Magazinrundschau - Archiv

London Review of Books

514 Presseschau-Absätze - Seite 5 von 52

Magazinrundschau vom 15.11.2022 - London Review of Books

Vor einem Jahr beendet Tunesiens Präsident Kais Saied mit seinem Staatstreich die zehn Jahre der demokratischen Revolution. Er verhängte den Ausnahmezustand, entmachtete das Parlament und ließ sich eine neue Verfassung auf den Leib schneiden. Die Repressionen nehmen zu, berichtet Tom Stevenson, nur hin und wieder wagen es Tunesier, gegen die hohen Lebensmittelpreise zu protestieren: "Seit dem Putsch ist es schwieriger geworden, unabhängige Informationsquellen zu finden. Im August verurteilte ein Militärgericht Salah Attia, den Herausgeber einer Nachrichten-Website, zu drei Monaten Gefängnis, weil er den Präsidenten im Fernsehen kritisiert hatte. Im September kündigte Saied ein neues Gesetz an, das Gefängnisstrafen für die 'Verbreitung von Falschinformationen' vorsieht. Der Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtensenders Inhiyez wurde verhaftet, nachdem die Polizei sein Haus durchsucht und seine Computer beschlagnahmt hatte. Die willkürliche Polizeigewalt und die Verhaftungen von Aktivisten, die die Polizeigewalt dokumentieren, haben zugenommen. Bevor er zum Putschisten wurde, war Saied ein Verfassungsrechtler. In den Jahren nach der Revolution trat er regelmäßig im Fernsehen als Kommentator zu Verfassungsfragen auf; eine seiner Beobachtungen war, dass Verfassungen dazu neigen, zu Werkzeugen der Exekutive zu werden. Er gewann die Präsidentschaft im Jahr 2019, indem er sich als Außenseiter präsentierte. Daran war etwas Wahres: Vor der Revolution war er ein kleiner Akademiker in der Hauptstadt gewesen. Aber es war auch eine Vereinfachung: Er hatte in Tunis dieselbe Schule wie drei frühere Präsidenten besucht. Seine Art von konservativem Nationalismus, gepaart mit äußerlicher Askese, kam gut an. Ebenso wie sein Versprechen, politische Korruption zu beseitigen und das Prestige des Staates, haybat al dawla, wiederherzustellen. Seine Gegner sagen Saied die Arroganz und Unnachgiebigkeit eines Apostels nach. Er hat sich Freunde in Ägypten und den Golfstaaten gemacht, indem er sich gegen die Islamisten positionierte. In den Medien geißelt er die Reichen und fordert mehr direkte Demokratie. Dieser Anstrich revolutionärer Rhetorik hilft ihm gegen politische Opponenten, scheint aber nie etwas zu bewirken."

Weiteres: Joanne O'Leary liest Cathy Curtis' Biografie der Kritikerin Elizabeth Hardwick, die für ihre scharfen Verdikte berüchtigt war und etwa die Vorstellung lächerlich fand, Frauen könnten literarisch mit Männern konkurrieren. David Runciman blickt ratlos auf zwölf Jahre Tory-Regierung.

