebunden, 539 Seiten, 29,95 EUR



An die 20.000 Briefe hat Goethe im Laufe seines Lebens geschrieben, die Wissenschaft hat sie bisher kaum beachtet, obwohl Goethe selbst sie zu den "wichtigsten Denkmälern" zählte, "die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Albrecht Schöne, der bald 90-jährige Doyen unter den Germanisten, füllt diese Leerstelle und untersuchte in akribischen Einzelstudien neun Briefe an den Verleger Johann Friedrich Cotta, den Komponisten Carl Zelter oder Wilhelm von Humboldt. In der NZZ bejubelt Jeremy Adler die brillante Arbeit und die Magie der Briefe. In der FR preist Harro Zimmermann, mit welch "unbestechlicher Gelehrsamkeit" Schöne vorgeht. Im Perlentaucher verfolgt Arno Widmann bewundernd diese gewissenhafte Forschung: "Alles hat eine Bedeutung für den, der zu lesen versteht." In der SZ erlebt Gustav Seibt das "Wunder des Verstehens" und beschreibt sehr schön anhand eines Briefes an die Kaiserin Maria Ludovica von Österreich, wie Goethe mit dem Pronomen "ich" nicht nur einen schockierenden Mangel an Bescheidenheit offenbarte, sondern geradezu einen Gefühlsexzess.

Robert Macfarlane
Karte der Wildnis
Matthes und Seitz Berlin 2015, 303 Seiten, 34,00 EUR



Auf der Suche nach Wildnis auf den britischen Inseln hat sich Robert Macfarlane durch abgelegene Inseln und verborgene Gebirge, unwegsame Moore und undurchdringliche Wälder geschlagen, um das Nature Writing mit höchstem literarischen Anspruch fortzusetzen. In der NZZ bescheinigt Jürgen Brocan dem Autor echten Entdeckergeist und ein tiefes Verständnis für Landschaft. In der Welt bewundert Richard Kämmerlings die anschauliche Beschreibung der Natur wie auch die präzise Vermessung der Sehnsucht nach ihr. In der FAZ hebt Elsemarie Maletzke auch lobend die Übersetzung durch Andreas Jandl und Frank Sievers hervor. Im br betont Kirsten Martin, das Macfarlanes Begriff von Wildnis durchaus relativ ist, schließlich findet er sie selbst im Lake District. Absolut gelungen findet sie jedoch die Gestaltung des Bandes durch Judith Schalansky.

Robert Beachy
Das andere Berlin
Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867 - 1933
Siedler Verlag 2015, 464 Seiten, 24,99 Euro



Ist Homosexualität eine deutsche Erfindung? Aber absolut, meint der amerikanische Historiker Robert Beachy. Zumindest was die wissenschaftliche Auseinandersetzung und gesellschaftliche Anerkennung angeht. In seiner Kulturgeschichte zeichnet Beachy die deutschen Diskussionen im 19. und 20. Jahrhundert nach und schildert die Entwicklung einer schwulen Subkultur in Berlin. ""Berlinese" war im Italienischen ein Synonym für "homosexuell"", lernt SZ-Rezensent Jens Bisky, der allerdings auch beeindruckt ist von dem Preis, den viele Homosexuelle für ihr Outing zahlten mussten. Bisky lobt das Buch als lehrreich und gut erzählt. Wer wissen will, wo und wie der Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz geführt wurde, kann auf dieses Buch nicht verzichten, meint Klaus Pokatzky im Dradio Kultur. Er hätte sich allerdings noch mehr "historisch Hintergründiges" gewünscht. Und im Interview mit Spon ermunter Autor Beachy die Deutschen, stolz zu sein auf diesen Teil ihrer Geschichte, "ihn auf Briefmarken und Plakate an der Autobahn drucken. Vielleicht würde das auch jene überzeugen, die im Moment noch gegen die Homo-Ehe sind". Zur weiteren Lektüre sei auch noch auf Tjark Kunstreichs Aufsatzsammlung zur Politik der queeren Szene hingewiesen, "Dialektik der Abweichung", das taz-Rezensent Jan Feddersen empfiehlt.