9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.03.2024 - Politik

Der 7. Oktober war wie eine Holocaust-Erfahrung, sagt der Dramatiker Joshua Sobol im Gespräch mit Grete Götze in der FAZ, "auch wenn es viel weniger Menschen betroffen hat. Aber es hatte es den Geruch davon". In sehr deutlichen Worten besteht er auf dem Recht Israels auf Selbstverteidgung gegen eine faschistische Truppe, die alle Juden auslöschen will: "Ihre Ideologie kann man nicht zerstören. Aber sie haben einen Krieg begonnen, dann muss man bereit sein, eine Antwort zu bekommen, mit einer großen Zerstörung rechnen. Leider haben das viele Zivilisten mit dem Leben bezahlt. Aber es gibt auch eine kollektive Verantwortung auf Seiten der Palästinenser. Die Massen haben gejubelt, als die vergewaltigten Frauen in den Gazastreifen gebracht wurden. Vor dem Krieg waren die meisten dort Hamas-Anhänger. Jetzt verstehen sie vielleicht, dass sie ein System unterstützt haben, dass ihrem Schicksal gegenüber gleichgültig ist." Sobol hofft, dass der Krieg innerhalb von zwei Monaten endet. Dann hofft er, dass Netanjahu gekippt wird: "Der Ärger der Menschen zwischen 20 und 45 ist so groß, dass sie sagen werden: 'Schluss mit Netanjahu'. Es wird Neuwahlen geben."

"Am 7. Oktober 2023 erreichte Israels Politik ihren Tiefpunkt", schreibt Jakob Hessing, 1944 im Versteck eines KZ-Außenlagers als Sohn ostjüdischer Eltern geborener Germanist, der im Tagesspiegel indes nachzeichnet, wie Netanjahus Machtpolitik ihn zunehmend blind machte: "Er glaubte schon, seine kleine Diktatur errichten zu können, und sah nicht mehr, was vor seinen Augen geschah. Man hätte vielleicht erwarten können, dass der Schock des 7. Oktober auch bei ihm zu einem anderen Verhalten führen würde. Wer Netanjahu kannte, machte sich da keine Illusionen, aber selbst die Skeptiker waren überrascht, mit welcher Kaltblütigkeit er sofort die Situation zu seinen Gunsten wendete. Seit Ausbruch des Krieges zieht Netanjahu alle Register der Manipulation, die für ihn immer bezeichnend waren. Jede Verantwortung für die Katastrophe, die über Israel hereingebrochen ist, lehnt er ab und schiebt sie dem Militär zu…"

Im Iran stehen Wahlen zum Parlament und zum sogenannten Expertenrat an, der gegebenenfalls einen Nachfolger für Ajatollah Chamenei wählen müsste. Das Regime der Mullahs sitzt leider Gottes fest im Sattel, sagt der Konfliktforscher Tareq Sydiq im Gespräch mit Jannis Hagmann von der taz: "Statt durch Wahlen ein Ventil zu schaffen, durch das Unzufriedenheit artikuliert werden kann, setzt das Regime auf Repression. Es hat vom Versuch Abschied genommen, Massenlegitimation herzustellen und ist von vornherein auf gesellschaftliche Widerstände eingestellt. Auch 2022 war man gut vorbereitet." Mit Blick auf den 7. Oktober sieht Sydiq das Regime als Gewinner: "Während die Hamas für das Massaker einen hohen Preis zahlt, kann Iran einen Propagandaerfolg für sich verbuchen, ohne viel zu verlieren. Auch wurde die Annäherung von Israel und Saudi-Arabien ausgebremst, was für das Regime eine gute Nachricht ist. Außenpolitisch profitiert es also. Allerdings ist das Eskalationsrisiko in der Region real und da hat auch der Iran einiges zu verlieren."

