Magazinrundschau - Archiv

London Review of Books

514 Presseschau-Absätze - Seite 4 von 52

Magazinrundschau vom 21.03.2023 - London Review of Books

Sehr schön schreibt Ian Penman über Charles Baudelaire, dessen Poesie jeden feingeistigen Jugendlichen betört, auch wenn er - anders als der ewig junge Rimbaud - nie das Bild eines queeren Pans abgab, sondern zart, sinnlich und grob zugleich, das eines "frühgealterten Dandy mit Wasserschaden": "Seit fünfzig Jahren ist Baudelaire Teil meines Lebens. Er gehört nicht zu den Figuren, die in der Jugend wie verrückt verehrt und später als peinlich abgetan werden. Er verblasst eher wie alte Tinte und ist dann plötzlich wieder da und spricht weiter. Offensichtlich ist ein gewisses hypnotisches Stehvermögen im Spiel. In meiner Jugend gehörte er zur Pflichtlektüre. Ich sehe noch die Penguin-Anthologie von Mitte der 1970er Jahre vor mir, die ich wie einen Talisman mit mir herumtrug: parallel englische und französische Texte, auf dem Cover Carlos Schwabes Gemälde 'Spleen et Idéal'. OK, ich gestehe: Ich stand auf den Baudelaire-Mythos, obwohl ich die Poesie nie ganz verstanden habe. Ich erinnere mich, dass mich das ganze 'Oh Muse!'-Gesäusel abschreckte, das mehr Dachbodenmuff als Großstadtneon verströmte. Er wurde zum ersten Modernisten erklärt, aber er fühlte sich nicht so 'modern' an wie Rilke, Jarry oder Apollinaire. (Ganz zu schweigen von anderen Teenie-Darlings wie Charlie Parker und William Burroughs, Frank O'Hara und Andy Warhol). Er fühlte sich wie ein wahrer Dichter an, der in den Windungen von Kirche und Satan, Bösem und Schönem, Sünde und Verdammnis ringt. Was für einen mürrischen, halbkatholischen Heranwachsenden weiß Gott durchaus seinen Reiz hatte. Aber Baudelaire, der Dichter, schien eher der Ära eines Napoleons zu Pferde anzugehören als den Futuristen in Flugzeugen oder den Blues-Musikern, die den Greyhound-Bus nehmen. Erst in jüngster Zeit, dank des Chansonniers Léo Ferré (der Baudelaire-Vertonungen drei Alben gewidmet hat), macht die Poesie endlich Sinn, als etwas, das laut deklamiert wird. Liest man sie als trockenes englisches Gedicht auf dem Papier, wird sie nur schwer lebendig. Gehört als eine Störung in der Luft, ist sie verführerisch und schwindelerregend. Das wollüstige Lied eines säuerlichen Romantikers."

Und hier kann man Ferré hören:

Stichwörter: Baudelaire, Charles, Queer

Magazinrundschau vom 14.03.2023 - London Review of Books

Dirigieren ist Macht: Der maestro kristallisiert die für ihn stimmende Bedeutung der Musik, ihre Essenz, heraus und hält die Fäden der Interpretation in der Hand, lernt Nicolas Spice nicht nur von Tár, bei den Oscars am Wochenende leer ausgegangen, sondern auch von den Erfahrungen der britischen Dirigentin Alice Farnham, "In Good Hands", und Wagners neu ins Englische übersetzten Essays übers Dirigieren: Den Löwenanteil der Arbeit erbringen die Instrumentalisten, die eigentlich wissen, dass sie auch ohne Leitung gute Ergebnisse erzielen können. Diese heimst aber letzten Endes die Lorbeeren ein. Ein feines Balancieren zwischen Macht und Ohnmacht zeichnet diese Rolle aus: "Gegenüber einer Gruppe der besten Musiker der Welt hat man nur einen kleinen Rahmen, innerhalb dessen man sich ihren Respekt verschaffen kann. Über der ersten Probe steht immer die Frage: 'Was denkst du, wer du bist?' Man muss zeigen, dass das eigene Gehör überragend ist, dass die Einsichten apart und profiliert sind, dass der Rhythmus stimmt, dass man in der Lage ist, musikalisch aufsehenerregende Resultate in kürzester Probenzeit aus komplexen Stücken herauszuholen. Man sollte nur dann sprechen, wenn man wirklich etwas zu sagen hast (einem berühmten Dirigenten, neu bei den Wiener Philharmonikern, wurde gesagt 'jedes Wort ist ein Nagel in deinem Sarg'), und alles, was man sagt, muss schon an der Gestik abzulesen sein."

