Magazinrundschau

Götter der Objektivität

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.09.2017. Nationalismus muss nicht hässlich sein, versichert der Guardian mit Blick auf die Katalanen. Bei den Katalanen ist er sogar besonders hässlich, meint dagegen Letras Libres. Wired und das TLS suchen nach der Wahrheit. In Novinky sucht Ivan Krastev nach zukunftsgerichteten Ideologien. Und Bloomberg möchte sein Wasser lieber nicht von Nestlé kaufen müssen.

New Yorker (USA), 02.10.2017

Im aktuellen Heft des New Yorker denkt Hannah Beech über die Wandlung der birmanischen Politikerin Aung San Suu Kyi nach. Einst für gewaltlose Demokratisierung stehend, scheint sie nun den Pakt mit dem Militär zu suchen: "Sie hat kaum eine andere Wahl, als mit ihren einstigen Gegnern zusammenzuarbeiten. Die Euphorie, die ihren Aufstieg begleitete, verdeckte die andauernde Macht des Militärs. Die Armee kontrolliert das Verteidigungsministeriumm, das Ministerium des Innern und die Belange der Grenzsicherung, ein Viertel der Parlamentssitze sind Männern in Uniform vorbehalten. Sogar Ministerien in ziviler Hand, wie das Finanzministerium, sind voll mit alten Seilschaften, ein Großteil des Staatshaushalts ist für das Militär reserviert. Myanmars Verfassung, 2008 von den Militärs entworfen, birgt weitere Schwierigkeiten. Sie erlaubt der Armee einen Ausnahmefall auszurufen und die Macht zu übernehmen. Darüber hinaus enthält sie eine Klausel, die eine Präsidentschaft Suu Kyis verhindert (ihr derzeitiger Titel 'Staatsrat' ist ein Notbehelf). Suu Kyi würde die Verfassung gerne ändern und Präsidentin werden, doch dazu benötigt sie die Unterstützung des Militärs. Für ihre Verteidiger ist ihre prekäre konstitutionelle Position ein Grund für ihre Schweigen zu militärischen Vergehen. Während sie das Militär zu einer Verfassungsreform bewegt, muss sie es vermeiden, dass die Armee sich gegen sie wendet und wieder die Macht übernimmt. Allerdings ist ihr Unvermögen, das Militär in seine Schranken zu weisen, mehr als Pragmatismus. Die Partei, der sie vorsitzt (Nationale Liga für Demokratie NLD, die Red.), wurde von einem Oberbefehlshaber der bewaffneten Kräfte mitbegründet, und einige ihrer engsten Berater sind Ex-Offiziere. Die NLD wird mit militärischer Emphase auf Loyalität und Hierarchie geführt. Wenige Mitglieder trauen sich, die Partei oder ihre Führung öffentlich zu kritisieren."

Außerdem: Atul Gawande fragt, ob Gesundheitsfürsorge eine Art Menschenrecht ist. Peter Schjeldahl stellt uns das Genie von Auguste Rodin vor. Und Alex Ross erklärt, wie die Landschaft Nebraskas die Schriftstellerin Willa Cather beinflusst hat.
Archiv: New Yorker

Guardian (UK), 25.09.2017

Nationalismus muss nicht hässlich, fremdenfeindlich und selbstmitleidig sein, es gibt ihn auch als zivile Version, freiheitlich, modern und offen, meint Neal Ascherson und stellt sich hinter die katalanischen Separatisten: "Katalonien gehört zu einer besonderen europäischen Kategorie, und das ist der Nationalismus der Peripherie, die sich selbst für viel entwickelter hält als die zentralen Metropolen. Die Tschechen mit ihrem Präzisionshandwerk blickten voller Snobismus auf das alte Wien hinab. Die viktorianischen Schotten dachten ähnlich über die ungebildeten, unterwürfigen Engländer. Die wohlhabenden Katalanen glauben, dass die drögen, frommen Kastilier sie nur belasten. Die Frage ist also nicht, warum es so viele Nationalstaaten gibt, sondern warum so wenig. Schließlich gibt es geschätzt wahrscheinlich sechs- bis achttausend ethnisch-linguistisch identifizierbare Populationen auf dem Planeten. Gestellt hat sie zum ersten Mal in den achtziger Jahren Ernest Gellner, der Vater des erwachsenen Nachdenkens über Nationalismus. Heute gibt es nicht einmal zweihundert Nationalstaaten, Tendenz steigend. Gellner sagte auch, dass der Nationalismus die Nationen hervorbringe, nicht umgekehrt." (In der LRB hält Giles Tremlett dagegen Kataloniens drohende Unabhängigkeitserklärung "eher für einen theatralischen Akt als für einen realen".)