Magazinrundschau vom 22.11.2022 - London Review of Books

David Goldblatt hat zwei Bücher gelesen, die ihm Einblick geben in das Land Katar. Wie wichtig Fußball - bzw. Sport insgesamt - für die soft power der Außenpolitik Katars ist, lernt er aus Paul Michael Brannagans und Danyel Reiches Band "Qatar and the 2022 Fifa World Cup: Politics, Controversy, Change". Wie kostbar diese soft power für die Herrscher Katars ist, vermitteln schon die Zahlen: "Nach vorsichtigen Schätzungen hat die katarische Regierung seit der Vergabe des Turniers im Jahr 2010 rund 250 Milliarden US-Dollar für die Entwicklung ausgegeben - mehr als das gesamte BIP des Landes. Das ist auch mehr als die Kosten aller bisherigen Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele zusammengenommen." Abgesehen davon hat Katar enorme Summen in den europäischen Fußball und die Fifa investiert, was offenbar häufig freundschaftlichen Zugang zu europäischen Politikern sichert. Wer mehr über das Leben der Katarer wissen möchte, die "den Wandel eines Landes vom vormodernen Elend zum postmodernen Reichtum" miterlebten, dem empfiehlt Goldblatt "Inside Qatar: Hidden Stories from One of the Richest Nations on Earth" von John McManus. "Katarische Bürger zahlen keine Steuern. Gesundheitsversorgung und Bildung sind kostenlos. Der Staat garantiert all jenen, die es wünschen, eine Beschäftigung. Doch die politische Macht liegt in den Händen einer kleinen Schicht von Aristokraten rund um das Königshaus. Unkonventionelles Verhalten, geschweige denn Kritik am Status quo, ist riskant. Eine Zivilgesellschaft - von politischen Interessengruppen bis hin zu unabhängiger künstlerischer Produktion - ist so gut wie nicht vorhanden. Auffälliger Konsum ist jedoch erlaubt. Kataris sind die weltweit eifrigsten Käufer von Luxusgütern, was bedeutet, dass sie trotz der Großzügigkeit des Staates massiv verschuldet sind: Drei Viertel der katarischen Familien haben Schulden in Höhe von mindestens 70.000 Dollar. Viele haben auf die Hypermodernisierung des Landes reagiert, indem sie sich der Tradition verschrieben haben; einige haben sich stärker dem wahhabitischen Islam oder sogar, zum Entsetzen des Regimes, radikaleren salafistischen Strömungen angeschlossen."

Magazinrundschau vom 01.11.2022 - London Review of Books

Die Führungslosigkeit der iranischen Protestbewegung ist Stärke und Schwäche zugleich, glaubt Azadeh Moaveni. Schwäche, weil sie von außen gekapert werden könnte, wie er fürchtet, aber Stärke, weil der Aufstand der Frauen mittlerweile alle Gruppen der Bevölkerung erfasst hat. Die Politik der Sittenwächter liegt in Trümmern, dass die Ajatollas nicht wissen, wie sie da raus kommen sollen, haben sie sich selbst zuzuschreiben: "In gewisser Weise hat die Islamische Republik sich selbst in die Enge getrieben. Sie hat die Reformisten verjagt, die in solchen Momenten als nützliche Ablenkung dienten. So konnten höchste Autoritäten immer wieder behaupten, das System würde bei einem zu schnellen Wandel zurückschlagen. Als Gegenleistung dafür, dass sie in die Politik aufgenommen wurden, versagten sich die Reformisten die wichtigsten Kritikpunkte: dass die demokratische Theokratie im Iran nicht funktionieren kann, dass ein System nicht Gott und dem Volk zugleich verpflichtet sein kann. Jetzt, da es keine Reformisten mehr in der Politik gibt, hat die Islamische Republik keine brauchbare Opposition und ist schließlich auf sich allein gestellt, wohl wissend, dass sie sich in einer akuten existenziellen Krise befindet, aber unfähig, irgendwelche Schritte zu unternehmen, um sich zu retten."

Jenny Turner bekennt, Stuart Hall lange nicht gewertschätzt zu haben, weil sie ihn zuerst in seiner "Wischiwaschi"-Phase in den neunziger Jahren gelesen hat. Was für ein Fehler! In einer Eloge huldigt sie dem marxistischen Soziologen und Pionier der Cultural Studies, der in Schriften wie "The Great Moving Right Show" oder "Policing the Crisis" so kraftvoll und präzise über die regressive Modernisierung und den autoritären Populismus schreiben konnte. In "Gramsci und Us" liefert er die beste Analyse des Thatcherismus überhaupt, meint Turner, weil er dachte, dass die revolutionäre Arbeit heute eher einem Stellungskrieg oder einem Guerillakampf gleicht als einem Frontalangriff: "Nur dass sich die Gräben immer wieder verschieben und verzweigen, ebenso wie Kräfte und Interessen. Ein Genosse geht vielleicht bei Sainsbury's ein Sandwich essen, und wenn man das nächste Mal von ihm hört, ist er ein Kommentator beim Daily Telegraph. Ein anderer bildet eine Splittergruppe, die Sainsbury's grundsätzlich ablehnt und Sie und Ihre Fraktion dafür anprangert, dass Sie sich ihr nicht anschließen. In der Zwischenzeit ist Ihnen aufgefallen, dass der Parkplatz von Sainsbury's einer der wenigen Orte ist, an denen die Menschen noch offline miteinander reden ... 'Wenn man davon ausgeht, dass Menschen wirklich so sind ... können wir dann Begriffe und Formen der Organisation, der Identität und der Zugehörigkeit finden, die einen Bezug zum populären Leben haben, es aber umgestalten und erneuern können?' Halls Sprache wird oft und schnell furchtbar technisch, aber sie dient ihrem Zweck: die beweglichen Teile dessen zu identifizieren, zu demontieren und neu zu konfigurieren, was Hall als 'Thatcherismus' bezeichnete, eine sehr präzise und besondere Formation, die irgendwie den rückwärtsgewandten sozialen Autoritarismus - Fahnen, Schlagstöcke, Handtaschen, Krämerläden - und den totgeglaubten Marktliberalismus von Hayek und Friedman auf eine Weise zusammenbrachte, die vielen Menschen so gut zu gefallen schien, dass sie bereit waren, dafür zu stimmen."

