9punkt - Die Debattenrundschau

Unechte Korrepondenzen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2017. Franzosen, löscht nicht die Aufklärung aus, ruft Peter Sloterdijk in Le Monde. Jürgen Habermas blickt in der Zeit gelassen auf die französischen Wahlen. Europa wird sich auch dann verändern, wenn ein gemäßigter Kandidat gewinnt, meint die Welt. Unterdessen steckt Boris Groys in der NZZ mit Hilfe Jean-François Lyotards seinen Geist in die Maschine.  Und Orlando Figes erklärt in der Berliner Zeitung, warum er Deutscher wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.04.2017 finden Sie hier

Ideen

d"Français, n'éteignez pas les Lumières!", ruft Peter Sloterdijk im Gespräch mit Nicolas Truong von Le Monde. Auf die Frage, wie er sich die gleichzeitige Blüte des Rechts- und Linkspopulismus erklärt, antwortet er: "Ich würde nicht von Durchbruch, sondern eher von einer notwendigen Klärung sprechen. Der Populismus ist seit 1793 eine Konstante in der französischen Politik. Schon Robespierre glaubte mit Gewissheit, dass er selbst das Volk sei. Auch Napoleon III. war überzeugt, dass er das Volk verkörperte und darum ein Recht auf die größtmögliche Mehrheit hatte. Die aktuellen Populisten knüpfen an dieses Schema an. Der elementare Algorithmus jedes Populismus ist seit je: Der Teil ist das Ganze, die wenigen sind die Gesamtheit."

Im Interview mit der SZ prangert der französische Schriftsteller Edouard Louis die sozialdemokratische Linke à la Macron an, die keinen Begriff mehr habe vom Klassenkampf, von Armut und deren demoralisierenden Folgen. Aber er kritisiert auch die Idealisierung der Armen von Links: "Die Leute wünschen sich so eine romantisch-gemütliche Sache, dörfliche Szenerien mit knorzigen Typen. An dieser Mystifizierung der Armut haben viele Künstler mitgewirkt, schauen Sie sich Bücher von Jean Genet, Filme von Pier Paolo Pasolini und Ken Loach an. Da gibt es immer die authentischen Armen gegen die verlogenen Bürger. Solche Werke stabilisieren die Verhältnisse, weil der Zuschauer denkt, es geht ihnen doch gut, so ehrlich, wie sie leben, haben sie doch ihre Würde, wozu etwas ändern? Dabei war es eine Hölle der Gewalt, und dagegen schreibe ich an."

"Die menschliche Geschichte ist die Geschichte begehrter Begierden", schrieb einst Alexandre Kojève. Heute äußert sich dieses Begehren als Selbstoptimierung durch Selbstdesign, erklärt Boris Groys in der NZZ und ermuntert zur Lektüre von Jean-François Lyotards Essay  "Ob man ohne Körper denken kann" von 1987: "Die wahre Herausforderung besteht .. in der Schaffung einer neuen Hardware, die den menschlichen Körper ersetzen könnte - darin, ein neues Medium zu finden, in das die menschliche Software, das heißt das Denken, eingeschrieben werden könnte. Laut Lyotard ist die Möglichkeit einer solchen Einschreibung deswegen gegeben, weil 'die Technik keine Erfindung der Menschheit ist'. Die Entwicklung der Technologie ist ein kosmischer Prozess, in den die Menschen bloß periodisch involviert sind. Durch die Verschiebung des Fokus von der Software (Haltungen, Meinungen, Ideologien) zur Hardware (Organismus, Maschine, deren Kombinationen, kosmische Prozesse und Ereignisse) hat Lyotard den Weg zum Denken des Post- oder Transhumanen eröffnet."
Archiv: Ideen

Europa

Orlando Figes hat die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Im Gespräch mit Michael Hesse von der Berliner Zeitung erklärt er, dass er sich als Europäer betrachtet, obwohl er weiterhin in London leben will. Als Nachfahre aus Deutschland vertriebener Juden, hat er hier Anspruch auf die Staatsbürgerschaft: "Mein Großvater väterlicherseits wollte im Krieg gegen die Deutschen kämpfen und ging aufseiten der Alliierten in den Krieg. Er landete 1944 in der Normandie. Er agierte als Übersetzer für die Einheiten, die deutsche Offiziere gefangen nahmen. Er wurde in Großbritannien eingebürgert. Nun benötigen wir seine Papiere, um die Einbürgerung voranzubringen, die deutsche Botschaft war bislang sehr hilfreich. Meine Schwester und ich stellen die Anträge für die Einbürgerung."

Nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich muss sich der siegreiche Kandidat (die weibliche Form ersparen wir uns hier) eine Parlamentsmehrheit suchen, und das wird nicht leicht, denn die beiden bis vor kurzem dominierenden Parteien der moderaten Linken und Rechten zerbröckeln, schreibt Pierre Briançon in Politico.eu und zitiert den Politologen Gérard Grunberg: einer der Gründe, dass die Sozialistische Partei und die gemäßigte Rechte "den Herausforderungen nicht gewachsen sind, liegt darin, dass die Themen, über die sie streiten - etwa Wirtschaft und Wohlfahrt - nicht die wichtigsten Themen in der aktuellen Debatte sind. 'Die große Spaltung bei Immigration, Europa, Globalisierung zeigt sich in der Frage, ob man für ein offenes oder geschlossenes Land ist', sagt Grunberg. Bei den Top 4-Kandidaten sind Le Pen und Mélenchon für eine ähnliche 'geschlossene' Politik bei Handel, EU, außenpolitik und dem Euro - nur bei Immigration unterscheiden sie sich."

Das Feuilleton der Zeit hat Stimmen aus Deutschland zu den französischen Präsidentschaftswahlen und ihre Bedeutung für die Zukunft der EU gesammelt. Jürgen Habermas kann das Gejammer über Le Pen nicht mehr hören und setzt auf Emmanuel Macron. Warum den Zerfall der etablierten Parteien nicht als Chance für Frankreich, aber auch für Europa betrachten? "Die relevante Frage ist doch nicht das 'Für' oder 'Gegen' Brüs­sel, sondern nur das 'Wie' einer Kooperation, die vorangetrieben werden muss. Ein 'Weiter so' mit demokratisch entmündigten Völkern, die über ökonomische Anreize zur Ordnung gerufen wer­den, besiegelt den Zerfall. Hier nur zwei Schlagwörter: Wollen wir einen gemeinsamen europäi­schen Wirtschaftsraum im Interesse der Konzerne? Oder wollen wir nach Brexit und Trump ein global handlungsfähiges Kerneuropa, weil unsere Natio­nalstaaten zu schwach sind, als dass jeder von ihnen alleine unsre liberale Lebensform verteidigen und auf die poli­tische Gestaltung eines wild gewordenen Finanzmarktkapitalismus Einfluss nehmen könnte?"

"Alles außer Le Pen", ist die oberflächliche Antwort der Deutschen auf das Drama der französischen Wahlen, kritisiert Klaus Geiger in der Welt. Auch nach einem Sieg eines gemäßigten Kandidaten werde sich das deutsch-französische Verhältnis verändern. Besonders beobachtet Geiger, dass "Macrons und Fillons Pläne für die EU entschlossener sind als das, was in Deutschland auf dem Markt ist. Die deutschen Parteien wollen die Kardinalkrisen des Kontinents vor allem im Durchwurstelmodus lösen. In Frankreich aber kann sich kein Politiker erlauben, die radikalen Frexit-Ideen der Marine Le Pen mit halbherzigen Reformplänchen zu kontern."

Das Referendum in der Türkei hat auch gezeigt, dass die Idee der Demokratie bei den Türken keineswegs tot ist, schreibt Deniz Utlu im Tagesspiegel: "Fast die Hälfte der Wahlberechtigten hat sich als resistent gegenüber einer manipulativen und gewaltvollen staatlichen Kampagne gezeigt. Bei ihnen handelt es sich um eine heterogene Gruppe mit säkularen, religiösen, türkischen, kurdischen, linken und konservativen Wählern. Auf sie können wir bauen für eine Vision, die der Rückkehr nationalistischer Bewegungen überall in Europa etwas entgegenhält - nicht zuletzt, weil sie den Pluralismus bereits vorleben, deren Möglichkeit diese Bewegungen bestreiten."
Archiv: Europa

Medien

Der russische Journalist Nikolai Andruschtschenko, Gründer der Zeitung Novy Petersburg, ist nach einer Prügelattacke gestorben, berichtet unter anderem Radio Free Europe (mehr auch bei Spiegel online). "Denis Usow von Novy Petersburg verbindet den Angriff mit den Artikeln der Zeitung über Korruption in der Stadt. Diese Artikel legten vor allem die Liäson zwischen Stadtoberen und kriminellen Syndikaten offen."
Archiv: Medien

Politik

China setzt Südkorea derzeit mit einem Wirtschaftsboykott massiv unter Druck, um es von der Stationierung des neuesten amerikanischen Waffensystems Thaad abzubringen, berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ: "Was jedoch am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass die chinesische Regierung feindliche Stimmung gegen Südkorea und Koreaner schürt. Immer größer wird die Unsicherheit unter den Menschen in den beiden Ländern. 60 000 chinesische Studenten sind in Südkorea, und sie haben, wie einige sagen, ein mulmiges Gefühl - wie umgekehrt die Koreaner in China."
Archiv: Politik
Stichwörter: China, Südkorea, Korea