Während China einer Wiederwahl Trumps entgegenfiebert, fürchten die anderen asiatischen Länder Trump II, glaubt Alexander Görlach in der Welt, denn: Es gibt eben keine "asiatische Nato": Richtig ist, dass von Vietnam bis Japan alle Staaten in der unmittelbaren Nähe eines immer kriegsbereiter auftretenden China ihre bereits seit Jahrzehnten bestehenden Bündnisse und Allianzen mit Washington in den drei Jahren, die US-Präsident Biden regiert, verstärkt haben. Neben der Inselnation Taiwan sind vor allem die Philippinen in der akuten Schusslinie Pekings. Die Kommunistische Partei Chinas möchte sich den Westausleger des Pazifiks unter den Nagel reißen. Doch dieser Teil des Weltmeeres steht unter der Direktion Manilas. Chinas Präsident Xi Jinping hat eine künstliche Insel aufschütten lassen und militarisiert. Von dort aus provoziert seine Marine, die unter seiner Ägide zur größten der Welt aufgerüstet wurde, die philippinische und bedroht gleichzeitig die Güter, die durch diesen Teil des Pazifiks transportiert werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.02.2024 - Politik

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In einem Essay in der SZ lassen der israelische Soziologe Natan Sznaider und der Schriftsteller Navid Kermani die Stimme der Vernunft sprechen - die in der gegenwärtigen Debatte im Nahostkonflikt oft schmerzlich fehlt. Jahrelang sind die beiden Intellektuellen befreundet und gleichzeitig im Disput über Israel und Palästina (einen Teil ihrer Korrespondenz haben sie in einem gemeinsamen Buch veröffentlicht). Jetzt sind sie sich einig: Was her muss ist ein Friedensplan, und dazu braucht es Hilfe von Außen: "Wir sind uns sicher: Den allermeisten Menschen in Gaza und der Westbank ist bewusst, dass Israel nicht militärisch besiegt werden kann, weder von der Hamas noch von der Hisbollah und schon gar nicht von Iran. Selbst diejenigen, die den 7. Oktober mit welchen Begründungen auch immer rechtfertigten oder gar begrüßten, haben erfahren, welches Unheil damit über sie selbst gekommen ist. Umgekehrt, auf der israelischen Seite, wissen die meisten Menschen längst, dass sich die beiden Kriegsziele widersprechen: Man wird die Geiseln nicht befreien können, während man gleichzeitig die Geiselnehmer vernichten will. Noch entscheiden sich viele Israelis für das eine oder das andere. Aber könnte die Pflicht des Staates Israel, die Geiseln zu befreien, nicht Teil eines größeren Plans werden, den Krieg zu beenden, die Golfstaaten miteinzubinden, Iran als Hauptsponsor der Hamas endlich mit härteren Sanktionen zu belegen, die schon bestehenden Verträge mit Ägypten und Jordanien zu bewahren und auch aus der Eskalationsspirale im Verhältnis zu Libanon herauszufinden?"

Nachdem die israelische Regierung mehreren UNRWA-Mitarbeitern in Gaza eine Beteiligung am Massaker des 7. Oktober vorgeworfen hat, steht das Palästinenser-Hilfswerk vor dem Aus, berichtet ein Autorenteam in der taz: 18 Geberländer haben ihre Zahlungen eingestellt. Ein Ende der Organisation hätte allerdings weitreichende Folgen für die Palästinenser, räumt der Anwalt Daniel Seidemann, der für die Nichtregierungsorganisation Terrestrial Jerusalem den israelischen Siedlungsbau beobachtet und in der Vergangenheit mehrere US-Regierungen seit Präsident Bill Clinton zu Friedensgesprächen beraten hat, ein. Er "schätzt, dass ein Verbot von UNRWA in Jerusalem eine gefährliche Versorgungslücke reißen würde. 'Israelische Gerichte haben mehrfach bestätigt, dass die Stadt bereits innerhalb des arabischen Ostjerusalems nicht genügend Schulen baut.' Insgesamt sind rund 200.000 Palästinenser in der Stadt als Flüchtlinge mit Anspruch auf UNRWA-Leistungen registriert, die Organisation betreibt nach eigenen Angaben zehn Schulen und vier Gesundheitszentren. In Exklaven wie Shu'afat und Kufr Akab hat die Stadt zwar in den vergangenen Jahren mehr investiert, dennoch würden dort ohne UNRWA noch immer kaum öffentliche Dienstleistungen existieren, sagt Seidemann. 'Und niemand, auch nicht Israel, wäre in der Lage, sie in absehbarer Zeit zu ersetzen.'"

