Bücher der Saison

Frühjahrsbücher 2013

15.04.2013. In diesem Frühjahr dominieren autobiografisch grundierte Romane, Bücher über die Geburtstagskinder Jean Paul und Wagner, eine fette Derrida-Biografie und ein Band über Sexualität in der arabischen Welt. Reichlich Lektüre für die Sonnentage im Park, die jetzt hoffentlich anstehen.
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Es gibt in diesem Frühjahr erstaunlich viele Romane mit autobiografischem Hintergrund. Doch keine Sorge: es geht nicht um Nabelschau, sondern um wirklich aufregende Geschichten, die sich mit der Welt, wie sie ist, auseinandersetzen: das Scheitern einer Liebe zugunsten des Terrors, Flucht vor Krieg und Terror, Afropolitans, Aufwachsen in einer psychiatrischen Anstalt, Patchworkfamilien oder der Kulturrevolution. Bei den Sachbüchern dominieren Jean Paul und Wagner. Bei den politischen Büchern schlugen Hans-Ulrich Wehlers Band über "Die neue Umverteilung" Wellen und Shereen El Feki große Recherche über Sexualität in der arabischen Welt. Viel Spaß beim Lesen!


Romane

Autobiografische politische Romane

Die siebziger Jahre: Während die einen mit neuen Lebensformen experimentieren, radikalisieren sich andere und gehen in den Untergrund. Wie oft hat man darüber schon gelesen. Doch Ulrike Edschmid erzählt in ihrem autobiografischen Roman "Das Verschwinden des Philip S." die Geschichte noch einmal ganz neu, loben die Rezensenten. Philip S., das war der Schweizer Philip Sauber, der 1975 bei einem Schusswechsel von der Polizei getötet wurde. Edschmid hatte ihn als Filmstudenten in Berlin kennengelernt. Die beiden verliebten sich und lebten zusammen. Im Roman geht es um Edschmids Beziehung zu ihm, als er noch Filmstudent war, um die linken Projekte, die häufig identitätsstiftend waren, aber doch auch noch eine ästhetische Grundlage hatten, und um das rasante Entfremden, als Philip sich "gegen die Liebe und für die Gewalt" entscheidet, wie Ina Hartwig in der SZ schreibt. taz-Rezensent Jürgen Berger ist leicht irritiert von dem kühlen Ton, in dem Edschmid erzählt. Ursula März lobt dagegen in der Zeit die "enorme Dichte" des Textes, die auch Edelgard Abenstein im Deutschlandradio Kultur beeindruckt hat: gerade die knappen Striche der Figurenzeichnungen fangen "mehr von jenem Zeitgefühl einer fatalen Todessüchtigkeit" ein, als es sonst je beschrieben worden sei. Es ist ein "Blick aus der Ferne, der Nähe erzeugt", erklärt Nil Varol bei 3sat, und eine "in Begriffen erstarrten Zeit" wieder lebendig macht. Hier eine

Ismet Prcic (homepage), geboren 1977 in Tuzla/Bosnien auf, konnte mit 19 Jahren nach Kalifornien emigrieren, unmittelbar bevor er zum Wehrdienst eingezogen worden wäre. In Kalifornien hat er Albträume, sein Therarpeut rät ihm, alles aufzuschreiben, und daraus ist dieser Roman entstanden, dessen Titel "Scherben" einen Zustand beschreibt, in dem sich damals nicht nur Bosnien befand, sondern auch er selbst. Für den SZ-Rezensenten Hans-Peter Kunisch ist dieser Roman "eines der glaubwürdigsten Zeugnisse des Jugoslawien-Kriegs". Sigrid Löffler zeichnet im RBB-Kulturradio nach, wie Prcic sich in Tusla mit Rollenspielen eine normale Jugend imaginierte und schließlich im Theater Zuflucht fand. Und im Deutschlandradio Kultur versichert Jörg Plath, dass der Roman "auffällig viele Möglichkeiten postmodernen Erzählens" nutzt, aber trotzdem leserfreundlich - für Plaths Geschmack sogar etwas zu eindeutig - ist. Hingewiesen sei hier auch noch einmal auf Marica Bodrozics hochgelobter Roman "Kirschholz und alte Gefühle" den wir schon im letzten Bücherbrief empfohlen haben. Es ist der zweite Teil einer Romantrilogie die vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege, von Menschen erzählt, die wieder in einen Alltag finden wollen - und sei es im Exil in Paris. Hier eine

