9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2024 - Europa

Die 50 Milliarden Euro der EU für die Ukraine sind freigegeben - trotz des von Viktor Orban mit viel Brimborium inszenierten Widerstands, freut sich Nikolas Busse in der FAZ: "Dass der Ungar, der gerne weit über seiner Gewichtsklasse kämpft, am Ende beigedreht hat, dürfte an zwei Umständen liegen, die er nicht beeinflussen kann. Zum einen hätten die anderen 26 Mitgliedstaaten durchaus die Möglichkeit gehabt, die Hilfe für die Ukraine außerhalb des regulären EU-Budgets zu organisieren oder auch bilateral. Das wäre komplizierter gewesen, schwächte aber Orbáns Hebel. Außerdem zeigte man ihm kurz vor dem Gipfel ganz offen die Folterinstrumente, als in einem sichtlich gezielt durchgestochenen EU-Dokument darüber nachgedacht wurde, wie die ungarische Wirtschaft unter Druck gesetzt werden könnte."

Hubert Wetzel will in der SZ die Lage der Ukraine nicht beschönigen, aber dass Orban hier klein beigeben musste, ist für ihn auf jeden Fall als Erfolg zu verbuchen: "Der Rest Europas hat dem Möchtegern-Autokraten mit Erfolg gezeigt, wo Schluss ist. Denn am Ende ist es so: Orbán braucht die EU, andernfalls ist er nicht mehr als der korrupte Regierungschef eines wirtschaftlich mittelmäßigen Zehn-Millionen-Einwohner-Ländchens. Wladimir Putin gibt ihm kein Geld, und Donald Trump erzählte neulich, Orbán sei der Anführer der Türkei. Nur wenn Orbán in der EU mitreden und an der EU mitverdienen kann, ist er jemand. Am Donnerstagmorgen stand für ihn beides auf dem Spiel, das Mitspracherecht und das Geld."

Auch taz-Autorin Anastasia Magasowa ist erleichtert: "Trotz interner Spannungen war die EU in der Lage, eine Führungsrolle zu übernehmen. Die Einigkeit und Entschlossenheit der westlichen Länder macht Putin zu schaffen, weshalb er sich immer wieder Partner sucht, die dieses Gleichgewicht stören."

Aus Sicht des Politologen Thorsten Benner sprechen verschiedene Gründe dagegen, das eingefrorene russische Zentralbankvermögen der Ukraine zur Verfügung zu stellen, wie es zum Beispiel die USA fordern. Auch wenn es naheliegend erscheint, legt er auf Zeit Online dar, das Geld für die Verteidigung gegen Russland zu beschlagnahmen, sollte sich die EU dagegen entscheiden, meint Benner. Zum Einen sende es ein Signal der Schwäche: "Wenn Europa schon Anfang 2024 politisch die Puste ausgeht beim Mobilisieren der Finanzmittel, ist das ein fatales Signal." Zum Anderen gebe es rechtlich keine Grundlage für diese Maßnahme: "Der bessere Weg ist, das Vermögen weiter eingefroren zu lassen. Putin kann es schon heute in keinerlei Weise für die Kriegsführung nutzen. Das hat jetzt schon eine abschreckende Wirkung gegenüber möglichen Nachahmern Russlands wie China. Nach Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine kann das Vermögen dann für Reparationszahlungen an die Ukraine eingesetzt werden."

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Iris Radisch besucht für die Zeit die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen, die in ihrem neuen Essay "Putins Krieg gegen die Frauen", die systematischen, sexualisierten Gewalttaten der russischen Armee in den Blick nimmt. Oksanen warnte schon früh vor den Gefahren des Putin-Regimes, in Deutschland wurde sie deshalb noch vor zehn Jahren als 'Kriegstreiberin' bezeichnet, erzählt sie Radisch. Zu jenem Zeitpunkt über Vergewaltigungen als Kriegwaffe zu schreiben, sei unmöglich gewesen. Das hat sie nun mit ihrem Essay nachgeholt: "Für Sofi Oksanen, die in ihren Romanen seit zwanzig Jahren nach einer Sprache für die vergewaltigten und misshandelten Frauen im sowjetischen Kolonialreich sucht, wiederholt sich im Augenblick die Geschichte, als habe jemand auf die Repeat-Taste gedrückt, so sehr ähnelten sich die Muster der Gewalt gegen die Frauen. Frauenrechte gelten in Russland heute als verwerfliche westliche Importware, die Russlands mythologische Größe bedrohen. Viele russische Frauen, davon berichten abgehörte Telefongespräche aus dem ukrainischen Kriegsgebiet, zeigten sich sogar einverstanden damit, dass ihre Männer ukrainische Frauen vergewaltigen. 'In so einer Welt', schreibt Sofi Oksanen, 'ist es völlig normal, dass ein Soldat die Wohnung einer Ukrainerin betritt, ihren Kleiderschrank durchwühlt und seine Freundin anruft, um sie nach ihrer Körbchengröße zu fragen.'"