John Lanchester liest Chris Millers Geschichte des Mikrochips und ihm eröffnet sich damit eine Erzählung von sublimer Technologie und ökonomischer Kriegsführung: Nur eine niederländische Firma, ASML, beherrscht überhaupt das Verfahren, Silizium mithilfe ultravioletter Lithografie auf die Chips zu ätzen, nur Intel, TSCM und Samsung können Hochleistungschips herstellen. Das von Präsident Joe Biden verhängte Exportverbot trifft China hart, denn einen Kalten Krieg haben die USA mithilfe der Mikrochips schon gewonnen: "Die Sowjetunion verfügte über mehr Männer und Material, so dass die USA sich darauf verlegten, diese Vorteile durch überlegene Technologie auszugleichen: Sie haben mehr Männer und mehr Material, aber unsere Waffen treffen das Ziel - das war die Idee, und das erste Mal konnte man sie im Golfkrieg 1991 in der Praxis sehen. Dieser erste erstaunliche Schwall von Bomben und Marschflugkörpern beim Angriff auf Bagdad, den niemand, der ihn live im Fernsehen verfolgt hat, je vergessen wird, beruhte auf einer enormen technologischen Überlegenheit, die wiederum auf dem allgegenwärtigen Mikrochip beruhte. Wie Miller es ausdrückt, 'war der Kalte Krieg vorbei; das Silicon Valley hatte gewonnen'. Das wäre nicht passiert, wenn die Sowjetunion in der Lage gewesen wäre, mit der amerikanischen Chipproduktion gleichzuziehen. Dass ihr dies nicht gelang, lag zum Teil daran, dass die Sowjetunion seit William Shockleys erstem Durchbruch auf Industriespionage angewiesen war, um mit den USA Schritt zu halten. Eine ganze Abteilung des KGB war auf das Stehlen und Kopieren von US-Chips spezialisiert. Das Problem war, dass die Fortschritte in der Mikrochip-Industrie so rasant waren, dass man, wenn man einen bestehenden Chip erfolgreich kopiert hatte, weit hinter dem Stand der Technik zurücklag. Gordon Moore hatte vorausgesagt, dass sich die Leistung von Chips alle achtzehn Monate verdoppeln oder ihr Preis halbieren würde, und obwohl es sich dabei nicht um ein Gesetz, sondern um eine Vorhersage handelte, bewahrheitete sie sich. Das Mooresche Gesetz verlieh der Chipindustrie einen besonderen Charakter. Nichts anderes, was die Menschheit je erfunden oder geschaffen hat, verdoppelt seine Leistung kontinuierlich alle achtzehn Monate. Dies war das Ergebnis eines unerbittlichen, fanatischen technischen Einfallsreichtums." Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg brauchten die USA noch 638 Bomben, um die Thanh-Hoa-Brücke einmal zu treffen.