Großes Lob auch für Abbas Khiders dritten Roman "Brief in die Auberginenrepublik" der die Etappen eines Briefes beschreibt, den 1999 ein junger, in Libyen im Exil lebender Iraker an seine Geliebte zu Hause schreibt. Der Autor wechselt mit jedem Kurier die Ich-Perspektive und erreicht so ein "dahingeplaudertes, vielstimmiges Tableau der arabischen Gesellschaft" der neunziger Jahre, erklärt FR-Rezensentin Sabine Vogel, die sich bei der Lektüre oft köstlich amüsiert hat. In der FAZ sekundiert Hubert Spiegel. Der Autor (homepage) selbst, der 1996 aus dem Irak geflohen war und seit 2000 in Deutschland lebt, erklärt im Interview mit Cicero: "Eigentlich sind alle meine Romane eine Art Rache. Am Ende bin ich es, der zurückschlägt. Ich triumphiere mit den Mitteln der Literatur." Ebenfalls empfohlen sei noch Kevin C. Powers (homepage) poetisch verdichteter Roman über zwei junge amerikanische Soldaten im Irakkrieg, "Die Sonne war der ganze Himmel" der die Rezensenten in FR und taz nachhaltig beeindruckte. Hier eine


Historische Romane

Alles ist in diesem Roman historisch akkurat: Die Französische Revolution als Hintergrund und das Personal des Romans. Mit einer Ausnahme: Die Hauptperson, der Maler Francois-Elie Corentin hat nie existiert. Und auch nicht das Gemälde, dass er mitten in der Nacht von den elf Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses anfertigen soll - und zwar bitte so, dass man es später je nach Bedarf als Glorifizierung oder als Kritik auslegen kann. In der FAZ war Lena Bopp so hingerissen von Pierre Michons 120 Seiten kurzem Roman "Die Elf" dass sie am liebsten sofort in den Louvre marschiert wäre, wo das Bild angeblich hängen soll. In der Welt feiert Tobias Schwartz Michon als Autor des Lichts, der Aufklärung, der gleichzeitig mit ihren Schattenseiten abrechne: "Man könnte das eine poetische Dialektik der Aufklärung nennen." Im Deutschlandradio Kultur fühlt Katharina Döbler sich in einer boshafen kleinen Volte an den Literaturbetrieb erinnert.

Und noch jemand spielt mit der Geschichte, oder hier vielmehr der Literaturgeschichte: Peter Esterhazy liefert in seinem Roman "Esti" eine Hommage auf den ungarischen Autor Dezsö Kosztolanyi und dessen Romanhelden Kornel Esti. Und mehr: ein gut verrätseltes, auf Kohärenz pfeifendes Spiel aus Verweisen. Mathias Schnitzler in der FR und Lothar Müller in der SZ waren fasziniert. Hier eineHingewiesen sei schließlich noch einmal auf Mo Yans Roman "Frösche" über die Auswirkungen der Kulturrevolution im China der 60er und 70er Jahre. Mo Yan überzeugte hier FAZ- und SZ-Rezensenten, dass er politisch nicht so zahm ist, wie ihm anlässlich der Nobelpreisverleihung vorgeworfen wurde. Nur NZZ-Rezensent Andreas Breitenstein schüttelt den Kopf: "Volkskongress-kompatibel", urteilt er.


Geschichten vom Erwachsenwerden

In ihrer Heimat Rumänien gehört Gabriela Adamesteanu zu den größten. Die Rezensenten wundert das nicht. In ihrem 1975 im Original erschienenen Roman "Der gleiche Weg an jedem Tag" erzählt sie von dem Mädchen Letitia, das im totalitären Rumänien der 50er- und 60er-Jahre versucht, ihr eigenes Leben zu führen - obwohl sie als Tochter eines Faschisten geächtet ist. Es ist ein Roman, der gewissermaßen mit gesenktem Blick geschrieben ist, meint Jörg Plath im Deutschlandradio Kultur: Letitia hebe nie den Kopf, sie sehe sie zwar keinen Horizont, aber alle Details. Konkrete politische Anspielungen vermeidet Adamesteanu, so Plath, was "dem Buch eine beeindruckende klaustrophobische Geschlossenheit" verleiht, lobt er. taz-Rezensentin Carola Ebeling sieht das ebenso. Etwas gemischter fallen die Besprechungen für Lisa Kränzlers zweiten Roman "Nachhinein" aus. Es geht um zwei Mädchen, die aus völlig unterschiedlichen sozialen Milieus stammen und trotzdem miteinander befreundet sind. Als die aus behüteten Verhältnissen kommende Ich-Erzählerin jedoch erfährt, dass ihre Freundin vom Vater sexuell missbraucht wird, lässt sie sie fallen. "Hanebüchen konstruiert" findet in der FR Judith von Sterneburg, und ist erklärtermaßen trotzdem fasziniert. SZ-Rezensentin Ina Hartwig immerhin attestiert der Autorin viel Mut und Können: Sowohl sprachlich (zwischen Keun und Jelinek) als auch thematisch.