Der russisch-schweizerische Schrifsteller Michail Schischkin, der vor Kurzem zusammen mit Fritz Pleitgen das Buch "Frieden oder Krieg? Russland und der Westen - eine Annäherung" (bestellen) veröffentlicht hat, spricht im Welt-Interview mit Wojciech Szot über sein Verhältnis zu Russland und darüber, warum man die russische Kultur vor Putin retten muss: "Russen, Russland, russische Kultur - das sind Begriffe, die neu gedacht, neu definiert werden müssen. Man muss bedenken, dass es im Russischen zwei Begriffe gibt: 'Rossijanie' und 'Russkie' (etwa: Russländer und Russen) - Als ob es zwei Nationen gäbe. Sie sprechen dieselbe Sprache, leben im selben Land,  haben aber eine völlig unterschiedliche Mentalität. ...In Russland leben die Menschen in dem Glauben, dass sie eine Insel sind, umgeben von einem Ozean von Kannibalen. Alle sind gegen uns und einzig der Zar kann uns retten. Im Westen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Verantwortung für den Wandel bei den Menschen liegt. Ein Jeder hat Einfluss auf die Entwicklung. Aber dann muss sich jeder auch den Fragen stellen: Was ist gut? Was ist böse? Und wenn mein Land auf dem falschen Weg ist, habe ich das Recht und sogar die Pflicht, dagegen zu protestieren."

In Deutschland wird eine Partei gegründet, die sich an die türkische Diaspora wendet, die nun dank doppelter Staatsbürgerschaften all ihre Loyalitäten voll ausleben kann. "Dava" heißt die Partei - bei der Europawahl, wo es keine Fünfprozenthürde gibt, hat sie durchaus Chancen. Ihr Name ist ein Wortspiel und bezieht sich auf das arabische Wort "Da'wa", was soviel heißt wie "Ruf zum Islam". Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, warnt im Gespräch mit Lotte Laloire von der taz: "Ich würde die Dava-Partei als eine türkische AfD bezeichnen. Und genauso müssen wir sie auch behandeln. Ihre Ideologie ist antidemokratisch, sie hassen Israel und beschwören einen neuen Kulturkampf. Das wird die gesellschaftliche Spaltung mit vorantreiben. Sie versucht, Muslime vom Westen zu entfremden. Diese Partei ist eindeutig ein deutscher Ableger der AKP."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2024 - Europa

Jan Feddersen macht in der taz darauf aufmerksam, dass die Demos gegen die AfD "keine linken Umzüge sind". Hier demonstriere "eine deutsche Mehrheit, die den fantasierten naziähnlichen Krawall nach Gusto der AfD ablehnt". "Die bundesdeutsche Mehrheit befürwortet, in Ruhe gelassen zu werden, dann hält sie auch Menschen aus, die anders sind, als sie selbst sich sieht. Deportationen und anderen nazihaft anmutenden Kram lehnt sie ab: Das wäre alles nicht im Sinne bürgerlichen Einvernehmens, allen gelegentlichen Nervereien zum Trotz. Der bürgerliche Deutsche, der sieht sich weltläufig, auch im eigenen Land. Das Selbstideal ist 'Frieden im Land'."

In der FAZ hat man unterdessen Angst, dass die Sache mit der AfD der Partei eher nützt. Kira Kramer beschreibt auf der Medienseite die von der AfD betriebene "Skandalumkehr": "Die AfD und parteinahe Medienorgane, ihre sogenannten Alternativmedien, verbreiten eine Gegenerzählung zur Berichterstattung der Medien. Dabei handelt es sich nicht um einzeln gestreute Desinformationen, sondern um orchestrierte Propaganda, die nicht auf Wahrheit oder die Abbildung der Wirklichkeit zielt, sondern auf Empörung, Wut und Angst. Die AfD hat verstanden, was andere Parteien in Deutschland erst allmählich begreifen: Im Internet, vor allem auf Social Media, verbreiten sich emotionale Inhalte viel schneller als nüchterne Fakten." Und im Leitartikel fürchtet Andreas Ross, dass sich wiederholt, "was zuletzt dem Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger widerfuhr, dem die Enthüllungsgeschichte über ein antisemitisches Flugblatt in seiner Schultasche satte Wahlgewinne bescherte: Viele Bürger stärken jenen den Rücken, die 'mundtot gemacht' werden sollen."

Der russische Staat holt zu einem weiteren Schlag gegen die russische Exil-Opposition aus, berichtet Markus Ackeret in der NZZ. Konnten diese sich ihrer Vermögenswerte noch sicher sein, sieht ein Gesetz nun anderes vor. "Konkret geht es darum, eine Reihe strafrechtlicher Vergehen, die seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine eingeführt oder ausgeweitet wurden, mit der Enteignung von Besitztümern zu ahnden. 'Diskreditierung der Armee' und 'vorsätzliche Falschnachrichten' über die Tätigkeit der Streitkräfte sind die am häufigsten genannten Straftatbestände. Sie sind zum Symbol für die Repression gegen Andersdenkende seit Februar 2022 geworden." Das neue Gesetz erfasse nun außerdem: "unter anderem Desertion, illegalen Grenzübertritt, Spionage und Hochverrat, aber auch geheime Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und Beihilfe zur Erstellung von Sanktionslisten. Zusätzlich zu oftmals unverhältnismäßig langen Lagerhaftstrafen sollen die Verurteilten künftig auch den Besitz verlieren, mit dem sie die Straftat begingen, oder die Mittel, die sie durch das Vergehen erworben haben."

