Bücherbrief

Grundlegende Erinnerungsskepsis

13.05.2011. Zwei Jahre Knast im Irak, ein Prozess gegen den Vorsitzenden des Judenghettos von Lodz, sieben unheimliche Geschichten aus dem Museum, Reise in das Innere Afrikas und der USA, ein Blick auf den Ursprung der Schönheit und in die Ordnung des Periodensystems - man kommt rum mit den besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Büchern der Saison vom Frühjahr 2011, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2011, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und den Leseproben in Vorgeblättert.


Literatur

Abbas Khider
Die Orangen des Präsidenten
Roman
Edition Nautilus 2011, 160 Seiten, 16 Euro



Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten" erzählt von einem jungen Mann, der zwei Jahre unschuldig im Irak Saddam Husseins im Gefängnis sitzt. Der Titel verdankt sich einem der finstersten Momente: Die Hoffnung auf eine Amnestie zu Saddams Geburtstag geht ins Leere; stattdessen bekommt jeder Gefangene nur eine Orange, mit freundlichem Gruß vom Tyrannen. In Rückblenden wird auch - in nüchternem Ton, wie FAZ-Rezensent Wolfgang Günter Lerch hervorhebt - die Jugendgeschichte des Protagonisten und vom Leben in einer Diktatur erzählt. Es ist eine halbfiktionale Geschichte, denn der 1973 geborene Abbas Khider saß selbst zwei Jahre im Irak im Gefängis, bevor er 1996 floh und 2000 in Deutschland landete, erzählt Dirk Knipphals, der aus diesem Buch einiges gelernt hat, in der taz. In der Zeit notiert Jens Jessen fassungslos: "Der Lagerroman ist keine historische Gattung." (Hier eine Leseprobe im pdf, und hier eineaus Khiders ebenfalls sehr empfehlenswertem ersten Roman "Der falsche Inder".)

Andrzej Bart
Die Fliegenfängerfabrik
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2011, 259 Seiten, 19,95 Euro



Seit Hannah Arendts Kritik an den Judenräten (mehr hier) wird über deren Rolle in der NS-Zeit gestritten. Haben sie im Bemühen, möglichst viele Menschen zu retten, den Nazis in die Hände gespielt? Der polnische Autor Andrzej Bart verhandelt dieses Thema in seinem Roman "Die Fliegenfängerfabrik" am Beispiel des Vorsitzenden des Ghettos von Lodz, Chaim Rumkowski. Ihm wird im Buch der - fiktive - Prozess gemacht. Neben einem gottgleichen Richter tritt ein Chor von Experten, Opfern und Zeugen auf, zu denen auch Hannah Arendt und der deutsche Ghetto-Verwalter Hans Biebow gehören, erzählt ein tief beeindruckter Andreas Breitenstein in der NZZ. Für ihn ist der Roman ein ganz großer, brillant inszenierter Wurf. In der FAZ lobt Marta Kijowska den Roman als düster und doch unbeschwert, kurz: in höchstem Maße originell. Und wer immer noch skeptisch ist - Nachgeborener macht ausgerechnet einem Judenrat den Prozess? - der lese Eva Menasses informative und begeisterte Kritik in der Welt: "Dieser Bart macht da, wo man nichts richtig machen kann, instinktiv einfach gar nichts falsch".

Hartmut Lange
Im Museum
Diogenes Verlag 2011, 113 Seiten, 19,90 Euro



Das Deutsche Historische Museum in Berlin ist Schauplatz der hier gesammelten sieben unheimlichen Geschichten von Hartmut Lange. Es geht um Dienstpersonal, das auf seiner eigenen - marxistisch-leninistischen - Geschichtsauffassung beharrt, um Besucher mit fixen Ideen, oder Hitlers Mutter steigt aus dem Rahmen und irrt durch die Museumsräume. Die Rezensenten in SZ und taz waren nicht allein wegen der Erzählkunst Langes hin und weg. Taz-Rezensent Jochen Schimmang bewundert das Irritierende, die stille Melancholie und den bissigen Humor der Erzählungen. In der SZ erkennt Ulrich Rüdenauer eine "grundlegende Erinnerungsskepsis" des Autors: Wenn Geschichte als etwas Konserviertes betrachtet wird, das "nichts mehr mit uns zu tun hat, wird das Bewahrte zu etwas Verdrängtem. Es kehrt jedoch irgendwann in Form des Unheimlichen wieder." (Hier eine Leseprobe als pdf)

Nathanael West
Eine glatte Million
Oder: Die Demontage des Lemuel Pitkin. Roman
Manesse Verlag 2011, 224 Seiten, 19,95 Euro



