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9punkt - Die Debattenrundschau

Da ist viel Platz am Lagerfeuer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2024. Wäre die Geschichte der DDR aufgearbeitet worden, wären die Ostdeutschen nicht so pro-russisch, glaubt Anne Rabe in der SZ. Die Zeit lässt  Khola Maryam Hübsch von der Ahmadiyya-Sekte und den Autor Hamed Abdel-Samad über die Begriffe Kalifat und Scharia streiten. Der Ruf nach der Vernichtung Israels wird jedenfalls nicht Frieden bringen, ruft Spiegel-Kolumnist Richard C. Schneider den pro-Hamas Demonstranten entgegen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.05.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Nach der islamistischen Großdemo in Hamburg, bei der ein Kalifat gefordert wurde (Unser Resümee), lädt die Zeit den Politologen Hamed Abdel-Samad und die Autorin Khola Maryam Hübsch von der Ahmadiyya-Sekte zum Streitgespräch. Kalifat, Scharia - für Hübsch sind das unbescholtene Begriffe, die von Extremisten missbraucht wurden. Die Scharia sei gut "mit der deutschen Rechtsordnung vereinbar", meint sie, worauf Abdel-Samad einwendet: "Sie müssen doch sehen, dass die Muslimbruderschaft, die Salafisten, das Mullah-Regime im Iran und die anderen 55 muslimischen Staaten die Scharia völlig anders auslegen als Sie. Dort herrscht Geschlechtertrennung oder die Todesstrafe für Apostaten." Zudem spreche man in Deutschland nur über die 0,5 Prozent muslimischer Extremisten, fährt Hübsch fort, während Abdel-Samad erinnert: "Der Islamismus besteht doch nicht nur aus ein paar Gefährdern! Es gibt neben Dschihadisten auch Salafisten, Muslimbrüder und türkische Islamisten."

Die Kalifatsforderungen gehen auf die in Deutschland offiziell verbotene islamistische Gruppe Hizb ut-Tahrir zurück, weiß der Nahost-Historiker Tom Khaled Würdemann auf den Geisteswissenschaftenseiten der FAZ: "Die Gründung der Gruppe 1953 in Jordanien stand sowohl im Kontext des arabisch-israelischen Krieges von 1948 als auch des modernen Islamismus, der seinen wichtigsten Impuls durch das Ende des osmanischen Kalifats 1924 erhalten hatte. Ideologisch ist die Hizb ut-Tahrir mit der Muslimbruderschaft verwandt. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Kalifats anstelle aller Nationalstaaten in der islamischen Welt und dann auf dem ganzen Planeten. Das Kalifat ist als Gottesstaat konzipiert und soll zurück in ein goldenes islamisches Zeitalter führen. In einer 'Verfassung des Kalifats' von 1963 wird die Herrschaft eines autokratischen, auf Lebenszeit gewählten Kalifen gefordert. Ein semidemokratisches Parlament übernimmt eine Kontrollfunktion. Islamische Gesetzgebung ist Basis aller Entscheidungen. Nichtmuslime dürfen als tributpflichtige 'Dhimmis' im Kalifat leben."

Thomas Wessel denkt bei den Ruhrbaronen über den Rocker Ramin Yektaparast nach, einen Deutsch-Iraner, der auf Geheiß des Regimes den Brandanschlag auf eine Synagoge in Bochum in Auftrag gab und vor kurzem im Iran erschossen wurde. Yektaparast lümmelte auf seinem Instagram-Profil gern in seinen Bentley-Cabrios. Islamismus verbindet sich mit Pop: "Da ist viel Platz am Lagerfeuer, die Hells Angels sind da, Harvard und Hamas. Humboldt, Huxtable und Hakenkreuz. Höcke, Hoskoté und Hizb ut-Tahrir. Hallervorden, Hisbollah und Human Rights Watch, in Bochum ist es Babak J., der eine Brandbombe wirft, weil er ein 'Zeichen' setzen will, in Berlin sind es Protestcamper vorm Reichstag, 'sie rufen offen zu Terrortaten auf', berichtete der Tagesspiegel Ende April, 'posieren mit Waffen und preisen den 'Märtyrertod'. Andere verbreiten Reden Adolf Hitlers, in denen dieser gegen Juden hetzt...'"