Magazinrundschau vom 07.03.2023 - London Review of Books

Nach der unverhohlen fingierten Wahl von Bola Ahmed Tinubu zum neuen Präsidenten von Nigeria macht sich Adewale Maja-Pearce wenig Hoffnung für die Zukunft des Landes, das jetzt von einem Schurken regiert werde, wie Maja-Pearce erklärt: "Tinubu behauptet, ein Nachfahre des erfolgreichsten einheimischen Sklavenhändlers im Lagos des 19. Jahrhunderts zu sein, nach dem ein prominenter Platz in der Innenstadt benannt ist (es sagt etwas über unser verzerrtes Geschichtsbewusstsein aus, dass noch niemand vorgeschlagen hat, ihn umzubenennen). Er behauptet auch, siebzig Jahre alt zu sein, und doch feierte sein erstes Kind, Folasade, vor zwei Jahren ihren sechzigsten Geburtstag mit dem ganzen Trara eines selbstbewussten Yoruba-Chiefs (Heute behauptet sie, 46 Jahre alt zu sein; ihre Wikipedia-Seite wurde seither mindestens dreimal geändert) ... Wir wissen allerdings, dass er eine Menge Geld hat, das meiste davon aus seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Lagos. Zu seinem Vermögen gehört ein fabelhaftes Immobilienportfolio - er dürfte nach der Bundesregierung der größte Grundbesitzer des Landes sein -, aber auch der Anteil von zehn Prozent an allen Steuereinnahmen von Lagos, die von einem Unternehmen, Alpha Beta Consulting, erhoben werden, das bei seinem Amtsantritt 1999 registriert wurde. Obwohl er 2007 nach den obligatorischen zwei Amtszeiten aus dem Amt schied, hat ihm das Unternehmen im Jahr 2021 schätzungsweise 176 Millionen Dollar eingebracht."
Stichwörter: Nigeria, Innenstadt

Magazinrundschau vom 28.02.2023 - London Review of Books

Als William Davies aufhörte zu twittern, dachte er zunächst, ihm ginge etwas verloren. Jetzt fühlt er sich eher wie ein glücklicher Aussteiger. Denn inzwischen lebt eine ganze Ökonomie davon, permanent Reaktionen zu provozieren, zu messen und für sich zu nutzen, egal ob Soziale Netzwerke, Influencer oder Onlinehändler. In der Reaktionsökonomie spielt die Autonomie des menschlichen Geistes keine Rolle mehr, fürchtet Davies: "Als Akademiker weiß ich nur zu gut, welche Mühen die Universitäten auf sich nehmen, um ihre Studenten dazu zu bringen, im Rahmen der nationalen Studentenumfrage Feedback zu geben. Negative Rückmeldungen sind natürlich ein Grund zur Sorge, aber die eigentliche Angst ist, dass die Studenten überhaupt nicht an der Umfrage teilnehmen: Wenn eine Universitätsabteilung die Mindestschwelle nicht erreicht, wird sie aus den Ranglisten verschwinden. In ähnlicher Weise besteht die Angst der Online-Influencer nicht vor negativen Reaktionen, sondern darin, dass das 'Engagement' sinkt. In einem kybernetischen Kontext ist die Person oder Organisation, die kein Feedback erhält, nicht mehr in der Lage, sich zu verändern oder weiterzuentwickeln. Sie ist im Grunde tot. Der Begriff 'Kybernetik' leitet sich vom griechischen kybernetes ab, dem Steuermann eines Schiffes. Die Kybernetiker beschäftigt, wie komplexe Systeme -  Gehirne, Organisationen, Insektenschwärme oder Computernetze - unter Kontrolle gebracht werden. Wenn man das herausgefunden hat, stellt sich die Frage, wie sie auf ein bestimmtes Ziel hin gelenkt werden können. Für Kybernetiker ist Feedback die Information, die dem Steuermann sagt, wie er sein Verhalten in einer bestimmten Weise anpassen muss, um sein Ziel besser zu erreichen. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass wir uns in unserer verzweifelten Jagd nach Feedback und unserem Bedürfnis, anderen Feedback zu geben, in Richtungen lenken lassen, denen wir nicht zugestimmt haben und die wir vielleicht auch nicht wollen. Dies erinnert an die Ängste vor Werbung, PR und Propaganda aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass wir uns heute, im Zeitalter der Reaktionsketten, zu Kontroversen, absurden öffentlichen Spektakeln, endlos mutierenden Memen, Trollen und so weiter hingezogen fühlen. Bei diesen Feedback-Duschen liegt der Reiz in der schieren Menge an Reaktionen, die in Umlauf gebracht werden. Rückkopplungsmechanismen, die von den Kybernetikern als Instrumente zur Erreichung von Autonomie und zur Erleichterung der Navigation angesehen wurden, erweisen sich als Falle."