Magazinrundschau vom 25.10.2022 - London Review of Books

Alle chinesischen Parteimitglieder müssen bis Ende November in einem 50-stündigen Online-Lehrgang Xi Jinpings "Ideen des Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter" gelernt haben, erzählt Long Ling. Leider kennt die Software bereits alle Tricks, mit denen man die acht Klarstellungen und vierzehn Imperative, darunter das vierfache Selbstvertrauen, abkürzen könnte, und meldet sie der Parteiführung. Aber nicht alle werden so kurz an der Leine geführt: "Von den Parteimitgliedern wird verlangt, dass sie die Reden von Xi lernen. Wir werden aufgefordert, sie 'in das Gehirn' (Rationalität und Logik) und 'in das Herz' (Emotion und Loyalität) aufzunehmen und dann 'das Begreifen mit dem Tun zu verbinden'. Die Parteiorganisation lässt sich immer neue Wege einfallen, um die Parteimitglieder zu ermutigen und zu zwingen, zu studieren, zu studieren und zu studieren und sie dabei zu überwachen. Eine kleine Anzahl von ausgewählten Parteimitgliedern allerdings studiert eine Zeit lang Vollzeit in speziellen Schulen. In diesem Jahr nahm die Zentrale Parteischule mehr als sechshundert von der Zentral- und der Provinzregierung ausgesuchte hochrangige Kader auf, um fünf Monate lang auf ihrem Campus in der nordwestlichen Ecke von Peking zu studieren. Einer meiner Bekannten nahm daran teil. Ich war überrascht, wie sehr er sich in fünf Monaten veränderte. Er isst jetzt dreimal am Tag gesunde Mahlzeiten, trinkt keinen Alkohol, geht früh zu Bett und treibt ständig Sport. In der Schule gab es sonst nicht viel zu tun. Er ging jeden Tag eine Stunde lang um einen künstlichen See mit glänzenden Koi-Karpfen und einer Insel mit schwarzen Schwänen. Er nahm fünf Kilogramm ab. Seine Erfahrungen sollen gängig sein. Bevor sie ihren Abschluss machen und den Campus verlassen dürfen, befragt die Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh die Kader, um herauszufinden, ob sie ihre Studienziele erreicht und Xi Jinping und der Partei gegenüber volle Loyalität bekundet haben. Ihre geistige Ernte ist noch nicht greifbar, aber sie wird es später werden, wenn sie auf der Parteileiter aufsteigen."

Magazinrundschau vom 20.09.2022 - London Review of Books

Londons Ausverkauf begann nicht erst unter Margaret Thatcher, sondern bereits in den sechziger Jahren, lernt Florence Sutcliffe-Braithwaite mit John Davis' Londoner Geschichte "Waterloo Sunrise". Die Swinging Sixties waren nicht nur die Jahre, in denen junge Frauen in Mary Quants Worten einen Hintern anstelle eines Gesäßes bekamen. Pop war populär, aber nicht klassenlos: "Im Jahr 1961 lag die Wohneigentumsquote in Londons inneren Bezirken bei unter 20 Prozent und damit bei weniger als der Hälfte des nationalen Durchschnitts. Fast drei Viertel der privaten Mietwohnungen wurden als 'ungeeignet' eingestuft. Ein Großteil davon war georgianisch, viktorianisch oder edwardianisch und wurde entweder von vornherein billig gebaut oder später in Wohnungen aufgeteilt und dem Verfall preisgegeben. Als die Tory-Regierung 1957 beschloss, die Mietkontrollen für teurere Wohnungen zu lockern, setzte eine Welle der Veränderung ein. Junge Paare mit Ideen aus Chelsea, aber mit den Brieftaschen von Notting Hill Gate begannen, baufällige Häuser aufzukaufen und sie umzugestalten. Bauträger stiegen schnell in das Geschehen ein, angelockt durch staatliche Zuschüsse für die Renovierung alter Häuser. Aus 'Chelseafication' wurde 'Gentrifizierung', und ein großer Teil der heruntergekommenen Innenstadthäuser Londons wurde vor dem Abriss bewahrt."

