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Sachbücher

Kunst

Hans Beltings neuer Essay "Faces" beginnt mit einer einleuchtenden Überlegung: Das Gesicht ist in Myriaden von Fotos heute derart präsent, dass das Porträt als Gattung längst in die Krise geriet: "Das Gesicht, das Motiv aller Porträts, ist in den Massenmedien der 'facialen Gesellschaft' inflationär geworden und des wegen auch billig zu haben. " Umso erstaunlicher, dass es bisher keine derartige "Geschichte des Gesichts" gab, wie sie Belting hier vorlegt. Die Rezensenten sind interessiert bis begeistert: Roger Willemsen nimmt in der Zeit zum Beispiel als Erkenntnis mit, dass die Maske "eine Wandlung vom Stellvertretergesicht zum Versteck, zur Maskierung, durchmacht". Ingo Arend ist in der taz ebenso interessiert - aber skeptischer, wegen einer in der Moderne durchschlagenden Tendenz Beltings zum Kulturkonservatismus. Und Kia Vahland traut der "Generation Facebook" in der SZ anders als Belting oder Willemsen zu, dass sie aus unserem Gesicht noch etwas ganz Neues macht. Hier eine

Hingewiesen sei außerdem auf Anne Sinclairs "Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?" eine Biografie ihres Großvaters, des Kunsthändlers Paul Rosenberg, auf die hochgelobte Van-Gogh-Biografie von Steven Naifeh und Gregory White Smith sowie auf Wolfgang Müllers Buch über die "Subkultur Westberlin 1979-1989" für den SZ-Rezensenten Jens Bisky das wahrscheinlich beste Berlin-Buch der vergangenen Jahre.


Etappen des Atheismus 1

Dies Jahr ist Jean-Paul-Jahr, Richard-Wagner-Jahr und Georg-Büchner-Jahr, von den Geburtsdaten her gesehen genau in dieser Reihenfolge. Jean Paul ist allerdings fünfzig Jahre älter als die beiden anderen Jubilare - und dennoch ein Wegbereiter des Atheismus: Denn die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei" ist von Jean Paul und gilt als ein Urdokument frühen Unglaubens. Im Deutschlandfunk konnte man sie neulich von Blixa Bargeld vorgetragen hören, aber leider nicht online. Mehrere Bücher sind aus dem Anlass erschienen. Bisher besprochen wurden Beatrix Langners Biografie über den "Meister der zweiten Welt" und Helmut Pfotenhauers eher als Werkmonografie herkommendes Buch "Jean Paul - Das Leben als Schreiben" Sehr beschwingt schreibt Alexander Kosenina in der FAZ über Langners Biografie, die zugleich leichthändig und profund über Jean Pauls Leben und Epoche berichte, während der ebenfalls empfohlene Band von Pfotenhauer die intrikate Verbindung von Leben und Schreiben bei Jean Paul in den Fokus nehme. Pfotenhauer hat übrigens auch im letzten Jahr einen großen Briefband Jean Pauls herausgegeben. Hingewiesen sei auch auf Günter de Bruyns Porträt und auf Michael Zarembas bei Böhlau erschienene Biografie, die von den Feuilletons noch nicht aufgegriffen wurden.


Etappen des Atheismus 2

Seit Jahrzehnten recherchiert Karlheinz Deschner zu den dunklen Seiten der Kirchengeschichte, nun hat er mit dem zehnten Band sein großes Werk abgeschlossen. Deschner nähert sich der Gegenwart, was nicht heißt, dass es nichts Kritisches mehr über Kirchen und christliche Religion zu berichten gäbe. Etwa dass die Katholische Kirche, in deren offiziellen Verlautbarungen es doch so friedvoll zugeht, den Westfälischen Frieden nie anerkannt hat, so ein von der Lektüre grimmig beglückter Arno Widmann in der FR. Auch heute gibt's noch Skandale: So kamen in den siebziger Jahren in Würzburg auf 1149 Studenten der Volkswirtschaft zehn Lehrstühle, auf 238 Theologiestudenten dagegen - sechzehn Lehrstühle. Finanziert vom Staat Bayern, versteht sich. Joachim Güntner hebt in seiner NZZ-Kritik auch die durchaus blutigen Episoden der Kirchengeschichte in der Neuzeit hervor. Und er preist die Unversöhnlichkeit und die unverminderte Schärfe, mit der der Autor, ein enttäuschter Christ, in diesem Opus magnum über "sein" Christentum zu Gericht sitzt.