David Pfeifer besucht für die SZ eine jüdische Gemeinde in Indonesien, ein Land, das "als eines der judenfeindlichsten der Welt" gilt: 74 Prozent der Indonesier haben dem Pew Research Center in Washington zufolge eine negative Sicht auf Juden, weiß Pfeifer, dabei gibt es hier nur sehr, sehr wenige. Rabbi Yaakov Baruch hat in seiner Gemeinde ein selbstfinanziertes, sehr kleines Museum über den Holocaust geöffnet, die Ursachen des Antisemitismus führt er auf Bildungsmangel zurück, erzählt Pfeifer: "2022 musste der Rabbi heftig kämpfen, um sein Museum behalten zu können. Dann kam auch noch die Pandemie, es waren fast keine Besucher mehr da. Bis heute sind es wenige, oft nur einer am Tag. Aber irgendwie gelang es ihm, den Ulema-Rat davon zu überzeugen, dass es nicht schaden würde, wenn die Menschen in Indonesien etwas über die jüdische Geschichte lernen. Am Ende hätte die Behörde nur noch interessiert, ob der Staat Israel das Museum finanzieren würde, sagt der Rabbi. Aber er habe es selbst finanziert, er habe Spenden von Juden überall auf der Welt zusammengekratzt. Und es steht ja auf seinem Privatgrund. Ob man es sehen wolle, fragt er, 'es ist immerhin das einzige Holocaust-Museum in ganz Südostasien'.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2024 - Politik

Chinas Wirtschaft ist eingebrochen, vor allem der Immobiliensektor schwächelt: 2021 stand fast ein Viertel aller Wohnung leer, schreibt der Volkswirtschaftler Beat Hotz-Hart in der NZZ. Ein neues Wachstumsmodell braucht mehr Binnenkonsum, was in China allerdings schwer durchzusetzen ist, fährt er fort, denn: "Eine höhere Konsumquote setzt einen Rückgang der Sparquote voraus, die in China traditionell sehr hoch ist. Gespart wird zum Beispiel, um sich eine Wohnung kaufen zu können. Man spart, um sich gegen die vielen Risiken des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, aber auch Alter und Gebrechlichkeit abzusichern. Böte der Staat durch höhere Renten und bessere Sozialleistungen ein gewisses Schutzniveau, dürfte die Sparquote sinken. Der Aufbau solcher Systeme braucht aber Zeit, Geld und Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Leistungen. Die Kommunistische Partei Chinas hat mit dem 'gemeinsamen Wohlstandsprogramm' Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Dieses wurde jedoch weitgehend wieder zurückgezogen, obwohl es aufgrund der Alterung der Gesellschaft und der Schwächung des Familienverbunds dringend nötig wäre. Xi Jinping wendet sich gegen Formen der sozialen Wohlfahrt, diese sei eine populistische Politik, verursache hohe Sozialausgaben und schaffe faule Menschen, die keinen Beitrag zur Wirtschaft leisten würden."

Argentiniens Präsident Javier Milei streicht der Kultur die Subventionen, was für viele Institutionen das Aus bedeuten könnte, berichtet Tobias Käufer in der Welt: "Argentiniens Kulturszene, so heißt es ... aus dem Milei-Lager, sei eng mit dem linksperonistischen Lager verbunden. Im Gegenzug für staatliche Subventionen gäbe es aus Reihen der Kultur Kritik an libertären oder konservativen Politikvorstellungen. Milei spricht von einem staatlichen geförderten Propagandaapparat, den sich der Peronismus geschaffen habe. Das sei nicht der Fall, widerspricht Theaterdirektor Javier Margulis im Gespräch mit Welt. 'Im Allgemeinen ist die unabhängige Kultur links, aber es ist nicht wahr, dass sie peronistisch ist.' Er kenne viele Theater, die damit nichts zu tun hätten. In den Theater- und Schauspielverbänden gäbe Schauspieler aller politischen Richtungen, die arbeiten und sich engagieren: 'Sie sind nicht alle Peronisten.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.02.2024 - Politik