In einem ellenlangen und etwas mäandernen Artikel erzählt Ian Jack die Geschichte des schottischen Schiffbaus, dessen einstiger Glanz doch ziemlich verblasst ist. Die Hafenstadt Port Glasgow erlebte zudem ihr "Fähren-Fiasko" mit zwei Schiffen, die fünf Jahre nach dem anvisierten Termin noch immer nicht fertig sind. Unangenehm für die schottische Regierung: "Die schottische Verachtung für die politische Führung in Westminster hat unter Boris Johnson einen neuen Höhepunkt erreicht (und droht unter Liz Truss noch weiter zu steigen), so dass dies eigentlich einfach sein sollte. Aber die SNP ist in Schottland seit fünfzehn Jahren an der Macht und hat ihre eigene Liste von Peinlichkeiten, vor allem in den Bereichen öffentliche Gesundheit, Bildung und Industriepolitik. Verglichen mit der niedrigen Lebenserwartung, der höchsten Rate von Drogentoten in Europa und der Aquakultur, die fast vollständig in ausländischem Besitz ist, sind die Fähren ein kleines Missgeschick. Unmittelbar betroffen sind nur die dünn besiedelten Halbinseln und Inseln im Westen Schottlands mit einer Wohnbevölkerung von höchstens siebzigtausend Menschen. Was die Fähren politisch so wirkungsvoll macht, ist die Tatsache, dass sie die Unzulänglichkeit der Regierung auf den Punkt bringen. Die schottische Regierung hat die Schiffe in Auftrag gegeben und finanziert; die schottische Regierung besitzt und verwaltet jetzt die Werft; die schottische Regierung wird die Schiffe subventionieren, wenn sie in Betrieb gehen, man könnte auch sagen falls."

Außerdem: James Butlers blickt auf Liz Truss' bisherige politische Laufbahn, die ihn nicht unbedingt hoffnungsfroh stimmt.

Magazinrundschau vom 06.09.2022 - London Review of Books

Seemacht ergibt sich nicht aus der Größe der Marine oder der Fähigkeiten ihrer Admiräle, weiß Tom Stevenson, sondern aus den strategischen Positionen, die eine Marine besetzt. Für die  Royal Navy galt das Diktum ihres Admirals John Fisher, demzufolge fünf Schlüssel die Welt eröffneten: Singapur, Kapstadt, Alexandria, Gibraltar, Dover. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA mit ihren Flugzeugträgern die Hegemonie übernommen, jetzt müssen sie fürchten, ihre unbestrittene Vorherrschaft zu verlieren, lernt Stevenson in David Boscos Buch "The Poseidon Project": "Bis in die 2010er Jahre hinein macht niemand der amerikanischen Seemacht ihre Führung streitig. Erst in jüngster Zeit ist China zum aufstrebenden Rivalen auf See geworden. Während ihrer langen Hegemonie haben die USA ihr Image als Bewahrerin der 'Freiheit auf See' gefördert, so wie es einst Großbritannien tat. Im Rahmen der von George Bush im Jahr 2003 ins Leben gerufenen Proliferation Security Initiative hat die US-Marine wie selbstverständlich Schiffe beschlagnahmt, geentert und durchsucht. Im Dezember 2020 veröffentlichte das amerikanische Militär ein offizielles Strategiedokument mit dem Titel 'Vorteil zur See', in dem behauptet wurde, dass die amerikanische Seemacht den 'freien und offenen Zugang zu den Weltmeeren' gesichert und damit 'eine außergewöhnliche Ära des Wohlstands und des Friedens für viele Nationen' eingeleitet habe. Doch dieses System sei nun in Gefahr. Infolgedessen müssen die USA 'die Kontrolle über die Meere in umstrittenen Gebieten von den Küstengewässern bis zum offenen Ozean, einschließlich kritischer Engpässe, aufrechterhalten und ausnutzen'. Die heutigen Entsprechungen der fünf Schlüssel von Fisher - Malakka, Yokosuka, Hormuz, Suez und Panama - sind alle entweder in amerikanischer Hand oder so gut wie."