Literaturwissenschaft

Und wie gesagt: Es ist auch Wagner-Jahr und Büchner-Jahr. Die Feierlichkeiten für Georg Büchner werden erst im Oktober kulminieren. Bisher erschienen ist Hermann Kurzkes große Büchner-Biografie die der FAZ-Rezensent Friedmar Apel gleich als Revolutionierung des Büchner-Bilds pries. Büchner erscheine hier weniger als Materialist denn als Metaphysiker. Kurzke weise nach, dass Büchners Werk viel stärker von christlichen Motiven geprägt sei als es seinem Image entspreche. Mit großem Interesse liest Apel auch von Büchners angespannter Beziehung zu seinem Vater und seinem komplizierten Verhältnis zur eigenen sexuellen Identität. Eine "hingebungsvolle" Biografie, die nicht nur für leidenschaftliche Leser, sondern auch für Fachkreise ein Gewinn sein wird, lobt der Kritiker. Im Standard versichert ein ungemein gefesselter Eduard Habsburg: Büchner wird hier "nicht als politisches Symbol in der Vitrine, sondern als ein genialer, zweifelnder, linkischer, liebender Mensch" dargestellt. Hier eine

Kurz hingewiesen sei auch noch einmal auf Roberto Calassos biografischen Essay "Der Traum Baudelaires" der den Romanisten Karlheinz Stierle in der NZZ in eine rauschhafte Lobeshymne ausbrechen ließ.


Musik

Richard Wagner wurde am 22. Mai geboren und wird also im nächsten Monat gefeiert werden. Der Spiegel brachte zwar schon einen Titel, aber bisher macht das Wagner-Jahr einen recht müden Eindruck. Die Rezensenten der neuen Mono- und Biografien sind sich vor allem in einem einig: Martin Gregor-Dellins Biografie aus dem Jahr 1980, die seinerzeit riesiges Aufsehen erregte, bleibt unübertroffen. Auch sie ist neu erschienen - als Hörbuch auf 15 CDs eingelesen von Ulrich von Noethen und von Wolfgang Schreiber in der SZ eindrücklich empfohlen. Unter den neuen Büchern empfahl Christian Wildhagen in der FAZ vor allem Udo Bermbachs "Mythos Wagner" Mythos Wagner, das klingt zwar abgegriffen, aber Wildhagen bewundert, wieviel Bermbach aus diesem Thema herausholt. Schon dass Bermbach mit Wagners Tod in Venedig ansetzt, der zum Mythos einiges beigetragen hat, nötigt Wildhagen Respekt ab: Aus dem Kult wird dann Vergötterung mit all ihren höchst problematischen Seiten unter dem Regime Cosima Wagners und ihres Gatten Houston Chamberlain, der bekanntlich neben Wagner ein weiterer Klassiker des modernen Antisemitismus ist. Den Mythos sieht Wildhagen heute gebrochen durch den Event-Charakter des Festivals von Bayreuth. Als neue Biografie empfiehlt Wildhagen Barry Millingtons angenehm kurzen "Magier von Bayreuth" den er als ein solides Stück angelsächsischer Geschichtserzählung preist.

Etwas neuere Musikgeschichte bietet "These Walls Are Soaked with Music!" über den Bielefelder Jazzkeller Ulmenwall, der in einem Weltkriegsbunker untergebracht ist. Hier hat alles gespielt, was im Jazz Rang und Namen hat: Chick Corea, Archie Stepp, Ginger Baker, Chet Baker und viele andere. So überreich ist die Geschichte dieses Auftrittsorts, dass der zum fünfzigjährigen Bestehen 2006 geplante Band erst jetzt erscheinen konnte, berichtet der gebührend beeindruckte Zeit-Rezensent Ulrich Stock.