Dieses akkurat ausgeführte Graffito prangt offenbar schon seit fünf Tagen an der Bahn-Station der TU Dortmund:

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2024 - Europa

Der russische Autor Michail Schischkin spricht in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza, das die Welt übernommen hat, über Russlands Krieg gegen die Ukraine, das Schweigen, das die russische Gesellschaft so gut gelernt hat, und ihre Identifikation mit der Macht: "Die Gesellschaften in den westlichen Demokratien haben sich seit langem von einem Stammesdenken verabschiedet, bei dem das Wohl des Bürgers der Gemeinschaft untergeordnet wird, und einem modernen Denken zugewandt, bei dem das Wohl des Einzelnen zählt. In Russland leben die Menschen in dem Glauben, dass sie eine Insel sind, umgeben von einem Ozean von Kannibalen. Alle sind gegen uns und einzig der Zar kann uns retten. ... Der Sklave ist stolz auf den Reichtum und die Größe seines Herrn. Am meisten fürchtet er den freien Menschen. Denn erst der freie Mensch macht ihm seine Stellung bewusst. Hinzu kommt das sogenannte Stockholm-Syndrom. Eine Person, die ihrem Verfolger völlig ausgeliefert ist, idealisiert ihn, bewundert ihn, verliebt sich in ihn. Und so ist es auch in Russland. Die Abhängigkeit von der Macht ist so stark, dass man von klein auf lernt: Die Macht ist etwas Heiliges, etwas Göttliches. Und gegen die Gottheit tritt man nicht an. Aber in ihrem Namen, zur Verteidigung ihrer 'Werte', kann man in die Schlacht ziehen. Um deine Familie vor den Faschisten zu schützen und ein Held zu werden. Indem du in den Krieg ziehst, hörst du auf, ein Sklave zu sein, du wirst ein Held."

Eine erstaunliche Nähe der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung unter Carles Puigdemont zu Wladimir Putin belegen Berichte eines Rechercheverbunds. Der Bericht, an dem der SWR beteiligt ist, findet sich bei tagesschau.de. Er beruht auf Ermittlungen eines Staatsanwalts, der Chat-Protokolle des ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten ausgewertet hat. Sein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens hatte Spanien 2017 in eine seiner tiefsten Krisen gestürzt - Puigdemont ist danach nach Belgien "geflohen". Unter anderem wollten die Separatisten eine französisch-spanische Erdgasleitung verhindern, die die Abhängigkeit Spaniens von Putin verringert hätte und erhofften sich dafür Milliarden von Putin. "Der Bericht des Ermittlungsrichters könnte den spanischen Regierungschef in Bedrängnis bringen. Denn der Sozialist Pedro Sánchez hat sich seine Wiederwahl im vergangenen November teuer erkauft - für die Unterstützung der Separatisten versprach er eine Amnestie. An diesem Dienstag soll im Parlament darüber abgestimmt werden."

So begrüßenswert die jüngste demokratische Aufwallung gegen die rassistischen Machenschaften der AfD ist - sie hat erhebliche Wahrnehmungslücken, findet Richard Herzinger in seinem Blog. Vor allem wird in der Bewegung so gut wie gar nicht thematisiert, dass die AfD als Einflussagentur Wladimir Putins handelt, der der eigentliche Pate des Rechtsextremismus in Europa ist. "Die Auslassung dieses zentralen Aspekts durch die aktuelle Demokratiebewegung führt dazu, dass ihr Gesicht in wesentlichen Zügen von Kräften wie der Partei Die Linke und der linksradikalen 'Antifa' geprägt werden kann, deren Loyalität zur demokratischen Welt ihrerseits mehr als fraglich ist. Während letztere 'Faschismus' im Kern mit dem westlichen Kapitalismus gleichsetzt und die liberale Demokratie für ein bloßes Instrument 'bürgerlicher Klassenherrschaft' hält, akzeptiert erstere zwar offiziell die Regeln der rechtsstaatlichen Demokratie. Tatsächlich aber lehnt die Linkspartei, nicht anders als die AfD, die Westintegration Deutschlands und insbesondere seine Verankerung im westlichen Verteidigungsbündnis ab und pflegt überdies ein zumindest zwiespältiges Verhältnis zu autoritären Regimes weltweit."

Claudia Schwarz geht in der NZZ dagegen vor allem die Selbstzufriedenheit vieler Anti-AfD-Demonstranten auf die Nerven. Und das nicht nur wegen der Vergleiche mit Weimar. "Dazu passt, dass beim selbstbelohnenden Engagement für die Demokratie längst antiisraelische Parolen wie 'Zionismus = Rassismus' unbehelligt am Sonntagsspaziergang 'für die Demokratie' mitlaufen. Die deutsche Gesellschaft klopft sich zufrieden auf die Schultern, statt über das Eigentliche zu sprechen. Beispielsweise über die Frage, wie es den in Deutschland lebenden Juden geht in diesen Tagen."