"Alle Appelle zum Innehalten richten sich ausschließlich an Israel, das am 7. Oktober vergangenen Jahres Opfer eines mörderischen Angriffs geworden ist", konstatiert Thomas Schmid in der Welt, und dabei "wird Israel immer entschiedener vom Opfer zum Täter umgedeutet". Die israelische Kriegsführung lässt sich gewiss kritisieren, so Schmid. Aber die Kritik an Israel sei bigott, weil sie sich weigere zu "kontextualisieren": "Die Hamas kämpft nicht für einen eigenen Staat neben dem jüdischen, sie will erklärtermaßen und mit Unterstützung des Irans den Staat Israel auslöschen. Israel kann daher nur überleben, wenn es sich konsequent verteidigt. Und spätestens seit dem 7. Oktober 2023 ist klar, dass es zwischen Israel und den Palästinensern keine Besserung geben kann, solange die Hamas ein handlungs- und kampffähiger Akteur ist. Die Vernichtung der Hamas mag kein realistisches Ziel sein, ein legitimes ist es in jedem Fall."
Stichwörter: 7. Oktober, Hamas

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2024 - Politik

Gestern feierte die Zeit die megalomanen Bauprojekte des saudischen Prinzen Mohammed bin Salman (unser Resümee). Heute äußert Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne Zweifel, ob die arabischen Despotien etwa als Garantiemacht für einen Palästinenserstaat taugen, denn "im Zeichen ihrer 'Modernisierungs'-Offensive hat die neue Despotengeneration das Interesse am Schicksal der Palästinenser gänzlich verloren. Weil in ihren Gesellschaften jedoch nach wie vor ein extremer Hass gegen Israel grassiert, sind die arabischen Führer weiterhin zu Lippenbekenntnissen für die palästinensische Sache gezwungen. In Wahrheit gilt sie ihnen aber nur noch als Ballast, der ihren glamourösen Aufstieg zu globalen Playern behindert."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2024 - Politik

Die "Association of Rape Crisis Centers" in Israel hat einen neuen Bericht über sexuelle Gewalt am 7. Oktober herausgebracht, aus dem James Reynolds in der Daily Mail ausführlich zitiert. "In einem Überblick über die Ergebnisse heißt es: Die Hamas-Terroristen setzten sadistische Praktiken ein, um den Grad der Erniedrigung und des Terrors, der mit sexueller Gewalt einhergeht, zu verstärken. Viele der Opfer von Sexualverbrechen wurden gefesselt aufgefunden. Die Genitalien sowohl von Frauen als auch von Männern wurden brutal verstümmelt, und manchmal wurden Waffen in sie eingeführt. Die Terroristen begnügten sich nicht mit Schusswaffen, sie verstümmelten auch Geschlechtsorgane und andere Körperteile mit Messern. In den Zeugenaussagen wurde unter anderem berichtet, dass Hamas-Bewaffnete wiederholt auf eine verletzte Frau einstachen, während sie sie vergewaltigten; dass den Opfern Nägel, Granaten und Messer in ihre Geschlechtsorgane eingeführt wurden; und dass Überlebende, die vor dem Festival flohen, Mädchen sahen, 'deren Schambein einfach gebrochen war, weil sie so oft vergewaltigt wurden'." Hier die New York Times zum Thema.

"Wir haben erwartet, dass Frauenorganisationen nach solchen Berichten ihre Stimme erheben", sagt die israelische Oppositionspolitikerin Shelly Tal Meron im Gespräch mit Erica Zingher in der taz. "Aber alle waren still. Ich habe Briefe an UN Women und andere Frauenrechtsorganisationen geschrieben. Sie haben nicht geantwortet. Wir leben im Jahr 2024. Frauen sollte geglaubt werden." Die Politikerin sagt auch, dass sie sich eine Ablösung Benjamin Netanjahus wünscht: "Der Premierminister will Premierminister bleiben. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass das israelische Volk ihn und seine Regierung ablöst. Deshalb hält er auch an Extremisten in seiner Regierung fest. Er weiß, dass er sie braucht, um an der Macht zu bleiben."