Ein Klassiker. Erschienen ist er 1934. Nathanael West erzählt die tragikkomische Geschichte des Lemuel Pitkin, ein Candide in der Zeit der Großen Depression, der eine glatte Million zu gewinnen erhofft und dabei Auge, Bein, Freundin und schließlich das Leben verliert. Der Roman ist "eine Bankrotterklärung des Tellerwäscher-Mythos schlechthin", erklärt Sacha Verna im Deutschlandradio, aber er ist auch "hoch komisch, zeitlos schrecklich und unbedingt lesenswert". Im Tagesspiegel zeichnet Oleg Jurjew ein kurzes informatives Porträt des Autors und meint: "West dekonstruiert die traditionelle amerikanische Selbstvorstellung, aber er konstruiert auf deren Ruinen keinen anderen 'Überbau'. Das gibt seinem überaus komödiantischen Werk eine einzigartige Tragik und Hoffnungslosigkeit." In der Zeit bewundert Tobias Lehmkuhl den "ätzenden Witz" und die "stilistische Raffinesse" des Autors. (Hier eine Leseprobe)

Hans Keilson
Da steht mein Haus
Erinnerungen
S. Fischer Verlag 2011, 143 Seiten, 16,95 Euro



101 Jahre alt wurde Hans Keilson im Dezember 2010. Die Zeitungen haben anlässlich dieses stattlichen Geburtstages ausführlich über ihn berichtet. Volker Weidermann hat ihm in der FAS ein schönes Porträt gewidmet. In der NYT feierte ihn Francine Prose als Genie. Jetzt sind die Erinnerungen des in Bad Freienwalde an der Oder geborenen und seit über 50 Jahren in Amsterdam lebenden Psychoanalytikers und Schriftstellers erschienen: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa auf hundert Seiten. "Souverän" findet das Lothar Müller in der SZ, für den dieses Buch zu den "bedeutendsten Erinnerungsbüchern deutscher Juden zählt". Thomas Karlauf erklärt in der Welt: "Wer verstehen will, wie Einzelschicksal und Zeitgeschehen ineinander greifen, darf weder Zeitsprünge noch Gegenüberstellungen fürchten." Und Sigrid Löffler hofft im Kulturradio, dass dieser schmale Band, den ein Gespräch des Herausgebebers Heinrich Detering mit Keilson ergänzt, die Leser ermuntern wird, weitere Werke von Keilson zu lesen, zum Beispiel seinen Roman "Tod des Widersachers" (1959), in dem er die "zentrale Erfahrung seines Lebens" thematisiere: "die psychopathologischen Ursachen des Judenhasses. Antisemitismus als Projektion eigener verschwiegener, krankmachender Selbstzweifel auf einen Feind: Was man an sich selbst hasst, schreibt man einem Widersacher zu, den man dafür bis zur Vernichtung bekämpft."


Reportage

V.S. Naipaul
Afrikanisches Maskenspiel
Einblicke in die Religionen Afrikas
S. Fischer Verlag 2011, 368 Seiten, 22,95 Euro



In seinen neuen Reportagen "Afrikanisches Maskenspiel" berichtet V.S. Naipaul von seinen Reisen nach Uganda, Nigeria, die Elfenbeinküste, Ghana und Südafrika, wo er sich vor allem mit den Religionen und magischen Riten Afrikas beschäftigt hat. Natürlich wird Sir Vidia kein taktvoller Autor mehr, auch in diesem Buch schlägt sich seine "ätzende Bitterkeit" nieder, meint Markus Gasser in der FAZ, sie erscheint ihm aber überhaupt nicht mehr willkürlich. Mit aufrichtigem Interesse widme sich Naipaul den animistischen Kulten: der Religion der Yoruba oder dem Glauben der sanftmütigen Pygmäen: "Wenn bei uns ein alter Mensch stirbt, sagen wir, eine Bibliothek ist abgebrannt." Im Guardian staunte der Autor Giles Foden über die von Halluzinogenen befeuerten Astralreisen der Fang, fröstelte allerdings angesichts der Kälte, mit der Naipaul schreibt: "Nie schreibt er über Afrika mit etwas, was auch nur im Entferntesten an Liebe herankommt."