Philosophie

Zu den gewichtigsten Biografien der Saison gehört zweifellos Benoit Peeters' tausendseitiger Brikett über Jacques Derrida. Diese Biografie dürfte einen großen Vorzug haben: Sie wurde nicht von einem Philosophen verfasst. Jürg Altwegg erzählte in der FAZ 2010, bei Erscheinen der französischen Ausgabe, wie der Autor an sein Projekt geriet. Er ist Biografienschreiber, hatte zuvor über den Comicautor Hergé und über Paul Valéry geschrieben. An Derrida kam er über seine Lektorin - wie die Jungfrau zum Kinde sozusagen. In Derridas Philosophie - und er gilt wahrlich nicht als leicht zu lesen - musste er sich mühsam einarbeiten und publizierte dazu ein Tagebuch "Trois ans avec Derrida", das über seine Erkenntnisfortschritte beim Schreiben des Briketts Auskunft gab. Die bisherigen Rezensenten, Joseph Hanimann in der SZ und Eberhard Geisler in der FAZ, sind sehr positiv: Sie loben die Solidität des Buchs, heben hervor, das Peeters die Herkunft und Jugend Derridas ausführlich schildert - Derrida war algerischer Jude und von dieser Herkunft tief geprägt. Für Geisler hat die Biografie das Zeug, eine neue Lektüre Derridas nach dem Hype anzuregen.

Angeregt fühlten sich die Rezensenten außerdem von Jürgen Großes Band "Die Arbeit des Geistes" dessen satzweise Annäherung an eine ephemere Erscheinung der SZ-Rezensent Burkhard Müller so lesenswert wie mutig fand, Thomas Strässles begriffsgeschichtlicher Reflexion über "Gelassenheit" die auf Thomas Kapielski in der FAZ und Urs Willmann in der Zeit "eine Art feinstofflichen Effekt" hatte, und schließlich Sarah Bakewells Annäherung an Montaigne, "Wie soll ich leben"


Geschichte

Manfred Hildermeiers monumentale "Geschichte Russlands - Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution" die Summer eines Forscherlebens, wurde in der Zeit von seinem Kollegen Andreas Kappeler besprochen, überaus freundlich, aber wie es unter Professoren so zugeht, nicht ohne den einen oder anderen Kritikpunkt. Der Schwerpunkt dieser Geschichte liegt auf den letzten drei Jahrhunderten, das findet Kappeler auch gut so. Was Kappeler aber bemängelt, ist Hildermeiers russozentrische und zentralistische Perspektive, denn Russland war immer schon ein Reich und kann auch aus der Spannung mit seinen Rändern verstanden werden. Ein Standardwerk ist dieses 1504 Seiten starke Buch aber auf jeden Fall. Hier eine

Victor Zaslavskys "Der Sprengprofessor" ist eher ein literarisches als ein wissenschaftliches Werk, aber der 2009 gestorbene Ingenieur und Soziologe liefert gewissermaßen die private Fortsetzung zur Hildermeiers offiziellem Geschichtswerk: In seinen autobiografischen Erzählungen berichte Zaslavsky so herrlich "unaufgeregt" von seinen Familienmitgliedern, dass Friedmar Apel in der FAZ das Gefühl hat, die Mentalitätsgeschichte des kommunistischen Russlands von einem guten Freund erzählt zu bekommen. Gespannt gelesen haben viele Rezensenten auch Jonathan Sperbers Biografie "Karl Marx" Bahnbrechend Neues haben sie nicht erfahren, aber den ideologiefreien Blick auf den politischen Denker fanden sie meist recht bemerkenswert.

Der Islamismus dürfte neben rechtsextremen Positionen heute der akuteste Ausdruck antisemitischer Affekte sein. Die Frage, wie die Araber den Holocaust wahrnahmen hat zu einer Menge Streit Anlass gegeben. Paul Berman gehört zu den Autoren, die hierzu recherchiert haben, aber sein Buch " The Flight of the Intellectuals" wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Der Judaist Omar Kamil legt nun eine Studie über den "Holocaust im arabischen Gedächtnis", die von taz und NZZ als unaufgeregt und instruktiv empfohlen wird. Flankierend hierzu kann man Günther Jikelis Band über Antisemitismus bei jungen Muslimen in Europa lesen.


Technik

Chris Anderson feiert in "Makers" das kommende "Internet der Dinge", das sich per 3 D-Drucker anfertigen lässt. Eine Mischung aus "Neoliberalismus und apolitische Technikgläubigkeit", mäkelt die Zeit. Aber dies Blatt ist ja auch eher zuständig für den Blick zurück. Hier eineAls neue Bücher zum Thema Technik wurden schließlich noch empfohlen: ein Band über Biohacking in der Garage von Hanno Charisius, Richard Friebe und Sascha Karberg und Anton Dauls schön illustrierter Band über die Geschichte der Erfindung des Fahrrads




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