Ebenfalls in der taz schildert Jannis Hagmann die Lage in Gaza. "Ein Problem, das sich Hilfsteams in Gaza stellt: Je schlimmer die Lage, desto schwieriger wird es, Güter zu verteilen. Von 'Crowd-Dynamiken' spricht Sebastian Jünemann von der Berliner Organisation Cadus, der selbst bis Freitag in Gaza war. 'Wenn es Lebensmittel gibt, versuchen die Leute sofort, gewaltsam an die Lieferungen zu kommen.'" Die Hilfsorganisationen fordern eine sofortige Waffenruhe und eine weitere Finanzierung der mit der Hamas zusammenarbeitenden UNRWA.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2024 - Politik

Auch klassische Konservative, die keine Trump-Anhänger sind, werden Trump aller Voraussicht nach wählen, befürchtet Frauke Steffens in der FAZ: "Diese Wähler entscheiden nach dem, was in ihrem Interesse liegt - dass ein Republikaner Präsident wird und die Politik umsetzt, die sie richtig finden: von einer restriktiven Einwanderungspolitik über niedrigere Steuern bis hin zum Abbau von Umweltschutzauflagen. All das hatte Trump in seiner ersten Amtszeit begonnen. Manche dieser Wähler hätten auch andere Kandidatinnen wie die ehemalige UN-Botschafterin Nikki Haley unterstützt, glauben aber, dass Trump die besten Chancen hat, ihre politischen Ziele umzusetzen. Diese decken sich mit vielem, was Republikaner in den letzten Jahrzehnten stets vertreten haben: 'law and order' etwa oder das Recht der Bundesstaaten, eigene Gesetze zu machen - was unter dem Stichwort 'states' rights' stets auch ein Mittel war, rassistische Regelungen in Kraft zu lassen."

Samuel Misteli weist in der NZZ auf den immer größer werdenden Einfluss der Arabischen Emirate auf die politische und wirtschaftliche Situation afrikanischer Länder hin:"Die VAE investieren in Afrika viele Milliarden Dollar." Zunächst einmal sind diese Investitionen in vielen Ländern sehr wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung, so Misteli, "und doch sind die Emirate ein destabilisierender Faktor in Afrika. Ihr geopolitischer Ehrgeiz hat auch einige der brutalsten Konflikte auf dem Kontinent befeuert. Manchmal mit Methoden, die jenen Russlands ähneln. Das beste Beispiel ist eine der größten humanitären Krisen der Welt. Seit bald einem Jahr findet im Sudan, Afrikas drittgrösstem Land, ein Krieg statt, der wenig Beachtung findet. Die Armee des Landes kämpft mit den Rapid Support Forces (RSF), einer reichen und mächtigen Miliz, die ihren Ursprung im Genozid von Darfur Anfang der nuller Jahre hat. Die Kriegsparteien haben die Hauptstadt Khartum zerstört, Tausende Personen getötet. Über zehn Millionen Menschen sind vertrieben - mehr als in jedem anderen Land."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.02.2024 - Politik

Deportationen sind die Lieblingsfantasie totalitärer Ideologien, deshalb sind die "Remigrations"-Gelüste der AfD so unheimlich, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten. Auch die extremen Rechten in Israel, die prozentual wesentlich schwächer sind als die AfD, aber mit in der Regierung, träumen von Vertreibungen ganzer Bevölkerungen. Und natürlich die Hamas: "Dass dieses Faktum im Westen und speziell in Deutschland allerdings immer mehr in den Hintergrund rückt, liegt vor allem an der lautstarken pro-palästinensischen Unterstützung, an den Bildern der Verheerung aus dem Gazastreifen und einem simplen Trick: Linker Antisemitismus und Antizionismus kommen oft verschleiert und verschleiernd daher, verschwiemelt, spitzfindig und Tatsachen verdrehend. So sei es zum Beispiel unklar, was am 7. Oktober geschehen sei; die Hamas sei eine Befreiungsbewegung und wehre sich nur gegen einen Kolonialstaat; 'From the River to the Sea - Palastine will be free...' sei gar nicht so gemeint, wie es gemeint ist. Der Euphemismus ist ein zungenfertiges Instrument, jede Bösartigkeit bekommt ein Blumengebinde: Protest sei nur pro-palästinensisch zu verstehen und, nein, nein, nicht gegen die Juden gerichtet..."