Die rechtspopulistische Regierung Polens hatte eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt erlassen. Donald Tusk macht nun sein Wahlversprechen wahr und bringt ein neues Gesetz ein, freut sich Hella Camargo bei hpd.de: "Legale, sichere Abtreibungen sollen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche möglich sein. Zudem sollen Menschen ab 15 Jahren rezeptfreien Zugang zu Notfallkontrazeptiva, auch bekannt als die 'Pille danach', erhalten. Damit macht Tusk eines seiner Wahlversprechen aus dem Wahlkampf im Jahr 2023 wahr. Bereits da hatte er angekündigt, die restriktive Gesetzgebung zum Abtreibungsverbot zu ändern."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2024 - Europa

Deutsche Menschenrechtler haben beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen protürkische Milizenführer in Syrien erstattet. Völkerrechtlich ist es eine Besatzung, was da im syrischen Afrin stattfindet, erklärt im Interview mit der taz der Strafrechtsexperte Patrick Kroker. Die ursprüngliche Bevölkerung - zumeist Kurden und Jesiden - wird vertrieben, dafür "geflüchtete Araber und auch Turkmenen aus anderen Teilen Syriens oder aus der Türkei nach Afrin verfrachtet", so Kroker. "Gezielte Tötungen, Folter, Vergewaltigungen, sexuelle Versklavung, Plünderungen und anderes. Wichtig ist, dass diese Verbrechen systematisch gegen die Zivilbevölkerung verübt wurden und werden, um diese zu vertreiben. ... Der politische Islam ist präsent, aber nicht dominant. Es geht nicht in erster Linie um Ideologie. Oft steht die Bereicherungsabsicht im Vordergrund. Auf perfide Art und Weise werden Einkommensquellen wie Lösegeld erschlossen. Gleichzeitig werden Kurdinnen und Jesidinnen häufig als 'Ungläubige' beschimpft. Es ist also ein Aspekt unter mehreren. Das übergeordnete Ziel ist das der Türkei, die Bevölkerungsstruktur zu verändern."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2024 - Europa

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Sehr enttäuscht zeigt sich Michel Friedman, aktuelles Buch "Judenhass", im FAS-Gespräch davon, dass sich auf deutschen Straßen nach den Angriffen der Hamas so wenig Solidarität mit Israel zeigte: "Der Antisemitismus, der Judenhass ist keine Erfindung der Deutschen. Aber Auschwitz ist eine Erfindung der Deutschen. Und nach Auschwitz hätte es so sein müssen, dass der Antisemitismus in Deutschland in der Form, wie wir ihn heute erleben, gar nicht mehr so virulent sein dürfte - oder falls er doch vorkommt, eine ganz andere Gegenreaktion erfährt. Ich bin sehr skeptisch, ob die oft beschworene Erinnerungskultur in Deutschland wirklich stattgefunden hat und stattfindet." Dennoch sei die größte Gefahr "nicht nur für jüdische Menschen … der Rechtsextreme, der in die politischen Machtsysteme eingedrungen ist. Dort herrscht nicht nur Judenhass, also Menschenhass, sondern auch Demokratiehass. Dass der radikale islamische Judenhass dazugekommen ist und mir große Sorgen macht, ist nicht zu leugnen. Aber nicht alle Muslime, nicht alle Migranten, nicht die Mehrheit aller Geflüchteten ist damit gemeint, sondern nur die, die in ihrer Radikalisierung auf deutschen Straßen mitskandiert haben: 'Tod den Juden!' und zu einer Gefahr für jüdisches Leben geworden sind."

"Es ist das alte Gift in neuen Schläuchen", sagt der Historiker und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Jens-Christian Wagner, der im FR-Gespräch Parallelen zwischen AfD und NSDAP zieht. Für viele sei es heute kein Tabu mehr, als Nazi zu gelten, meint er: "Das hat etwas mit dem systematischen Nebelkerzen-Werfen aus der AfD, aber auch aus dem rechtsoffenen Milieu der Pandemieleugner zu tun, in dem heute alles und jeder als Faschist und Nazi bezeichnet wird, auch dezidierte Antifaschisten. Höcke behauptet, diejenigen, die sich jetzt auf den Massendemonstrationen gegen die AfD äußern, erinnerten an die NS-Fackelmärsche von 1933. ... Die Nebelkerzen haben das Ziel, die Demokratie zu delegitimieren, den Nationalsozialismus zu relativieren und zugleich die eigene Nähe zur NS-Ideologie zu vertuschen. Am Ende ist es dann nicht mehr schlimm, als Nazi oder Faschist bezeichnet zu werden, weil man den Begriff vollkommen von seiner Bedeutung entkoppelt hat."

Die Hürden für ein AfD-Verbot sind niedriger als angenommen, schreibt in der taz der Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano. Bund und Länder müssten konzertiert vorgehen. "Zudem kann nicht genug betont werden, dass das Parteiverbot nicht nur auf die Milieus zielt, die die verfassungsfeindliche Partei wählen, sondern auch auf die, die von dieser Wahl besonders betroffen sind. Die Menschen in vulnerablen Konstellationen vor den Konsequenzen der Machtübernahme der Verfassungsfeinde zu schützen, ist ein maßgebliches Ziel. Dazu gehört eben auch, der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, was die Politik der AfD für die Menschen bedeutet, die von der rassistischen, antisemitischen, sexistischen und ableistischen Politik dieser Partei in ihrer Existenz betroffen sind. Schon die Einleitung der beiden Verfahren würde in der aktuellen Situation die Diskurslage in Deutschland verschieben und auch die Brandmauer gegen Kooperationen mit den Verfassungsfeinden verfestigen, selbst wenn sie absehbar nicht 2024 abgeschlossen werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2024 - Europa