Weiteres: Chris Renwick erinnert daran, wie hart der Wohlfahrtsstaat erkämpft werden musste, der jetzt so eifrig in Großbritannien abgebaut wird: Laut offizieller Statistik haben 900.000 Arbeiter Jobs mit einem Null-Stunden-Vertrag. Diese Menschen wissen am Anfang ihrer Woche nicht, wie viel Arbeit und wie viel Geld sie bekommen werden. Informelle und gelegentliche Beschäftigung erklärt auch, warum die britischen Arbeitslosenzahlen seit dem Finanzcrash von 2008 nicht in die Höhe geschnellt sind." Außerdem bringt der Guardian einen Auszug aus Franklin Foers Buch "World Without Mind", in dem der ehemalige Chefredakteur der New Republic mit Mark Zuckerberg abrechnet.
Archiv: Guardian

Eurozine (Österreich), 25.09.2017

Eurozine hat einen Artikel von Daniel Gascón aus Letras Libres übernommen, der mit den Katalonen sehr scharf - und auch auf Englisch - ins Gericht geht. Das autokratische, undemokratische Spanien sei eine Schimäre, schreibt er, und die politische Kritik an Madrid, an der Austeritätspolitik oder dem unvorteilhaften Finanzausgleich rechtfertige nicht den Angriff auf Spaniens Verfassung: "Das ganze illegale Unternehmen, das sich nicht auf das abgesetzte Referendum beschränkt, ist ein postmoderner Staatsstreich. Mit einem neuen Label zwischen Kitsch und Cool hat sich eine national-populistische Bewegung formiert und geschickt bestimmte Begriffe gesetzt. Dazu gehören 'das Recht zu entscheiden' als Euphemismus für Selbstbestimmung, die Verwechslung von Abstimmung und Demokratie, das Prestige einer Rebellion gegen das Establishment (dass wie beim Brexit die Anführer dieser Rebellion zu eben diesem Establishment gehören, spielt keine Rolle) und die seltsame Vorstellung, dass eine Demokratie zur Autokratie wird, wenn die eigene Seite nicht gewinnt. Und wie Fernando Vallespin schrieb, erlaubt das Versprechen der Unabhängigkeit jedem, auf die Zukunft zu projizieren, was er mag, und auszublenden, was er nicht mag. So wurde es für die einen zum Protest gegen Austeritätspolitik, auch wenn die Separatisten sie als erste implementiert hatten. Es wird als linke Bewegung angesehen, obwohl es eine Allianz zwischen der Rechten, den Kommunisten und einer Koalition ist, und obwohl es eine Bewegung gegen Umverteilung ist, mit der die Reichen versuchen, sich von den Armen zu befreien."
Archiv: Eurozine

Wired (USA), 20.09.2017

Michelle Dean stellt uns den Faktenchecker Snopes.com vor. Die 1995 von David Mikkelson gegründete Seite kümmert sich um die Ursprünge und den Wahrheitsgehalt von Schauermärchen, Legenden und Gerüchten: Fast so alt wie das Netz selbst, ist das Portal in diesen Zeiten der Unwahrheit zu einer unverzichtbaren Quelle geworden", schreibt Dean. "Wegen seines Rufs wurde Snopes letzten Herbst von Facebook zum Partner auserkoren, nachdem Facebook zum Kanal für Fake News geworden war. User konnten potenziell unwahre Geschichten kennzeichnen und  Snopes, ABC News und Associated Press verfolgten ihren Ursprung und Wahrheitsgehalt. Wie jeder weiß, ist die Wahrheit eine rutschige Angelegenheit. Zum Kern von etwas vorzudringen, erfordert eine kleinliche Persönlichkeit. Mikkelson besitzt dieses Feature. Er verbringt Stunden damit, eine detaillierte Analyse einer Behauptung zu schreiben und ist frustriert, wenn Leser bloß 'wahr' oder 'falsch' hören wollen … Gefragt, ob seine Arbeit einen Unterschied macht, kann er pessimistisch werden. 'Weil vieles von dem Zeug ganz schön kompliziert ist, nuanciert mit vielen Grautönen, braucht es langatmige, komplexe Erklärungen', meint er. 'Aber ein Großteil des Publikums ist es gewohnt, etwas nur zu überfliegen, und will gar nicht in allem folgen müssen. Also bleiben sie auf ihren Vorurteilen sitzen.' ... Niemand schaut aufs Ganze. Sofern es diese Art von intellektueller Ehrlichkeit im öffentlichen Raum einmal gegeben hat, ist sie längst verschwunden, und jemand wie Tucker Carlson von Fox News kann sich über die 'Götter der Objektivität' bei Snopes lustig machen."
Archiv: Wired