Der Schweizer Sicherheitsexperte Theodor Winkler hält in der NZZ einen kommenden Weltkrieg für nicht unwahrscheinlich. Treibende Kräfte sind für ihn Russland, China, der Iran und Nordkorea, eine neue Allianz von Achsenmächten. Eigentlich benennt er ja nur eine Perspektive, die nicht nur er fürchtet: "2027, in drei Jahren, mag sich das Tor zur riskantesten Periode für den Westen öffnen, ein Weltkrieg tatsächlich in Reichweite sein. Wenn Russland über die Ukraine siegt, China die Inselrepublik Taiwan überfällt, die verschiedenen schweren Konflikte auf der Welt zu einem koordinierten Ganzen verschmelzen, das die militärische Stärke der USA überdehnt, und ein wiedergewählter amerikanischer Präsident Donald Trump Europa fallenlässt."

Noch düsterer sieht es Richard Herzinger nach dem programmierten Tod von Alexej Nawalny: "Der Westen hat alle Gelegenheiten verstreichen lassen, die russische Vernichtungswalze rechtzeitig zu stoppen. Setzt er jetzt nicht alles daran, die Ukraine unverzüglich mit allen Waffen und Waffensystemen auszustatten, die sie für den Sieg über den mörderischen Aggressor benötigt, ist die große, direkte kriegerische Konfrontation mit ihm nicht mehr zu vermeiden - es sei denn, die westlichen Demokratien kollabieren im Vorhinein und unterwerfen sich der Herrschaft des absoluten Bösen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.02.2024 - Politik

In der Welt verabschiedet sich die russische Dramaturgin und Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa von Alexej Nawalny. Bis zu seinem Tod hatte sie nicht verstanden, warum er zurück nach Russland gegangen sei. "An dem Tag, als Nawalny getötet wurde, begriff ich es plötzlich. Der Kern, der ihn hielt, war der Glaube. Der unerschütterliche Glaube an die Werte, die er verteidigte. Menschen mit einem so starken Glauben können zu Fanatikern werden (und in Nawalnys Hass auf Putin steckte viel erschreckender Fanatismus), aber auch zu Märtyrern. Ich dachte an die Märtyrer der ersten Jahrhunderte des Christentums. Ein ganz anderer Kontext, aber der gleiche Kern: Glaube. Der Glaube half ihnen, genau wie Alexej, Unerträgliches auszuhalten, Licht in der Dunkelheit zu sein, nicht zu zerbrechen, wenn das ganze Gewicht des Bösen sie niederdrückte."

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew zeichnet in der SZ den Werdegang von Nawalny nach, der sich mit seinem Tod in eine "mächtige historische Figur verwandelt" habe. "Bestimmt würde Nawalny selbst das derzeitige russische Machtsystem als 'Unglück' bezeichnen, welches ihn im heutigen Abschnitt der Geschichte besiegt hat. Und weiter dann - obwohl, wann wird dieses weiter sein? - wird die russische Geschichte Nawalny ihr Gesicht zuwenden und ihn in ihre Arme schließen. Alles wird gut. Doch, um ehrlich zu sein, Nawalny war noch ein vergleichsweise junger Politiker, er ist mit nur 47 Jahren gestorben. In der Emigration hätte er Putin (71) überlebt und mit Sicherheit seine Rolle im Postputinabschnitt der Geschichte übernommen. Dem Russland der Zukunft wird er schmerzlich fehlen."

Im FR-Interview mit Uli Kreikebaum spricht Stella Assange über ihren Mann Julian Assange, der in Großbritannien kurz vor einer wichtigen Gerichtsverhandlung steht, die über seine Auslieferung an die USA entscheidet. "Körperlich haben sich seine gesundheitlichen Probleme verschlimmert, er altert vorzeitig. Er ist seit fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis, mit den Einschränkungen eines Schwerverbrechers - ohne verurteilt zu sein." Für die Pressefreiheit bedeute dieses Verhalten eine drastische Verschlechterung. "Dieser Fall ist der größte Angriff auf den internationalen Journalismus, den die Welt je gesehen hat. (...) Jedes Land kann sich von diesem Fall inspirieren lassen und ihn nutzen, um ausländische Journalisten außerhalb seiner Grenzen anzuklagen, auszuliefern und zu inhaftieren. Wie wir gesehen haben, ist das Vereinigte Königreich bereit, Julian zu inhaftieren und seine Rechte zu verletzen, um seinen Verbündeten nicht zu verstimmen - diese Dynamik können wir auch von anderen Ländern erwarten."