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Der Historiker Frank Trentmann, aktuelles Buch "Aufbruch des Gewissens", diagnostiziert in der Zeit eine Blockade der Deutschen aufgrund einer sich in Widersprüchen verlierenden moralischen Autorität: In Deutschland wolle man zugleich moralische Eindeutigkeit, aber ohne seinen Komfort aufzugeben, "frei nach der englischen Redeweise 'to have your cake and eat it, too'. Man möchte in Deutschland den Kuchen zugleich verzehren und aufbewahren: die Klimakrise angehen, aber bitte nicht auf Kosten der Autohersteller und der Verbraucher. Menschenrechte hochhalten, aber in China investieren. Sich über ein Zuviel an Migranten aufregen und sich gleichzeitig über einen Mangel an Arbeitskräften wundern. Empathie und Universalität der Menschenrechte einfordern, aber unter Berufung auf die Staatsräson die Kritiker der israelischen Kriegsführung maßregeln."

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Die aktuellen antiisraelischen Proteste erinnern den Spiegel-Kolumnisten Richard C. Schneider an die Campus-Proteste der Achtzigerjahre, nur dass heute unverhohlener "die Auslöschung Israels" gefordert wird: "Was diese jungen Menschen offenbar nicht verstehen, ist, dass ihre Vorstellungen von der Welt keine Bedeutung haben für die politischen Geschehnisse im Nahen Osten. Ja, möglicherweise können sie ihre eigenen Regierungen bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Doch wenn sie selbst später an die Schalthebel der Macht kommen, also in etwa 20 bis 30 Jahren, werden sie sich irgendwann auch der 'normativen Kraft des Faktischen' stellen müssen, wie die 68er dies nannten. Sie werden begreifen müssen, dass nicht sie darüber entscheiden, was in Israel und Palästina geschieht, sondern die Menschen zwischen Tel Aviv und Gaza, zwischen Jerusalem und Ramallah. Dass sie beiden verfeindeten Völkern besser flankierend zur Seite stehen sollten, damit Israelis und Palästinenser vielleicht irgendwann doch Brücken bauen können, die zum Frieden führen. Der aktuelle Ruf nach der Vernichtung Israels wird den Frieden sicher nicht bringen. Israel existiert."

Auch an britischen Universitäten verbreiten sich propalästinensische Proteste, berichtet Jannis Koltermann in der FAZ. In Cambridge etwa wird gefordert, "die Universität solle alle Verbindungen mit Unternehmen und Universitäten kappen, die von der Kampagne 'Boycott, Divestment and Sanctions' als am 'Genozid in Gaza' beteiligt angesehen werden - besagte Kampagne wurde in einer Resolution des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2019 als antisemitisch verurteilt. Außerdem solle die Universität Israels '76 Jahre andauerndes, militärisches Besatzungsregime' verurteilen, Gebäude nach 'palästinensischen Märtyrern' umbenennen und ein von palästinensischen Wissenschaftlern geführtes Forschungszentrum einrichten." Von den Protestcamps an der Freien Universität in Berlin und der Uni Hamburg berichtet die taz.
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Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Kai Müller und Anja Wehler-Schöck teilt der amerikanische Demokratieforscher Thomas Carothers seine Einschätzung zu den pro-palästinensischen Studentenprotesten in den USA. Die Demonstrationen könnten durchaus einen Einfluss auf die Wahlen haben, meint er. Zwar glaube er nicht, "dass die USA von ihrer grundsätzlichen Unterstützung für Israel abweichen werden. Aber US-Präsident Joe Biden und sein Team nehmen die Proteste durchaus ernst. Als er sich vergangene Woche dazu äußerte, zog er eine Grenze zwischen Demonstrationen, die legitim seien, und radikalen und gewalttätigen Aktionen, die Chaos stifteten. Ich sehe hier zweierlei Effekte auf den Wahlkampf. Zum einen, dass pro-palästinensische Menschen nicht für Biden stimmen. Das ist gefährlich bei einer Wahl, die so eng werden kann. Zum anderen, dass Bilder der Proteste von Bidens Gegnern genutzt werden, um den Präsidenten zu schwächen. Also zu suggerieren, dass das Land im Chaos läge und Biden die Kontrolle verloren habe."
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Kulturpolitik