In Deutschland ist die Zahl der antisemitische Vorfälle seit dem 7. Oktober stark angestiegen, meldet die FAZ, nachdem der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein die Zahlen in Berlin vorgestellt hatte: "Über 2000-mal sei in Deutschland innerhalb von mehr als 100 Tagen ein Jude angegriffen, bedroht, beleidigt oder in Angst versetzt, sei öffentlich antisemitische Hetze verbreitet worden." Auch in Italien sieht es nicht besser aus, berichtet Karen Krüger, ebenfalls in der FAZ. "Noch nie wurde in Italien dem Holocaust-Gedenktag mit einer solchen Besorgnis entgegengeblickt wie in diesem Jahr. Nie hielt man das Risiko für antisemitische Vorfälle und antiisraelische Demonstrationen, die den Tag überschatten könnten, für größer. Die harte israelische Reaktion auf den 7. Oktober, die den Gazastreifen, wie der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, unlängst anprangerte, in eine 'von Kratern übersäte Mondlandschaft' verwandelt habe, hat auch in der italienischen Gesellschaft wieder die antijüdischen Stereotype vom rachsüchtigen Juden, der für das Leiden der anderen unempfänglich ist, an die Oberfläche gespült. Das Klima in Italien ist mittlerweile so vergiftet, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinde intern dazu aufforderten, nicht an den Feierlichkeiten zum 27. Januar teilzunehmen: Angesichts der Anfeindungen und anstatt sich weiterhin als Staffage für Gedenkveranstaltungen zur Verfügung zu stellen, solle man die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Erinnerung lieber Nichtjuden überlassen."

In der SZ denkt Julian Nida-Rümelin nicht nur über ein AfD-Verbot nach, sondern fordert die demokratischen Parteien auch auf, beim Thema "Migration" nicht länger wegzuschauen: "Der Zusammenhang zwischen einem Übermaß an illegaler und unregulierter Einwanderung und dem Erstarken des Rechtspopulismus liegt auf der Hand. Die AfD war dabei, als Partei zu sterben, als die Flüchtlingskrise 2015/16 eskalierte, begleitet von der mehr als fahrlässigen Behauptung der damaligen Bundeskanzlerin, man könne im 21. Jahrhundert staatliche Grenzen nicht mehr schützen. Der AfD hat diese Politik zu einem massiven Aufschwung verholfen. Die Tatsache, dass es seit 2015 bis in die Gegenwart dauerte, bis die Europäische Union begonnen hat, eine realistischere Migrationspolitik zu betreiben, ist ein politischer Skandal. Seit 2015/16 wusste man spätestens, welche Herausforderungen sich da für Europa auftürmen. Geschehen ist so gut wie nichts.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2024 - Europa

Heinrich Wefing besucht für die Zeit Adam Bodnar, den neuen Justizminister in Polen, der vor der Herkulesaufgabe steht, das illiberale System, das die PiS in den letzten Jahren aufgebaut hat, zu reformieren: also "die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, die Staatsanwaltschaften zu entpolitisieren, korrupte Richter zur Verantwortung zu ziehen". Bodnar versucht es mit Geduld und kleinen Schritten, doch selbst dabei "trifft er auf brutalen Widerstand. Zwei Gegenspieler hat er im Moment vor allem: Staatspräsident Andrzej Duda, der weitreichende Befugnisse hat, viel mehr als etwa der deutsche Bundespräsident. Und das Verfassungstribunal, das höchste Gericht in Polen. Alle 15 Richterinnen und Richter wurden von der PiS gewählt. 'Niemand am polnischen Verfassungsgericht', sagt Bodnar, 'versucht überhaupt noch, so zu tun, als wären die Urteile unpolitisch. Das Gericht wird benutzt, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen.'" Dem liberalen Richterverband geht das alles zu langsam. Sein Präsident Krystian Markiewicz "fordert im Gespräch mit der Zeit einen Parlamentsbeschluss, um mehrere Richter am Verfassungsgericht auf einen Schlag auszutauschen. Genau so hatte seinerzeit die PiS ihre ersten Richter im Verfassungstribunal installiert. Ob das damals rechtlich zulässig war, ist bis heute umstritten. Aber die Menschen hätten die neue Regierung gewählt, damit sich etwas ändert, nicht fürs Zögern und Taktieren. Muss man also doch mit denselben Mitteln operieren wie die Feinde des Rechtsstaats, um den Rechtsstaat wiederherzustellen?"

Auch in der Kulturpolitik kann die neue polnische Regierung in den Kulturinstitutionen kaum die PiS-Anhänger ablösen, ohne gegen die von der PiS verabschiedeten Gesetze zu verstoßen, konstatiert der polnische Journalist Konstanty Gebert in der SZ. "Wenn man sich das Ausmaß der Zerstörung in den vergangenen acht Jahren vor Augen führt, waren die Eingriffe der neuen Behörden bislang erstaunlich zahm. Die großen Reformen konzentrieren sich auf die öffentlichen Medien. Kultureinrichtungen, die zum Imperium von Pater Tadeusz Rydzyk, dem Gründer des fundamentalistischen katholischen Radio Maryja, gehören, haben einen Teil ihrer staatlichen Unterstützung verloren. Ein Spielfilm des verstorbenen großen Regisseurs Andrzej Wajda über den Solidarność-Führer Lech Wałęsa wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, woraufhin aus den Reihen der PiS empörte Proteste wegen der 'Politisierung' des Mediums laut wurden. Einige Kultureinrichtungen wurden fusioniert, was personelle Veränderungen ermöglicht. 'Das sind Höhlenmenschen. Die Deutschen werden sich freuen', kommentierte der ehemalige Kulturminister Piotr Gliński."

