Bücherbrief

Innerhalb der Zäune Edens

03.10.2021. Werner Herzog kämpft sich mit dem japanischen Guerillakämpfer Hiroo Onoda durch die ekstatische Realität des Dschungels, Fernanda Melchor führt uns in die "Intimhölle" einer mexikanischen Gated Community,  Tsitsi Dangarembga schaut scharfsinnig und mit karikierendem Witz auf das Leben einer Frau im Simbabwe der Neunziger und für Stephan Malinowski leisteten die Hohenzollern den Nazis sehr wohl "erheblichen Vorschub". Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Fernanda Melchor
Paradais
Roman
Wagenbach Verlag. 144 Seiten. 18 Euro

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Der neue Roman der mexikanischen Autorin Fernanda Melchor ist sicher keine angenehme Lektüre, warnt uns Maike Albath im Dlf Kultur vor. Aber offenbar eine unbedingt lohnenswerte! Melchor führt uns hier in eine Gated Community namens Paradais, eine "Intimhölle innerhalb der Zäune Edens", wie Florian Borchmeyer in der FAZ schreibt: Hier versucht der pubertierende Polo seiner prügelnden Mutter, seinem ausbeuterischen Chef und der Ödnis des Daseins mit seinem fetten, masturbationssüchtigen Kumpel El Gordo und mit Pornos und Playstation zu entfliehen, resümiert Borchmeyer und staunt, wie die Autorin bei ihren Figuren Opfer- und Tätergrenzen verschwimmen lässt, das Provinzleben "messerscharf" im Sinne Balzacs zeichnet und die "klaustrophobe" Welt zwischen Drogenkartellen, entfremdeter Arbeit und Familienstrukturen skizziert. Der Roman erscheint ihm geradezu "kammerspielhaft" und in der Beschreibung von Sexualität und Gewalt noch "drastischer" als Charles Bukowski oder Pedro Juan Gutierrez. Auch Albath kann sich den zornigen, "peitschenden Sätzen" der Autorin nicht entziehen und folgt ihr durch eine dunkle Welt voller Schmutz, Gewalt und Machismus. Für sie ist das Buch eine "Allegorie der mexikanischen Gegenwart", in der die unaufgearbeitete Vergangenheit nur so brodelt. "Eine literarisch äußerst gelungene Zumutung", nennt Tobias Wenzel den Roman im WDR.

Tsitsi Dangarembga
Überleben
Roman
Orlanda Verlag. 376 Seiten. 24 Euro

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Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Tsitsi Dangarembga, aber kaum eine der deutschen Zeitungen hat bisher Notiz von der simbabwischen Autorin, Filmemacherin und Aktivistin genommen. Dabei gilt es, "nicht nur eine literarische Autorin zu entdecken, sondern auch eine politische Stimme", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg in ihrer Kolumne "Wo wir nicht sind". Sie liest die dreißig Jahre umspannende Trilogie ("Aufbrechen" ist der erste Band, der zweite ist auf Deutsch noch nicht erschienen) als schonungsloses Dokument einer weiblichen Emanzipation und als Geschichte eines Landes, das erst die Demütigung des Kolonialismus erlebte, dann die Unabhängigkeit und bald die zerstörten Hoffnungen unter Robert Mugabe. "Überleben" ist der letzte Teil der Trilogie, die ehrgeizige Heldin Tambu lebt inzwischen arbeits- und ehelos, gedemütigt und ohne Hoffnung in einem heruntergekommenen Hostel in der Innenstadt von Harare. Fesselnd und beunruhigend erscheint Sonja Hartl in dlf kultur der Roman, der ihr die Folgen des Kolonialismus, den Sexismus und die Korruption in der Gesellschaft Simbabwes Ende der 1990er sichtbar macht. "'Überleben' strotzt vor karikierendem Witz wie auch vor scharfsinnigen Beobachtungen zum simbabwischen Alltag und globalen Diskurs. Man spürt das Vergnügen, mit dem Dangarembga Gewissheiten gegen den Strich bürstet", meint Dannenberg. In der London Review of Books hofft Blake Morrison auf einen vierten Teil.