Besprochen werden Douglas Stuarts neuer Roman "Young Mungo" und Gina Rippons Studie "The Gendered Brain", das mit dem Mythos aufräumt, weibliche Gehirne unterschieden sich qualitativ von männlichen.
Stichwörter: Seemacht, USA, Bosco, David

Magazinrundschau vom 16.08.2022 - London Review of Books

Der Ukraine-Krieg wird sich nicht im Donbass entscheiden, glaubt James Meek, sondern im Süden im Kampf um die Stadt Cherson, die einen wichtigen Brückenkopf zum Schwarzen Meer bildet. Dreißig Kilometer von der Front entfernt liegt Mikolajew, das zur Hälfte von seinen Bewohnern verlassen wurde und in dem immer wieder Geschosse einschlagen: "Die Russen verwenden entweder Raketen, deren Flug eine Parabel zeichnet - Thomas Pynchons 'Regenbogen der Schwerkraft' - oder Marschflugkörper. Beide fliegen zu schnell, um gehört zu werden, bevor sie einschlagen. Sie werden von LKWs aus abgefeuert, von Schiffen, U-Booten und Flugzeugen, manchmal aus tausend Meter Entfernung. Die Ukrainer versuchen sie abzuschießen, manchmal gelingt es ihnen, doch ihre Technologie ist alt, und die Raketenabwehrsysteme, die ihnen von Deutschland und den USA versprochen wurden, sind noch nicht eingetroffen. Konventionelle Raketen auf eine große Stadt abzufeuern ist eine unglaublich ineffektive und kostspielige Art, diese dem Erdboden gleich zu machen und die in ihr lebenden Menschen zu töten. Es ist nicht die Taktik einer Armee, die sich selbst als Befreier versteht. Es ist allerdings ein ziemlich guter Weg, um Menschen zu terrorisieren und demoralisieren... Die Feinseligkeit gegenüber Russland ist groß, wie auch die Unterstützung für die ukrainischen Truppen und der Glaube an ihre Kampfkraft. Höher kann man sie sich kaum vorstellen, auch wenn beides nicht von allen geteilt wird. Den Charakter von Russlands Angriff kann man sich nur mit der Vorstellung erklären, dass die meisten Ukrainer ihre eigenen Politiker und die Vorstellung von der Ukraine als realem, unabhängigem Land mit derselben Verachtung betrachteten wie der Kreml. Als diese Idee zu Beginn der Invasion platzte und sich zum Entsetzen des Kremls auch keine Armee von Kollaborateuren zeigte, behalf sich die russische Regierung mit einer anderen Konstruktion, nämlich dass das Ausmaß von Tod und Zerstörung die Folge des ukrainischen Widerstands sei. Es ist eine Version der Drohung, die sonst Räuber oder Vergewaltiger ausstoßen: 'Ich bekomme, was ich will, egal ob du dich wehrst oder nicht. Aber wenn du dich wehrst, muss ich dich vielleicht auch töten."

Geoff Mann liest Bücher zum Post-Wachstum von Per Espen Stoknes, Jason Hickel, Tim Jackson und Giorgos Kallis, die allesamt gegen das Credo anschreiben, mehr sei fast so gut wie besser: "John Stuart Mill erklärte wie viele andere auch, dass Menschen am besten in einer Gesellschaft lebten, in der 'keiner arm sei, niemand reicher zu werden verlangt oder befürchten muss, zurückgeworfen zu werden von denen, die vorwärts drängen'. Die Ökonomie des Wachstums wird, das ist der Vorwurf, verwechselt mit einer qualitativen Entwicklung. Dabei wissen wir heute, dass Länder, deren BIP pro Kopf zu den höchsten gehört oder am schnellsten wächst, nicht unbedingt friedlicher oder demokratischer sind, auch leben ihre Bürger nicht unbedingt länger, gesünder oder glücklicher. Trotzdem bleibt das BIP das Standardmaß für all nationale Wirtschaftsaktivitäten, zum Leidwesen der Verfechter von Alternativen wie dem Human Development Index oder dem Genuine Progress Indication, die immerhin versuchen, menschliches Wohlbefinden messen."