Im NZZ-Gespräch mit Lucien Scherrer sieht der französisch-marokkanische Historiker Georges Bensoussan eine große Gefahr für die französische Demokratie, die von der Linken ausgehe. Diese sehe nicht, dass der islamistische Antisemitismus viel tödlicher als der Rechten sei und unterstützte vorbehaltlos propalästinensische Kundgebungen. "Diese Demonstrationen sind letztlich ein oberflächliches Phänomen. Die tiefere Realität ist schwieriger zu erkennen, denn die große Mehrheit in diesem Land demonstriert nicht. Sie geht nicht auf die Straße. Ich bin davon überzeugt, dass diese Mehrheit zutiefst antiislamistisch eingestellt ist, aber nicht gehört wird. Sie spürt, dass Frankreich der gleichen Gefahr ausgesetzt ist wie Israel: dem Islamismus, der im 'Bataclan' getötet hat, der einen Priester enthauptet hat, der 86 Menschen in Nizza und die Redaktion von 'Charlie Hebdo' getötet hat. Die Medien spiegeln dieses Frankreich oft nicht wider, sie sind von einer kulturellen, intellektuell verarmten Linken geprägt. Diese Linke erkennt in den Muslimen, angefangen mit denen in Gaza, die neuen Verdammten dieser Erde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2024 - Europa

Wir müssen dringend Antworten finden auf die Frage, was eine deutsche Identität ist, was sie in Zukunft sein kann, meint Aleida Assmann im Spiegel-Gespräch. Die historische Verantwortung für den Holocaust gehört für Assmann zum "kollektiven nationalen Selbstverständnis", müsse aber um die Erinnerung an die Nakba ergänzt werden, meint sie: "Ich glaube, man macht vielen Zugewanderten überhaupt erst deutlich, warum die Erinnerung an den Holocaust so wichtig ist, wenn man ihre eigenen Erfahrungen anerkennt und den Holocaust dazu in Beziehung setzt. Die Frage ist doch, wie wir Lehren aus der Vergangenheit ziehen und die deutsche Verantwortung in die Zukunft weitertragen wollen, in einem Land, das eben nicht mehr ethnisch deutsch ist. Das geht nur dann, wenn man über 1945 hinausdenkt und die Ereignisse von 1948 in die kollektive Erinnerung einbezieht. Man kann die Vertreibung der Palästinenser auch als indirekte Folge des Holocausts sehen - die Deutschen haben auch dafür eine Mitverantwortung."

Noch schwieriger als der Aufbau einer Demokratie ist deren Wiederherstellung, denkt sich Timothy Garton Ash, der im Guardian skizziert, wie Donald Tusk in Polen "mit dem eisernen Besen" durch die Hochburgen der PiS-Partei kehrt: "Es handelt sich nicht wie 1989 um eine von außen aufgezwungene Einparteiendiktatur, bei der sich fast alle Polen - darunter viele der ehemaligen kommunistischen Machthaber - einig sind, dass sie durch eine friedliche Revolution umgewandelt werden muss. Vielmehr handelt es sich um ein völlig hausgemachtes Durcheinander, das zum größten Teil in Gesetzen verborgen liegt, die von einer demokratisch gewählten parlamentarischen Mehrheit verabschiedet wurden. Zweitens handelt es sich um Hyperpolarisierung, Fake News und Hysterie, die stark an die heutigen Vereinigten Staaten erinnern. Wie die Maga-Republikaner und die linken Demokraten leben auch die Anhänger von Kaczyński und Tusk in unterschiedlichen Realitäten, wobei jeder den anderen wegen Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit und Verrat an der Nation anprangert. Eine stabile liberale Demokratie hängt von einem grundlegenden gesellschaftlichen Konsens über die Legitimität wichtiger Institutionen wie Parlament, Präsidentschaft, unabhängiger Gerichte und freier Medien ab. Wie stellt man eine gut funktionierende liberale Demokratie wieder her, wenn dieser minimale gesellschaftliche Konsens nicht existiert?"

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat die verfassungsfeindliche NPD (inzwischen: "Die Heimat") für zunächst sechs Jahre von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen, das Urteil ist auch für ein mögliches AfD-Verbot relevant, erklärt Christian Rath in der taz, denn: "Erstens ist das Instrument des Ausschlusses einer verfassungsfeindlichen Partei von der staatlichen Finanzierung jetzt voll einsetzbar. Letzte Zweifel an der Zulässigkeit hat das Bundesverfassungsgericht beseitigt. Zweitens hat das Gericht klargestellt, dass die Voraussetzungen für ein Parteiverbot und einen Finanzierungsausschluss fast identisch sind. Einziger Unterschied: Beim Parteiverbot ist eine gewisse Stärke/Potenzialität erforderlich. Drittens kommt es für die Verfassungsfeindlichkeit nicht nur auf die Partei- und Wahlprogramme einer Partei an, sondern auf die 'wirklichen Ziele' der Partei. Hier muss die Partei sich auch Äußerungen der Parteiführung zurechnen lassen. Auch das Verhalten führender Funktionäre von Teilorganisationen wie Landesverbänden sind der Partei zuzurechnen."