Wer im Iran zum Christentum konvertiert, riskiert sein Leben, erzählt Daniela Sepehri in der taz, nach Lektüre mehrerer Berichte der britischen NGO Article 18. "Dieser Akt wird vom Regime als politischer Angriff gewertet. Andere Religionen werden als Bedrohung für die Islamische Republik und ihre Werte angesehen. Zwar genießen aramäische und assyrische Christen in der iranischen Verfassung offiziell Schutz, doch erfahren sie dennoch Diskriminierung. Sie dürfen unter anderem nicht in persischer Sprache Gottesdienste abhalten oder mit Muslimen über ihren Glauben sprechen. Die numerisch größte christliche Gemeinschaft in Iran sind Konvertiten aus dem Islam. Diese werden vom Staat nicht anerkannt und vom Regime massiv verfolgt. Konvertiten dürfen sich nicht in Kirchen versammeln, sondern sind gezwungen, sich heimlich in privaten Häusern zu treffen, um Gottesdienste abzuhalten, sogenannte Hauskirchen. Regelmäßig werden diese Hauskirchen vom Geheimdienst und von der Revolutionsgarde ausspioniert und gestürmt. Ihre Mitglieder werden festgenommen und wie Mina Khajavi zu langen Haftstrafen verurteilt. Neben der Haft werden auch weitere Methoden der Bestrafung gewählt, beispielsweise Auspeitschung oder Zwangsarbeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.02.2024 - Politik

Putin konnte Alexej Nawalny umbringen, aber nicht brechen. Nach der Mitteilung der russischen Gefängnisbehörde FSIN, dass Nawalny beim Freigang von einem Blutgerinsel getötet worden sei, bringt das russische Oppositionsmagazin Meduza auf Twitter einen Ausschnitt aus David Rohers Film "Navalny", der sich wie ein Vermächtnis anhört:


"Selbst hinter Gittern war Nawalny eine reale Bedrohung für Putin, denn er war der lebende Beweis, dass Mut möglich ist und Wahrheit existiert", schreibt Anne Applebaum in Atlantic und erinnert an das zweistündige Video, das Nawalny nach seiner Vergiftung durch Putin auf Youtube präsentierte: "Putin's Palace: The Story of the World's Largest Bribe". Nawalny wies dort nach, dass sich Putin am Schwarzen Meer einen obszönen Palast hatte bauen lassen. "Aber die Kraft des Films lag nicht nur in den Bildern oder gar in den Beschreibungen des verschwendeten Geldes. Die Kraft lag im Stil, im Humor und in der Professionalität des Films auf Hollywood-Niveau, die zum großen Teil von Nawalny selbst vermittelt wurde. Das war seine außergewöhnliche Gabe: Er konnte die trockenen Fakten der Kleptokratie - die Zahlen und Statistiken, die normalerweise selbst die besten Finanzjournalisten zum Erliegen bringen - unterhaltsam aufbereiten. Auf dem Bildschirm war er ein ganz normaler Russe, manchmal schockiert über das Ausmaß der Bestechung, manchmal spottete er über den schlechten Geschmack. Für andere gewöhnliche Russen wirkte er real, und er erzählte Geschichten, die für ihr Leben relevant waren. Ihr habt schlechte Straßen und eine schlechte Gesundheitsversorgung, sagte er den Russen, weil sie Eishockeystadien und Wasserpfeifenbars haben."

taz-Korrespondentin Inna Hartwich konstatiert bitter: "Einen Monat vor Russlands 'Wahl' am 17. März, vor Putins fünfter Wiederbestätigung als Präsident, hat ihn die Staatsmacht ins Grab gebracht, weil sie ihn all die Jahre mit einem absurden Prozess nach dem nächsten und mit immer härteren Haftbedingungen von der Gesellschaft isolierte, malträtierte, folterte."

"Was auch immer die russischen Behörden als Ursache für den Tod Alexej Nawalnyjs angeben", kommentiert Reinhard Veser in der FAZ, es bleibt kein Zweifel daran, dass es sich um einen "politischen Mord" handelt: "Die Bedingungen, in denen er in den vergangenen drei Jahren in Haft gehalten wurde, waren darauf angelegt, ihn körperlich und geistig zu brechen. Da Nawalnyj unbeugsam blieb, wurden die Haftbedingungen immer weiter verschärft, bis er ihnen nun erlegen ist. Russlands Machthaber Wladimir Putin und seine Schergen haben Nawalnyj getötet."