Times Literary Supplement (UK), 20.09.2017

Julian Baggini überlegt, weshalb es mit der Wahrheit in der postfaktischen Ära so eine Sache ist, bzw. zwei Sachen (er unterscheidet eine Wahrheit der Tatsachen und eine der Bedeutung), und inwiefern die Philosophie etwas zu ihrer Klärung beitragen kann: "Bei Wahrheit geht es selten einfach darum, die Fakten klarzumachen. Geschichte etwa erfordert selbstverständlich faktische Genauigkeit, doch damit ist es nicht getan. Es dreht sich auch um die Frage, welche Fakten herausgehoben und wie sie verstanden werden. Zum Beispiel gibt es keine faktischen Zweifel über die Kolonialisierung Australiens durch Europa, weder auf Seiten ihrer Befürworter noch auf Seiten ihrer Gegner. Der Unterschied besteht darin, welchen Aspekten der Geschichte Vorrang gewährt wird und ob sie gerühmt oder beklagt werden oder beides. Wenn Leute sich darüber beklagen, dass offizielle Geschichtsschreibung unwahr sei, meinen sie damit meistens nicht, dass bare Lügen erzählt würden, sondern eher, dass wichtige Wahrheiten ignoriert oder übersehen wurden. Bei dem Interesse an der Wahrheit geht es meistens nicht um Tatsachen, sondern um ihre Bedeutung. Die Wahrheit eines Porträts etwa liegt nicht unbedingt in seiner realistischen Treue, sondern eher in der Erfassung eines Wesenszuges, den ein exaktes Bild oder ein Fotografie vielleicht nicht erfassen kann."

Novinky.cz (Tschechien), 20.09.2017

Ondřej Slačálek führt ein hochinteressantes Gespräch mit dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev über die Krise der EU und die Zukunft der Demokratie(n), aus dem sich hier leider nur ausschnitthaft zitieren lässt. Eine mögliche Erklärung für die allgemeine Krisenstimmung sieht Krastev darin, dass es keine zukunftsgerichteten Ideologien mehr gibt. "Die Einzigen, die heute selbstbewusst über Zukunft reden können, sind die, die sich mit den Technologien befassen. Sie erzählen uns, wie wir kommunizieren werden, wie die künstliche Intelligenz funktionieren wird und so weiter. Sie haben aber nicht viel dazu zu sagen, wie die Gesellschaft organisiert sein wird, und es scheint sie auch nicht besonders zu interessieren. Mit dieser technologischen Entwicklung aber betreten wir vermutlich eine Ära, in der wir unsere auf Arbeit gründende Identität verlieren. Dabei war es das, was die Moderne gekennzeichnet hat: wir sind, was wir tun. Diese Gesellschaft wird womöglich von einer Gesellschaft ersetzt werden, in der Arbeit ein Privileg darstellt. ... Und auf so eine Entwicklung sind wir nicht vorbereitet."
Archiv: Novinky.cz

New York Magazine (USA), 18.09.2017

Andrew Sullivans epischer Essay im New York Magazine hebt etwas behäbig an, nimmt aber Fahrt auf und entwickelt eine Idee, die für die politische Debatte nicht nur in den USA fruchtbar sein könnte. Mehr und mehr, so Sullivan, regrediert das politische System Amerikas zu einem System des Tribalismus. Mit Zahlen kann er untermauern, dass dem christlich weißen und provinziellen Reservoir der Republikaner das ethnisch gemischte und städtische der Demokraten gegenübersteht. Und beide Lager sind, nach innen Loyalität verlangend, nach außen komplett unversöhnlich. Den Gegensatz zwischen beleidigter Provinz und kosmopolitischer Metropole gibt es inzwischen in allen westlichen Länder - nur kommt in Amerika noch ein Problem hinzu, schreibt Sullivan: "Unser undemokratisches Wahlsystem verschärft die Lage. Donald Trump erhielt 46 Prozent der Stimmen und überzeugte 3 Millionen Wähler weniger als seine Konkurrentin, aber er erhielt 56 Prozent des Wahlmännerkollegs. Die Republikaner erhielten bei den Senatsnachwahlen im letzten Jahr 44 Prozent der Stimmen aber 65 Prozent der Sitze. Dass ein Stamm über den anderen herrscht, ist eine Sache. Aber dass der Stamm, der weniger Stimmen hat, den Rest regiert, stellt die politische Stabilität auf die Probe." Wie sich das konkret bei den nächsten Zwischenwahlen auswirken könnte, beschreibt Michelle Goldberg in der New York Times.