Magazinrundschau vom 02.08.2022 - London Review of Books

John Lanchester nimmt das Buch des Financial-Times-Reporters Dan McCrum, der den Wirecard-Skandal aufgedeckt hat, zum Anlass, über die zwei größten Betrugsskandale der deutschen Wirtschaft nachzudenken: VW und Wirecard, deren Geschichte er wunderbar verständlich nacherzählt. Aber wie konnte das ausgerechnet in Deutschland passieren, dem Land, das sich mit seiner soziale Marktwirtschaft und seinem Konsenskapitalismus anderen Ländern so überlegen fühlt? Falsches Selbstbild, glaubt Lanchester. Deutsche Stereotypen schließen "inkompetenter Gangster" nicht ein, wie McCrumb feststellt. Aber das ist ein Fehler. "Der entscheidende Makel des deutschen Kapitalismus ist nicht Zynismus, sondern Selbstgefälligkeit. Diese Selbstgefälligkeit ist die Grundlage für die bemerkenswerte Tatsache, dass es innerhalb von fünf Jahren zwei große Betrugsfälle in DAX-Unternehmen gab. Volkswagen brauchte sich nicht darum zu kümmern, weil es sich den Aufsichtsbehörden, die die Regeln machen, überlegen fühlte: Wir sind die Autobauer, wir wollen Dieselmotoren bauen, unsere Dieselmotoren werden die Tests nicht bestehen, deshalb sind die Tests falsch und müssen umgangen werden. Die Vorschriften waren einfach eine Unannehmlichkeit, die es zu überwinden galt. Im Fall von Wirecard wurden eindeutige Beweise für Betrug vorgelegt, und die Reaktion der Regulierungsbehörde bestand darin, Strafanzeige gegen die Personen zu erstatten, die das Fehlverhalten aufgedeckt hatten. Und warum? Weil die kritischen Stimmen von außerhalb des magischen Kreises des deutschen Kapitalismus kamen, der doch Prozesse einhält und Regeln befolgt", anders als der amerikanische oder britische Kapitalismus, wie wir so gerne denken.

Laleh Khalili setzt sich kritisch mit Helen Thompsons Buch "Disorder: Hard Times in the 21st Century" auseinander, das ihr zu stark auf die Politik der Großmächte abgestellt zu sein scheint: "Geopolitik ist nie losgelöst von politischen Kämpfen, und die treibende Kraft der Welt befindet sich nicht irgendwo mitten im Atlantik, auch wenn viel bösartige Macht von Europa und Nordamerika ausgeht. Öl, Geld und Demokratie haben nicht immer mit dem Kalkül einiger weniger mächtiger Regierungen zu tun. Ölkonzerne spielen eine Rolle, staatliche Unternehmen ebenso wie BP, Chevron, Exxon und Shell sowie die unabhängigen Unternehmen, die im Schiefergestein arbeiten und von privaten Beteiligungsgesellschaften finanziert werden. Das Gleiche gilt für weit entfernte Finanziers, die den Preis von Öl und anderen Rohstoffen von unscheinbaren Vorstadtbüros aus manipulieren, die Ozeane entfernt sind. Die Zehntausenden von Arbeitnehmern und Aktivisten, die für das gekämpft haben, was Tim Mitchell als 'Kohlenstoffdemokratie' bezeichnet hat, sind wichtig. Diplomaten und Minister, die Öl verstaatlichen, für Souveränität kämpfen und koloniale Verpflichtungen vor manipulierten Handelsgerichten bekämpfen, sind wichtig. Revolutionäre und streikende Ölarbeiter im Nahen Osten und darüber hinaus sind wichtig. Die Gewerkschafter, die in gefährlichen petrochemischen Anlagen an der US-Golfküste arbeiten, sind wichtig. Und auch die indigenen Gemeinschaften, die gegen Pipelines protestieren, die ihre souveränen Gebiete durchschneiden, sind wichtig. Sie sind für die Argumentation wichtig, und zwar nicht nur wegen einer moralischen Abwägung in Bezug auf Arbeit, Kolonialismus und Entkolonialisierung, Volksmobilisierung oder Umweltschutz - obwohl auch das wichtig ist - sondern weil diese Kräfte den Lauf der Geschichte auf millionenfache Weise verändert haben."