In einem weiteren Artikel zeichnen Reinhard Veser und Friedrich Schmidt den Verlauf von Nawalnys Kampf gegen den Kreml nach: "Angriffslust und Führungsanspruch sind unter den Regimegegnern in Russland keine Alleinstellungsmerkmale. Was Nawalny heraushob, waren Ausdauer, die Fähigkeit, junge Leute für sich zu gewinnen, und das Talent, das Internet für seine Zwecke zu nutzen. In späteren Jahren war dies vor allem die Videoplattform Youtube, auf der Nawalnyjs Auftritte zur wichtigsten Gegenöffentlichkeit in Russland wurden. Nawalny beließ es nicht bei allgemeinen Behauptungen über die Korruption der Mächtigen, sondern sorgte mit skrupulös recherchierten Enthüllungen über prominente Vertreter der Elite für Aufsehen." Eine Zeit vor dem russichen Angriff auf die Ukraine habe er einer befreundeten Journalistin aus der Haft geschrieben: "'Alles wird gut. Und sogar wenn es das nicht wird, trösten wir uns damit, dass wir ehrliche Menschen waren.'"

Schon das 2020 auf Nawalny verübte Attentat mit Nowitschok machte klar, dass der Kreml-Herrscher es auf den Tod seines Gegners abgesehen hatte, schreibt auch Konrad Schuller in der FAS. Als Nawalny nach seiner Genesung nach Russland zurückkehrte, wo er sofort verhaftet wurde, müsse ihm klar gewesen sein, was passieren würde: "Aber es war auch offensichtlich, dass er sein Ziel, Putins Diktatur zu beenden, aus dem Exil kaum erreichen konnte. Er hat das Risiko deshalb in Kauf genommen und jetzt mit seinem Leben dafür bezahlt."

Kaum jemand wurde der Putin-Partei, die Nawalny stets als die "Partei der Gauner und Diebe" bezeichnete, so gefährlich wie er, schreiben Silke Bigalke und Frank Nienhuysen auf der Seite 3 der SZ: "Denn er stand für etwas, was der Kreml besonders fürchtete: für eine gut organisierte, gut vernetzte, bis tief in die russischen Regionen hineinreichende Opposition. Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker in Russland. Gezeigt hat sich das sogar dann noch, als er im Januar 2021 festgenommen wurde, Zehntausende gingen in den Wochen danach für ihn auf die Straße. Seitdem hat es nicht mehr auch nur annähernd ähnlich große Proteste in Russland gegeben, weder bei Kriegsbeginn noch während der Mobilmachung."

Auf der Sicherheitskonferenz in München, auf der auch Nawalnys Frau zu gegen war, löste die Nachricht schockierte Reaktionen aus. Maxim Kireev, Holger Stark und Hauke Friederichs schildern auf Zeit Online das Geschehen: "Spontan trat Julija Nawalnaja am Nachmittag auf die Bühne, als die russische Todesmeldung bereits seit mehreren Stunden publik war. Sie wirkt aufgebracht und nervös. Ob sie den Meldungen glauben soll, wisse sie noch nicht. Ihr erster Gedanke sei natürlich gewesen, direkt zu den Kindern zu fliegen, sagt sie zu Beginn ihrer kurzen Rede. 'Aber dann habe ich mich gefragt, was Alexej Nawalny tun würde. Und er wollte jetzt mit Sicherheit hier sein', fährt sie fort."

"Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie", so Cathrin Kalweit in der SZ, "dass Alexej Nawalny, der bekannteste Oppositionspolitiker und Regimekritiker Russlands, mutmaßlich an dem Tag gestorben ist, an dem in München auf der Sicherheitskonferenz so besorgt wie nie über die Wehrhaftigkeit des Westens und das Überleben westlicher Demokratien angesichts der russischen Bedrohung beraten wird. Es ist, als wollte Wladimir Putin zeigen: Ich bin allmächtig. Und als wollte Nawalny, noch im Tod, beweisen: Dieser Mann schreckt vor nichts zurück."

Weitere Analysen und Nachrufe unter anderem auf Zeit Online, in FR, Welt, Tagesspiegel und NZZ.