Familiengeschichten

Neben Ulrike Edschmids "Das Verschwinden des Philip S." ist Taiye Selasis "Diese Dinge geschehen nicht einfach so" der am häufigsten und besten besprochene Roman dieser Saison. Die als Tochter eines ghanaischen Arztes und einer nigerianischen Ärztin in Nigeria in den USA aufgewachsene Autorin (homepage) erzählt die Geschichte einer über alle Kontinente verstreuten Familie, die sich durch den Tod des Vaters in Afrika nach langer Zeit wiederfindet. Es ist vor allem die Sprache des Romans, die Mischung aus "Emotion und Intelligenz, Härte und Wärme", wie Zeit-Rezensent Ijoma Mangold schreibt, die die Rezensenten beeindruckt hat. Rezensenten in FAZ, FR und taz stimmten in das Loblied ein. Sehr lesenswert auch das Porträt Selasis, das der Telegraph von dieser selbstbewussten Afropolitan zeichnet. Und im Guardian erzählt Selasi in einem ebenfalls sehr lesenswerten Text, wie schwierig es für sie ist, die einfache Frage "Wo kommst du her?" zu beanworten.

Exzellente Kritiken gab es für Joachim Meyerhoffs Roman "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" Es erzählt von einem Jungen, jüngster von drei Söhnen, der, wie auch der Autor, in einer Irrenanstalt aufwächst - nicht als Patient, sondern als Sohn des Anstaltsleiters. Es ist keine sehr glückliche Familie, doch das liegt nicht an den Umständen. Der Junge fühlt sich wohl unter den Patienten, sie sind seine Spielkameraden. Viel schwieriger scheint es zu sein, dem Vater näher zu kommen. Das gelingt dem Jungen nur in Unglücksfällen, schreibt Nikolaus Merck in der nachtkritik. Er lobt den "literarischen Lubitsch-Touch" des Autors, der hier eng an seiner eigenen Lebensgeschichte entlang erzählt. Und das Finale, dass die Krankheit des Vaters bis zu dessen Tod beschreibt, gehört für ihn "zu den anrührendsten Vatererzählungen, die ich kenne". Im Deutschlandradio ist Dirk Knipphals beeindruckt vom Erzählton Meyerhoffs, der Sinn für das Tragikomische der Anstalt habe, ohne die Patienten zum Kasper zu machen. In der Zeit würdigt Christoph Schröder die Erinnerungsfähigkeit des Autors und seines Helden, die hier im Erfinden bestehen. Im Interview mit der Welt bekennt Meyerhoff, noch bei Lesungen seinen Roman umzuschreiben.

Der amerikanische Autor David Vann (homepage) kommt aus einer Familie, in der es fünf Selbstmorde gab und einen Mord. Seine Romane handeln von Gewalt gegen andere und gegen sich selbst und sind darin druchaus autobiografisch, aber, wie Vann im Interview mit der Welt sagt: Um Therapie geht es ihm beim Schreiben nicht: "Das Ästhetische ist stärker als das Therapeutische." Das haben auch die Kritiker seines neuen Romans "Dreck" erkannt, der von einer Sohn-Mutter-Beziehung in der kalifornischen Wüste erzählt, die in ein furioses tödliches Finale mündet, wie FAZ-Rezensent Andreas Platthaus erzählt, der dafür gern auch einige Längen in Kauf genommen hat. Ein "grandios düsteres Buch", lobt Rainer Moritz in der Welt. Sehr gut besprochen wurde auch Deborah Levys "Heim schwimmen" über eine psychisch gestörte junge Frau, die in die vermeintliche Ferienidylle einer britischen Familie an der Cote d'Azur einbricht. Jan Wiele in der FAZ war hingerissen von der Kunst Levys, die kurzen Kapitel wie in sich "abgeschlossene Filmszenen" aufzubauen und lakonisch, schonungslos und zugleich witzig zu erzählen. Hier eine

Hingewiesen sei schließlich noch auf den Patchworkfamilienroman "Bonita Avenue" des niederländischen Autors Peter Buwalda, dessen rauschhafte Übertreibungen die Rezensenten gespalten hat, und auf zwei Bücher, die wir schon im letzten Bücherbrief vorgestellt hatten: Eva Menasses literarisches Experiment "Quasikristalle" und der zweite Band von Hilary Mantels Cromwell-Trilogie, "Falken"


Graphic Novel

Vor dreizehn Jahren erschien Chris Wares graphic novel "Jimmy Corrigan - Der klügste Junge der Welt" im Original. Die Geschichte um einen mittelalten Büroangestellten und seine Familie wurde mit zahlreichen Preisen überhäuft, der New Yorker krönte sie zum "ersten Meisterwerk des Mediums" überhaupt. Die deutschen Rezensenten sind etwas muffig, dass es so lange mit der Übersetzung gedauert hat, aber grandios finden sie das Werk auch. Ware erzählt, was in Filmen häufig nur zwischen den Einstellungen stattfindet, das Schweigen, die Isolation, die Fremdheit, lobt Christian Grasser in der FAZ. Inhaltlich braucht Ware Vergleiche mit Kalibern wie Jonathan Franzen nicht zu scheuen, und visuell ist er eh eine Klasse für sich, verspricht in der SZ Thomas von Steinaecker. Lob auch für Sarah Leavitts graphic novel "Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich" : Nie weiche sie vor dem Horror zurück, bleibe aber auch empfänglich für die Komik mancher Momente im Leben ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter, notieren taz und SZ.

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