California Sunday Magazine (USA), 22.09.2017

Ann Friedman erzählt die Geschichte, wie die Modedesignerinnen Kate und Laura Mulleavy vom Modelabel Rodarte mit "Woodshock" einen experimentellen Kunst-Spielfilm mit Kirsten Dunst in der Hauptrolle gedreht haben. "Um den Film fertigzustellen, quetschten sie die Produktion zwischen die Modesaisons. Die meisten Marken liefern vier oder mehr Kollektionen pro Jahr. Rodarte hingegen nur zwei. Sie drehten den Film im Sommer 2015 und erstellten dann eine Herbstkollektion. Im Oktober gingen sie in den Schneideraum, unterbrachen die Arbeit aber, um im Januar 2016 eine Rodarte-Kollektion zu erstellen. Im März machten sie sich wieder an die Arbeit an dem Film. ... Den Sommer über reisten sie nach London und Schweden, um den Soundtrack, die Farbgebung und die Tonspur zu vollenden. Im September präsentierten sie eine weitere Rodarte-Kollektion. Im Oktober folgte die Endabmischung des Tons. 'Es war wirklich verrückt', sagt Kate."

Der Trailer lockt mit verführerisch kristallinen Bildern, die Kritiker schlachten den Film derweil:


Elet es Irodalom (Ungarn), 25.09.2017

In Élet és Irodalom beteiligt sich jetzt auch Anna Gács, Präsidentin der Gesellschaft der Belletristen, an der Debatte über die gut ausgestattete, neue staatliche Schriftstellerakademie (KMTG): "Die Wortmeldungen über die Gründung und Funktion der Schriftstellerakademie wiesen jene Eigenheiten auf, die diese zweifelhafte, mit Geld gestopfte Institution im Bereich Kultur zum Musterbeispiel der Verteilungspolitik des Orbán-Regimes macht: Das Fehlen von fachlicher Sondierung, die unverschleierte Intention der Klientelbildung, das Negieren der bestehenden Institutionen, das vollständige Fehlen der Bestrebung nach neuer Legitimation und die finanzielle Förderung der neuen Institution in einer Weise, die nicht nur im Verhältnis zu den anderen überproportional erscheint. Die Frage stellt sich, ob so viel Geld überhaupt sinnvoll für die deklarierten Ziele ausgegeben werden kann, oder aber die hunderte Millionen intransparent woanders landen."
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Bloomberg Businessweek (USA), 26.09.2017

Wem gehört eigentlich das Wasser auf der Erde? Eigentlich ein Commons, sollte man meinen. Also eine Ressource, die allen Menschen auf der Welt gehört. Nestlé sieht das offenbar anders. Der Schweizer Multi ist inzwischen weltweit der größte Händler mit Tafelwasser, schreibt Caroline Weber in Bloomberg Businessweek. In weiten Teilen der Welt ist Wasser oft verseucht - mit Spuren von Pestiziden, Hormonen, Medikamenten oder Antidpressiva. Dazu kommt die Klimaerwärmung. Einer Schätzung der Vereinten Nationen zufolge werden bis zum Jahr 2025 dreiviertel der Weltbevölkerung unter akutem Wassermangel leiden: "Nestlé hat sich seit Jahrzehnten darauf vorbereitet. Der fühere Chef des Unternehmens, Helmut Maucher, sagte 1994 in einem Interview mit der New York Times: 'Quellen sind wie Öl. Man kann problemlos überall eine Schokoladenfabrik bauen. Aber Quellen hat man entweder, oder man hat sie nicht.' Sein Nachfolger Peter Brabeck-Letmathe, der kürzlich in Rente gegangen ist, wurde stark kritisiert für eine Aussage, die er 2005 in einem Dokumentarfilm über die Kommerzialisierung von Wasser machte. Barbeck-Letmathe sagte:' Eine Einstellung vieler NGOs, die ich als extrem bezeichnen würde, ist die, dass Wasser ein Menschenrecht sei.... Die andere Sicht ist, das Wasser ein Lebensmittelprodukt ist. Und das es, wie jedes andere Produkt, einen Marktwert haben sollte.' Auf die empörten Reaktionen, die folgten, sagte Brabeck-Letmathe, die Aussage sei aus dem Kontext gerissen worden und dass auch er Wasser als ein Menschenrecht betrachte. Später schlug er vor, jeder Mensch solle 30 Liter Wasser am Tag zu seiner freien Verfügung haben, jeder weitere Liter sollte allerdings berechnet werden."