Werner Herzog
Das Dämmern der Welt
Carl Hanser Verlag. 128 Seiten. 19 Euro

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Schon die Geschichte des japanischen Guerillakämpfers Hiroo Onoda ist spannend: Der junge Onoda bekommt vom Ende des Zweiten Weltkrieges nichts mit, schlägt sich noch dreißig Jahre im Glauben, seine Position halten zu müssen, durch den Dschungel und kämpft mit der Natur und den eigenen Dämonen. Noch besser wird der Stoff, wenn Werner Herzog ihn erzählt, versichern die Kritiker: Der Autor und Filmemacher hat sich mit Onoda getroffen und tastet sich in traumartigen, zwischen Fiktion und Realität schwankenden Beschreibungen an Onodas Erlebnisse heran, erzählt in der SZ Nicolas Freund: Und bei Herzog darf der Urwald dann auch mal "flackern", findet er. Im Dlf Kultur spürt Patrick Wellinski geradezu die ekstatische Realität des Lebens im Dschungel, wenn ihm Herzog in der ihm eigentümlichen Beschreibungskunst aus Präzision und Lakonie das Unglaubwürdige eindringlich vermittelt. Da darf Herzog auch mal sentimental werden, findet Jan Küveler in der Welt. Im Standard lobt Christian Schachinger die "begnadete Beobachtungsgabe" des Autors. Und im Zeit-Interview über den Roman ärgert sich Herzog über "exzessive politische Korrektheit".

Sally Rooney
Schöne Welt, wo bist du
Roman
Claassen Verlag. 352 Seiten. 20 Euro

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Wie das so ist: Erst kommt der Hype - und kurz darauf die Nörgler. Sally Rooney wurde Geschwätzigkeit, Sentimentalität und Oberflächlichkeit vorgeworfen, aber vor allem nach der Lektüre ihres dritten Romans nehmen die KritikerInnen Rooney in Schutz: Für das beste Buch der irischen Autorin hält Sigrid Löffler in der Zeit den Roman, der zwar wieder von selbstzentrierten, orientierungslosen, pessimistischen Personen und von den gleichen Themen, darunter Freundschaft, Liebe und Herzschmerz erzählt. Aber Rooneys Figuren sind reifer und ihre Horizonte weiter geworden - und die E-Mail-Konversation der Freundinnen erinnert Löffler gar an alte Briefromane. Rooney kann auch Tiefgang, meint sie. In der taz lobt Marlen Hobrack die generationsübergreifende Story für grandios choreografierte Dialoge und Liebesszenen, der Wechsel aus Innen- und Außensicht und zahlreichen literarischen Bezüge machen für Julia Dettke in der FAS den Reiz des Buches aus. FAZ-Kritikerin Katharina Teutsch amüsiert sich außerdem über bissige Hiebe auf den Literaturzirkus. In der SZ verortet Miryam Schellbach den Text irgendwo zwischen Merkur und Bravo, nur in der Welt meint Zelda Biller: So langweilig und platt wie Rooneys Figuren ist kein echter Millenial. Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, Guardian und Atlantic.

Nadine Schneider
Wohin ich immer gehe
Roman
Jung und Jung Verlag. 236 Seiten. 22 Euro

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Warum es Nadine Schneiders zwischen Nürnberg und dem Rumänien der Ceaucescu-Ära spielender Roman nicht auf die Shortlist des Ingeborg-Bachmann-Preises geschafft hat, kann SZ-Kritiker Christoph Schröder beim besten Willen nicht verstehen: So eindringlich erzählt die deutsche Autorin mit rumänischen Wurzeln in assoziativen und chronologischen Sprüngen vom schwulen Johannes, der Ende der Achtziger aus dem Banat floh, seinen Freund David zurückließ und diesen nun sucht, dass der Kritiker mitunter das Gefühl hat, direkt in Johannes' Bewusstsein zu schauen. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus feiert Schneider gleich in einem Atemzug mit Herta Müller und Iris Wolff. Aus dem Leben der Rumäniendeutschen erzählt ihm die Autorin "psychologisch grandios" und mit so vielen "Leerstellen", dass sich Platthaus ein ganz neuer Erfahrungshorizont eröffnet. "Ein politischer Roman, ein Familienroman, ein moderner Heimatroman" - und ein "bemerkenswert reifer" Roman, lobt Dirk Kruse im br. In der ARD-Mediathek steht ein 45minütiges Gespräch mit der Autorin online.