Magazinrundschau vom 19.07.2022 - London Review of Books

Shanghai scheint nach monatelangem Lockdowns mit den Nerven am Ende: Viele Geschäfte und Restaurants sind ruiniert, die Menschen züchten auf ihren Balkonen Gemüse, um nicht nur Kartoffeln und Reis zu essen, viele benutzen wieder Bargeld, um unter der Hand für Erdbeeren oder einen Harschnitt zahlen zu können. Aber die Schanghaier verstehen sich auf Galgenhumor, wie Mimi Jiang zeigt: "Lange Schlangen gibt es auch vor den Meldeämtern, wo sich die Leute scheiden lassen können. Eine Freundin von mir, die während des Lockdowns ein Kind bekam, offenbarte mir, dass sie auch in der Stillzeit Bier trank, damit das Baby mehr schlief, anstatt den ganzen Tag zu schreien. 600 South Wanping Road ist jetzt die berühmteste Adresse der Stadt, dort steht Shanghais Nervenklinik. Sie wurde schon zu einem Meme und einem Motiv von nicht-autorisiertem Merchandising - überall sieht man Einkaufstaschen und T-Shirts mit der Aufschrift 'Fröhliche Entlassung aus der 600'. Ein befreundeter Doktor in der Klinik sagte, er habe noch nie so viele Patienten gesehen; wenn ich Schlaftabletten haben wollte, müsse ich warten wie jeder andere auch."

Außerdem versammelt die LRB eine Reihe von Autorinnen, die zur Abschaffung des Rechts auf Abtreibung in den USA Stellung beziehen, von Elif Batuman über Anne Enright bis Rebecca Solnit, die etwa die Konsequenz der neuen Rechtslage so umreißt: " Sie wollen, dass Frauen leiden, sie wollen sie in Gefahr, Angst und Machtlosigkeit leben lassen und gelegentlich sterben."

Magazinrundschau vom 05.07.2022 - London Review of Books

In einem ellenlangen Report berichtet Zain Samir von der miserablen Lage in Afghanistan, wo sich nach dem Abzug der westlichen Streitkräfte und der Machtübernahme der Taliban religiöser Dogmatismus, Korruption, Armut und Opiumhandel zu einer allumfassenden Trostlosigkeit verbinden: "In Kandahar sitzen Frauen in verblichenen Burkas am Straßenrand und springen auf, wenn sie einen Pickup mit Taliban an sich vorbeifahren sehen. Die Frauen rennen den Lastwagen hinterher, in der Hoffnung, dass sie Nahrungsmittelhilfe verteilen. Auch die Männer stehen Schlange, um Taliban-Hilfsgüter zu erhalten. Die meisten von ihnen sind ehemalige Farmpächter, die durch Dürre und Krieg von ihrem Land vertrieben wurden. Im Hauptkrankenhaus von Kandahar sagte mir ein Arzt, dass sich die Zahl der Kinder, die an akuter Unterernährung leiden, im letzten Jahr mehr als verdoppelt hat. 'Wir päppeln sie auf, es geht ihnen etwas besser, ihre Mütter bringen sie zurück in ihre Dörfer und ein paar Wochen später sind sie wieder da.' Die Mütter bekämen zwar Lebensmittelpakete für ihre Kinder, aber das reiche nie aus, weil sie keine andere Wahl hätten, als die Rationen auf alle ihre Kinder, ob krank oder gesund, aufzuteilen. In jedem Krankenhausbett liegen drei, manchmal vier Kinder, winzige Skelette mit freiliegenden Rippen und aufgeblähten Mägen. Es gibt kaum einen Größenunterschied zwischen fünfjährigen Kindern aus dem Panjwayi-Distrikt außerhalb von Kandahar und zweijährigen Kindern aus Helmand. Die Zahlen sind furchtbar: Unicef schätzt, dass zwei Millionen afghanische Kinder wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen. In einem Land, in dem 97 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, ist dies eine Krise, die nicht leicht zu lösen sein wird."
Stichwörter: Afghanistan, Taliban