Gerade die Demos in kleineren ostdeutschen Ortschaften sind bemerkenswert, erkennt der Chemnitzer Protestforscher Piotr Kocyba im Spiegel-Interview an, denn: "In mancher dieser kleineren Ortschaften bedarf es sehr viel Mut, öffentlich gegen die AfD Gesicht zu zeigen. Da haben die Rechten die Vorherrschaft. In diesen Orten kennt man sich persönlich. Da ist schnell klar, wer bei der Demo gegen die extreme Rechte war und wer öffentlich Kritik an der AfD geäußert hat." Und: "Da geht es nicht nur um Beleidigungen, sondern tatsächlich auch ans Eingemachte. Es sind nicht immer physische Übergriffe, es sind manchmal Angriffe auf das Wohneigentum. Es kann Stress bei der Arbeit geben. Ich kenne Aktivisten und Aktivistinnen aus der prodemokratischen Zivilgesellschaft, die nicht mehr ins Restaurant gehen, weil sie angespuckt werden von anderen Gästen."

Als "historisch" sieht Nils Minkmar in der SZ die Rede an, die Emmanuel Macron anlässlich des Trauerstaatsakts für Wolfgang Schäuble gehalten hat. Macron plädierte für eine intensivere Kooperation mit Deutschland (an der, bedauert Minkmar, die Bundesregierung in den letzten Jahren kein großes Interesse gezeigt habe). Auch weil Macron die Rede in weiten Teilen auf Deutsch gehalten habe, sei der französische Präsident das Risiko eingegangen, vor seinen französischen Wählern als "Agent deutscher Interessen" dazustehen. Gesprächsbedarf gebe es reichlich: "In den vergangenen Wochen mehrten sich die Frust-Signale aus Paris bezüglich der zögerlichen deutschen Haltung bei der Taurus-Lieferung für die Ukraine. Und man könnte es verstehen, wenn auch das allzu hanseatisch-lauwarme Engagement für die deutsch-französische Sache allmählich zu einer Gereiztheit bei Macron führen würde. Zwar soll es auf der Arbeitsebene zwischen den Ministerinnen und Ministern wieder besser funktionieren, aber niemand wird die Jahre der Ampel als Blütezeit der exekutiven Verbrüderung zwischen Paris und Berlin beschreiben. Von deutscher Seite verzeichnet die Chronik das Fischbrötchen von Hamburg und die von der grünen Außenministerin angestoßene Schließung gleich dreier Goethe-Institute in Frankreich."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2024 - Europa

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Zwei Jahre berichtete der ukrainische Journalist Stanislaw Assejew aus den besetzten Gebieten in der Ostukraine, bis er verschleppt, inhaftiert und im Gefängnis Isoljazija gefoltert wurde. Von seinen Erfahrungen erzählt er in seinem aktuellen Buch "Heller Weg, Donezk" und im NZZ-Gespräch: "'Wenn die Zellentür aufging, musste man sich sofort eine Tüte über den Kopf ziehen, mit dem Rücken zur Tür stehen und die Hände auf den Rücken halten', berichtet Stanislaw Assejew. Wer nicht innerhalb von Sekunden strammstand, wurde unter die Pritsche geprügelt und musste dort bellen wie ein Hund. Die Aufseher lachten dann, genauso wie bei der Folter mit Elektroschocks. 'Die Prozeduren', wie die Folterer ihre Methoden nennen, gehören zum Alltag im Isoljazija-Gefängnis. 'Wenn sie foltern und dabei lachen, baut das noch größeren Druck auf. Denn das heißt, dass diese Leute durch nichts aufzuhalten sind', stellt Assejew nüchtern klar und macht eine Handbewegung, als wolle er diese ganzen Schandtaten einfach wegwischen, endgültig aus der Welt räumen."

Die Proteste vom Wochenende galten nicht allein der AfD, insistiert Luisa Neubauer im Gespräch mit Daniel Bax von der taz: "Die Proteste richten sich an ganz vielen Orten nicht nur gegen die AfD, sondern gegen den Rechtsruck insgesamt. Viele sind überzeugt, dass man den Rechtsruck nicht mit einem Rechtsruck bekämpfen kann. Ich auch. Diese politische Herangehensweise schien eine Weile lang ja vorherrschend zu sein. Da sind alle politischen Parteien gefragt, sich kritisch zu hinterfragen." Gareeth Joswig berichtet in einem zweiten Titel über die Frage, was man an der AfD alles verbieten kann, die Partei selbst, die Jugendorganisation, die Parteieinfinanzierung.