Georg Klein
Bruder aller Bilder
Roman
Rowohlt Verlag. 272 Seiten. 22 Euro

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Ein bisschen Abgrund, ein bisschen Rätselhaftigkeit, vor allem aber viel Spaß scheint der neue Roman von Georg Klein zu versprechen, an dessen Nacherzählung die KritikerInnen reihenweise scheitern. So viel erfahren wir dann doch: Die Geschichte dreht sich um den Provinzreporter Addi Schmuck, dessen Kollegin Moni die Gabe besitzt, Kontakt ins Jenseits aufzunehmen. Eine verschwundene Frau, ein Pakt mit den Toten und eine mysteriöse Aufgabe spielen auch noch eine Rolle. Was die KritikerInnen aber in Begeisterungsstürme ausbrechen lässt, ist der Mix aus Zeitungssatire à la Kir Royal, Gespenstergeschichte und Heimatroman, der Witz und die liebevolle Figurengestaltung. Geradezu virtuos findet Richard Kämmerlings die "Vintage"-Requisiten in dieser "Motivmaschine" von einem Roman, FR-Kritikerin Judith von Sternburg verliert sich gern in den zahlreichen Gängen, die sie zu Tieren, Pflanzen, Uhren und Rätseln führen. In der Zeit schreibt Jutta Person eine Hommage auf Klein, seine "melodiösen" Sätze und seine Gabe, Realität zur Ähnlichkeit zu entstellen. Im SWR bespricht Ulrich Rüdenauer den Roman.


Sachbuch

Walter Boehlich
"Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen."
Briefe 1994 bis 2000
Schöffling und Co., 544 Seiten, 50 Euro

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Walter Boehlich (1921-2006) war Literaturkritiker und ab 1957 Cheflektor des Suhrkamp Verlages. 1968 veröffentlichte er im Kursbuch ein Pamphlet, das mit den Worten beginnt: "Die Kritik ist tot." Es war die bürgerliche Literaturkritik, die er meinte, ebenso wie die bürgerliche Literatur. Kurz darauf verließ er den Suhrkamp Verlag im Streit um die Mitbestimmung der Lektoren bei der Programmgestaltung, von der Siegfried Unseld nichts wissen wollte. Boehlichs Briefe u.a. mit Adorno, Bachmann, Domin, Curtius oder Johnson ließen die Rezensenten geradezu wehmütig werden. So viel Engagement, so viel sprachliche Kunst, aber auch so viel Rebellion im Verhältnis zu Verleger Unseld lässt den NZZ-Rezensenten Roman Bucheli staunen. "Der zartfühlende Gnadenlose" betitelt der Tagesspiegel die Rezension von Ulrike Baureithel, die Boehlichs "Scharfsinn, philologische Expertise und politische Integrität" zutiefst bewundert. Und vor den Augen des bewundernden FR-Kritikers Claus-Jürgen Göpfert entfaltet sich in den Briefen "eine kleine Literaturgeschichte der deutschen Nachkriegszeit".

Stephan Malinowski
Die Hohenzollern und die Nazis
Geschichte einer Kollaboration
Propyläen Verlag. 784 Seiten. 35 Euro