Wolfgang Büscher
Hartland
Zu Fuß durch Amerika
Rowohlt Verlag 2011, 300 Seiten, 19,95 Euro



Tja, was soll man noch anderes tun, als dieses Buch zu kaufen, nachdem man Dirk Knipphals' Artikel in der taz gelesen hat: "Die wirklich guten Erlebnisberichtsbücher sind diejenigen, in denen den Erzähler, ohne groß ein Ding daraus zu machen, etwas anderes antreibt: Erleuchtungssehnsucht. Wolfgang Büscher schreibt solche Bücher, die dann gern zwischen alle Stühle fallen - nicht Roman, aber auch nicht Sachbuch, und der Begriff der Großreportage trifft auch nicht wirklich." Für Knipphals ist dieses Buch ein Beispiel dafür, dass nicht fiktionale Bücher im Moment die aufregendste Literatur bieten. Ebenso begeistert ist Klaus Birnstiel in der FAZ, der Büscher ein völlig klischeefreies Amerikabild attestiert. (Hier eine Leseprobe als pdf.)


Sachbuch

Tony Judt
Dem Land geht es schlecht
Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit
Carl Hanser Verlag 2011, 189 Seiten, 18,90 Euro



Ungleichheit schadet der Gesundheit, der Sicherheit und der Freiheit. Dass der britische Historiker Tony Judt in einem seiner letzten Bücher dies noch einmal sehr deutlich macht, wollen nicht einmal seine ärgsten Kritiker mit einem Schulterzucken abtun. Judt erklärt in diesem Buch, dass die zunehmende Ungerechtigkeit in den westlichen Gesellschaften nicht zwangsläufiges Ergebnis der weltwirtschaftlichen Entwicklung ist. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist Ergebnis einer Politik, die sich von allen sozialdemokratischen Grundfesten verabschiedet hat. In Deutschland hat bisher nur Hans-Martin Lohmann in der FR das Buch besprochen. Er begrüßt es sehr, vor allem der "Generationen der Nach-1980-Geborenen" kann er es empfehlen, die nie etwas anderes als den Neoliberalismus kennen gelernt hat, er hätte sich aber gewünscht, dass Judt auch die linken Parteien Europas stärker in seine Kritik miteinbezieht. Im Observer gestand der frühere Tory-Politiker und jetzige Oxford-Kanzler Chris Patten, dass Judt ihn überzeugt hat. Lob kam von der Financial Times, auch wenn Julian Baggini sich fragt, wie Judts triftige Argumente in eine überzeugende Wirtschaftspolitik umgesetzt werden können. (Hier das Eröffnungskapitel des Buchs auf Englisch in der New York Review of Books. Hier eine Leseprobe auf Deutsch als pdf.)

Josef H. Reichholf
Der Ursprung der Schönheit
Darwins größtes Dilemma
C. H. Beck Verlag 2011, 304 Seiten, 19,95 Euro



Zumindest biologisch betrachtet galt bisher als unerklärlich, dass Hirschkühe den aggressivsten Männchen diejenigen mit prächtigen Geweihen vorziehen. Oder warum bei einem Pfau das herrliche Gefieder ausschlaggebend ist. Eine Hypothese lautet, dass Männchen, die sich so viel Luxusschwäche leisten können, von Weibchen für besonders kräftig gehalten werden. Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf widerspricht in seiner Studie "Der Ursprung der Schönheit" dieser Handicap-Theorie. Für ihn ist Schönheit kein gefährlicher Luxus, sondern Ausweis von Lebensenergie. In einer sehr schönen Besprechung pries der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in der SZ dieses Buch. Er hat nun verstanden, dass mit der Schönheit auch die Freiheit und die Gerechtigkeit in die Welt der Pfauen, Schwäne und Löwen kam. In der FAZ lobte Helmut Mayer trotz einiger Einwände das Buch für seine Einsichten in die subtilen Mechanismen des evolutionären Lebensspiels. (Hier eine Leseprobe als pdf.)

Sam Kean
Die Ordnung der Dinge
Im Reich der Elemente
Hoffmann und Campe Verlag 2011, 448 Seiten, 22 Euro

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Bisher ist Sam Keans "Ordnung der Ding" noch nicht oft besprochen worden, aber die beiden Kritikerinnen, die dieses Chemie-Buch gelesen haben, schwören Stein und Bein: Dem Periodensystem wohnt ein Zauber inne, und Kean erzählt von ihm mitreißend und unterhaltsam. Wunderbare Geschichten über sämtliche 118 Elemente dieser Erde fand Dagmar Röhrlich (Deutschlandfunk) in diesem Buch, verknüpft mit einer kurzweiligen Welt- und Wissenschaftsgeschichte. In der FR lobte Ruth Fühner diesen Grundkurs in Chemie für Faktenreichtum und Anschaulichkeit, der ihr alles über die Rolle von Frauen bei der Kernspaltung verriet, über das Gold des König Midas und die Suche nach DNS in "schweinischerer Magensäure und eiterdurchtränkten Verbänden".