Am "rabiaten Israel-bezogenen Antisemitismus" der Kunstszene zeigt sich für Andreas Schreiner in der NZZ auch ihr "Niedergang". Kunstveranstaltungen, egal ob Berlinale oder Literaturfestival, leiden, so Schreiner, "an ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Irrelevanz. ... Das tiefere Problem ist: Viel Gegenwartskunst ist notdürftig getarnter Agitprop. Der Künstler performt seine Politik. Das Resultat ist natürlich noch nicht zwingend antiisraelisch, es ist nur meistens schlechte Kunst. Gleichzeitig wirkt diese propagandistische Kunst kaum noch auf die Gesellschaft ein. ... Der Künstler ist mit seiner zunehmenden Irrelevanz konfrontiert. Selbst wenn er Preise gewinnt, gewinnt er nicht merklich an öffentlichem Ansehen und Einfluss. Natürlich ist das ein Frust. Und an wem lädt er sich ab? Hier sind wir nun wieder bei Israel."
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Ideen

Einst feierte der Postkolonialismus die Möglichkeiten einer Globalisierung und die Auflösung von Identitäten, mit der indisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri C. Spivak setzte sich dann spätestens ab den Zehnerjahren aber das Konzept des Indigenen an die Stelle des Nomadischen, erinnert Jens Balzer in der Zeit: "Damit etablierte sich ein Verständnis von 'kultureller Identität', das diese nicht mehr als werdende, der Zukunft zugewandte versteht, sondern sie vielmehr an die Vergangenheit bindet, an Herkunft, Tradition, Territorien, früher hätte man gesagt: an das Völkische, an die Scholle. Und dies in der gleichen Zeit, in der auch autoritäre und rechtspopulistische Politiker wieder erfolgreich das 'Eigene' gegen das 'Fremde' in Stellung brachten, gegen 'Kosmopoliten' und 'Globalisten'."

Außerdem: Der Philosoph Peter Strasser fordert in der NZZ, dass der Westen vor dem Bösen, wie es sich etwa in Autokratien manifestiert, nicht zurückweicht.
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Europa

Fassungslos berichtet Inna Hartwich in der taz von Putins Einführung in seine fünfte Amtszeit: "In seiner achtminütigen Rede spricht er von 'traditionellen Werten', 'Volkserhaltung' und der 'Einzigartigkeit Russlands'. 'Auf den ersten Platz müssen wir immer unsere Heimat stellen', sagt er. Der Kreml vereinnahmt mittlerweile jeden Einzelnen für den Erhalt seines Status quo. Putin stellt an die Menschen neue Ansprüche, fordert nicht mehr nur die schweigende Zustimmung, sondern macht sie zu Komplizen seines Regimes: Sie sollen für die von den Machthabern ausgemachten Helden jubeln, sollen an den russischen Sieg glauben. 'Alle zusammen werden wir siegen', ist seine Losung. Zur 'neuen Elite' im Land sollen die werden, die sich an der Front und in den Militärfabriken fürs Vaterland aufopfern, das ist Putins Ziel. Dafür lässt er sich vom höchsten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche segnen. 'Hoheit' nennt ihn Patriarch Kirill in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml. Wie die früheren Zaren."
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Stichwörter: Putin, Wladimir, Russland

Geschichte

"Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist in den Dissertationen und Habilitationen stecken geblieben", beklagt die Schriftstellerin Anne Rabe in der SZ. So sei die in den Neuen Ländern eher verbreitete pro-russische Haltung auch Ausdruck mangelnder Verarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte: "Doch das ist keine Angelegenheit, die nur den Osten betrifft und keine, die nur der Osten verbockt hat. Es ist die Folge politischer Entscheidungen. Auch westdeutsche Politiker wie Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble argumentierten gegen eine umfassende Aufarbeitung, um den Transformationsprozess nicht zu stören. Und es ist die Folge eines arroganten Desinteresses im Westen. Die Opfer des Stalinismus waren nur so lange interessant, wie man mit dem Gedenken an sie die DDR verhöhnen konnte. Mit der Wiedervereinigung verschwand der 17. Juni als Feiertag in der Bundesrepublik geräuschlos."
Archiv: Geschichte