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Stephan Malinowski gehört zu den Historikern, die die Rolle des Adels für die deutsche Geschichtsschreibung wiederentdeckten. Im übrigen gehört er auch zu jenen Historikern, die wesentlich früher als die breite Öffentlichkeit begriffen haben, wie existenziell die Angriffe des Postkolonialismus auf die Geschichte sind. Zusammen mit seinem Kollegen Robert Gerwarth legte er schon im Jahr 2009 in der Zeitschrift Central European History eine zentrale Kritik an der postkolonialen Tendenz zur Nivellierung der Geschichte im Namen eines Narrativs vor - schon damals hießen seine Diskursgegner A. Dirk Moses oder Jürgen Zimmerer. Narrativ gegen Geschichte: Das ist auch eine Fragestellung im Streit über die Hohenzollern, die zusammen mit nahestehenden Historikern ihre Rolle in der Geschichte mal groß- mal kleinreden, wie es gerade passt. Malinowski war im Streit Gutachter für das Land Brandenburg. Für ihn leisteten die Hohenzollern den Nazis sehr wohl "erheblichen Vorschub", er erzählt in diesem Buch, wie sich das abspielte: Sie hatten eine reaktionäre Moral, aber sie arbeiteten ganz modern mit Spindoktoren, die ihr Bild façonnierten. "Die stetige Agitation gegen die Republik dockte in dem Moment an die NSDAP an, als diese aus dem Gestrüpp rechter Organisationen immer deutlicher als dynamischste Kraft hervortrat", resümiert Malinowski in der Zeit. Der Autor arbeitet den Charakter der Mediendynastie der Hohenzollern heraus und stellt sich mittels zeitgenössischer Berichte der Bagatellisierung ihres Anteils an der Zerstörung der Republik entgegen, erklärt Lothar Müller in der SZ. Viele weitere Besprechungen werden sicher in den Buchmessenbeilagen folgen.

Armin Nassehi
Unbehagen
Theorie der überforderten Gesellschaft
C.H. Beck Verlag. 384 Seiten. 26 Euro

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Wann ist die Corona-Pandemie eigentlich zu Ende?, fragte Armin Nassehi kürzlich auf Zeit online. "Wenn sie für beendet erklärt wird, national, international, global?" Das Ende der Pandemie "muss passieren, durch hohe Immunität, durch weniger Ansteckungen. Es ist eine praktische Frage und eine Frage der Klugheit, ob es gelingt, mehr Menschen zu impfen (...)", beantwortete Nassehi seine eigene Frage. In seinem neuen Buch "Unbehagen", angelehnt an Freuds "Unbehagen in der Kultur", betrachtet der Soziologe das Versagen der Gesellschaft bei kollektiven Herausforderungen und Katastrophen noch allgemeiner mit Blick auf die Pandemie. Überzeugend und verständlich findet es Ina Rottscheidt im Dlf, wie ihr Nassehi die Unfähigkeit der Menschen erklärt, unterschiedliche Interessen, Werte und Erwartungen für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Diesem klugen Buch verdankt sie die wertvolle Erkenntnis, dass wir einfach nicht kollektiv handeln können. Aber es gibt Lösungsstrategien: Es muss darum gehen, Logiken der verschiedenen "Einheiten des Sozialen" zu erkennen: Wirtschaft, Medien, Recht, Familien etc., lernt Vera Linß im Dlf Kultur. Wie diese Logiken dann neu miteinander verzahnt werden können, führt ihr der Autor am Beispiel der Palliativmedizin anschaulich und plausibel vor Augen.

Margaret MacMillan
Krieg
Wie Konflikte die Menschheit prägen
Propyläen Verlag. 384 Seiten. 30 Euro

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Diese Weltgeschichte des Krieges, die die kanadisch-britische Historikerin Margaret MacMillan hier vorliegt, wird wohl so schnell an Aktualität nicht verlieren. Die KritikerInnen loben vor allem den differenzierten Blick der Autorin, die auch die "produktiven" Seiten von Kriegen beleuchtet, wie etwa Wolfgang Schneider im Dlf Kultur betont: In gut lesbaren neun Kapiteln zeigt ihm MacMillan beispielsweise auf, dass sich das Steuer- und Finanzwesen entlang der Bedürfnisse der Kriegsfinanzierung entwickelte oder dass die Emanzipation der Frau durch die beiden Weltkriege vorangetrieben wurde. FAZ-Kritiker Milos Vec meint geradezu den Schlachtenlärm zu hören, so anschaulich schildert ihm die Autorin die Bedeutung von Krieg in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Anekdoten und Autobiografisches runden die Lektüre für ihn ab; dass sich MacMillan trotz weltgeschichtlichem Anspruch auf die atlantische Welt im 19. und 20. Jahrhundert und besonders auf das britische Empire konzentriert, findet Vec allerdings ein wenig schade. Die fatalen Folgen von Kriegen nimmt die Autorin natürlich ebenfalls in den Blick, betont Matthias Bertsch im Dlf. Im Tagesspiegel bespricht Michael Wolf das Buch.