Es gibt allen Grund, die AfD lautstark zu skandalisieren, und doch scheinen Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog) die aktuellen Proteste "schal, bequem und wohlfeil". Die Rhetorik wende sich nicht nach außen, sondern nur nach innen, schreibt er: "Wie gedankenfaul der Konsens gegen 'rechts' in Wahrheit ist, wird daran deutlich, dass in diesen Kreisen beharrlich 'rechts' mit Faschismus in eins gesetzt wird. Am Ende der szenischen Lesung im Berliner Ensemble skandierte das Publikum minutenlang: 'Alle zusammen gegen den Faschismus!' Offensichtlich war der von sich selbst begeisterten Menge gar nicht klar, dass der Faschismus eine italienische Angelegenheit war, in Deutschland dagegen die Nationalsozialisten herrschten. Und dass die - später von der west- und gesamtdeutschen Antifa-Linken übernommene - Fokussierung auf den Faschismus ein Trick der DDR-Nomenklatura gewesen ist, um vom Spezifikum des Nationalsozialismus abzulenken: vom eliminatorischen Antisemitismus, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. In Anlehnung an einen berühmten Satz Max Horkheimers könnte man sagen: Wer aber nicht vom Antisemitismus reden will, sollte vom Rechtsradikalismus schweigen. Die große Anti-AfD-Front, die gegenwärtig Straßen und Plätze füllt, zeichnet daher ein Manko, eine Unterlassung aus. Wo waren diese Massen, nachdem am 7. Oktober 2023 das größte Massaker an Juden nach dem Holocaust stattgefunden hat?"

In der SZ begrüßt Gustav Seibt vor allem die Entspanntheit der Proteste: "Die Massenaufläufe hatten wenig gemein mit den Pegida- und Corona-Demonstrationen, in denen es 'denen da oben' mit Feinderklärungen 'gezeigt' werden sollte, in denen ein angeblich zum Schweigen gebrachtes 'wahres Volk' gegen 'Eliten' aufmarschierte. (…) Von fern erinnerten die Demonstrationen der letzten Tage an die Lichterketten, mit denen im Winter 1992 die deutsche, damals vor allem westdeutsche Gesellschaft auf die vorangegangene Welle von Gewalt gegen Ausländer und Flüchtlinge reagierte."

Auf der Liste der Herkunftsländer für Asylanträge in Deutschland steht die Türkei mit 63.000 auf Platz 2, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. In den letzten drei Jahren haben über eine Million Türken, meist Junge, das Land verlassen. Zu den Gründen gehören Korruption und Wohnungsnot, während Erdogan Bauunternehmer schmiert und immer nur verspricht, Maßnahmen gegen drohende Erdbeben zu ergreifen: "Vor den letzten Kommunalwahlen hatte Erdoğan etliche Hunderttausend illegal errichtete und marode Bauten gegen Geld legalisieren lassen. Und wer leitet die Organisation, die jetzt in Istanbul Vorkehrungen gegen ein Beben treffen soll? Die Person, die seinerzeit eine Siedlung genehmigt hatte, unter deren Trümmern im Februar 2023 beim Erdbeben im Südosten des Landes 1.400 Menschen ihr Leben lassen mussten. Das Beben im letzten Jahr kostete über 50.000 Menschenleben. Gegen keinen einzigen Verantwortlichen in der öffentlichen Verwaltung wurde Anklage erhoben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.01.2024 - Europa

Deutschland hat eines seiner größten Demo-Wochenenden der Geschichte hinter sich. Hunderttausende protestierten überall gegen die AfD. Etwas rätselhaft findet Anna Klöpper das in der taz schon auch: "Es ist nicht so ganz klar, wohin diese Protestwelle gegen rechts noch trägt, aber was man wohl festhalten kann nach diesem erneuten Wochenende: Da hat sich etwas ein Ventil gesucht. Was dieses 'Etwas' ist, darüber kann man nun streiten: Ist es ein Protest von Hunderttausenden gegen menschenverachtenden Rechtsextremismus, gegen die Deportationsfantasien von AfD-Politiker*innen und anderen Nazis? Ja, sicher. Nur: Deren 'Remigrations'-Theorien sind zwar schockierend, aber nicht schockierend neu."

Der Politologe Dieter Rucht, Spezialist für Protestbewegungen, glaubt im Gespräch mit taz-Redakteur Konrad Litschko, dass die Bewegung zumindest präsent bleiben wird: "Wir werden vermutlich keine sich immer weiter steigernde Protestwelle erleben. Demnächst wollen die Protestierenden noch einmal eine Menschenkette um den Bundestag ziehen, das dürfte noch mal größer werden. Danach aber dürfte es Abflauen oder Innehalten geben. Aber es besteht eine gute Chance, dass sich der Protest immer wieder neue Angelpunkte suchen wird, dass er sich an kleineren Anlässen wieder entzündet, wenn sich etwa die AfD oder andere rechtsextreme Gruppen bei den Wahlkämpfen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg versammeln." Hier und hier die Die taz-Reportagen von den Demos.

Der Jurist Maximilian Steinbeis hat im Verfassungsblog dargelegt, wie eine Partei wie die AfD staatliche Institutionen kapern kann, wenn sie erst in entsprechende Positionen kommt. Im Gespräch mit Ronen Steinke in der SZ erklärt er, wie das geht. Man nehme etwa die Macht eines Parlamentspräsidenten. "Eine AfD-Person in diesem Amt könnte sagen: 'Hm, interessant! Ich kann die komplette Parlamentsverwaltung kontrollieren. Die Grünen müssen sich jetzt fragen, wer eigentlich ihre Dienst-E-Mails mitliest. Die Linken müssen sich jetzt fragen, ob sie den Auskünften des wissenschaftlichen Dienstes noch trauen können.' Die parteiische Nutzung solcher Institutionen ist Teil der autoritär-populistischen Strategie, und wenn man sich dessen bewusst wird, dann wird auch klar, weshalb es schon der Anfang vom Ende sein könnte, wenn autoritäre Populisten solche bislang neutralen Institutionen erobern."