Weiteres: James Butler untersucht die Krise im britischen Pflegesystem, das in zehn Jahren Austeritätspolitik, Privatisierung und Kapitalabfluss heruntergewirtschaftet wurde.
Stichwörter: Soziale Medien, Influencer

Magazinrundschau vom 14.02.2023 - London Review of Books

Ein langes Porträt widmet der Historiker Adam Shatz dem abenteuerlich-turbulenten Leben des großen Passfälschers Adolpho Kaminsky, das allzu oft auf seine Fälschertätigkeiten zu Zeiten der Résistance reduziert werde, wie Schatz bedauert. Er macht es dann auch anders und geht - von Algerien über Lateinamerika bis zu Daniel Cohn-Bendit - die verschiedenen Stationen ab, an denen Kaminsky Freiheits- und Oppositionsbewegungen unterstützt hat. Dabei lehnte er es ab, sich für Aktionen gegen Zivilisten vereinnahmen zu lassen, wie Shatz betont, der Kaminskys kompromisslos humanistisches Engagement hochhält: "Als sein Fälschungstalent unter den Gruppierungen der Résistance zunehmend die Runde macht, nimmt seine Werkstatt in der Rue des Saints-Pères bis zu fünfhundert Aufträge die Woche an, aus Paris, aus der freien Zone im Süden Frankreichs, aus London. In einem besonderen Fall berichtet sein Mitstreiter Marc Hamon, alias Pinguin, davon, dass eine Razzia jüdischer Häuser unmittelbar bevorsteht und innerhalb von drei Tagen Papiere für dreihundert jüdische Kinder benötigt werden. Insgesamt neunhundert Dokumente, es scheint unmöglich. Aber Kaminsky rechnet aus, dass er dreißig Dokumente die Stunde anfertigen kann und weigert sich zu schlafen, bis er sie alle fertig gestellt hat: Nur eine Stunde Schlaf, überlegt er, bedeutet für dreißig Menschen den Tod. Einer seiner Kollegen erinnert ihn: 'Wir brauchen einen Fälscher, Adolpho, keinen weiteren Toten.'"

Literaturtheoretiker Terry Eagleton denkt in einer Rezension von Peter Brooks' "Seduced by Story: The Use and Abuse of Narrative" über den Begriff des Narrativen und die Narration als grundlegende Struktur nach. Eagleton stört sich an der Verwässerung des Begriffs, der in viele Disziplinen und auch in den Alltagsgebrauch eingezogen ist. Und Brooks traue dem Konzept auch viel zu viel zu: "Brooks' zufolge ist eine der wertvollsten Funktionen fiktionaler Narrative, dass sie Mitgefühl mit anderen erzeugen können. Mit unserer Vorstellungskraft könnten wir unser Erleben auf Menschen projizieren, die uns ansonsten undurchschaubar blieben und die Literatur könne uns zeigen, wie das geht. Fiktionalität sei das Gegengift zum Egoismus, sie lasse uns die Welt mit fremden Augen sehen. Im echten Leben ist unsere vermeintliche Unergründlichkeit für Andere damit aber überschätzt. Wir sind sprachlich-kommunikative Wesen, wir können mittels der Sprache jederzeit Einblicke in uns fremde innere Empfindungen erhalten."

Weiteres: James Wolcott verfolgt mit Andrew Kritzman die Zersetzung des Rudy Giuliani. Bee Wilson sieht Paul Newman in die blauen Augen.

Magazinrundschau vom 31.01.2023 - London Review of Books

Nach drei Staatsstreichen scheint Mali unregierbar geworden zu sein. Die Militärjunta dient sich Russland an und verhöhnt den Westen. Rahmane Idrissa will das westafrikanische Land dennoch nicht aufgeben: "So wie die Verherrlichung der malischen Demokratie durch den Westen übertrieben war, so könnte es auch die derzeitige Enttäuschung darüber sein", meint er. "2021 führte das Büros des Niederländischen Instituts für Mehrparteiendemokratie in Bamako eine anspruchsvolle landesweite Umfrage durch und schloss dabei auch viele von Dschihadisten kontrollierte Gebiete ein, um die Einstellungen zur Demokratie zu untersuchen. Ich bekam eine Zusammenfassung der Ergebnisse. In der Umfrage wird Mali in 'Kulturregionen' unterteilt, definiert durch Geschichte und Geografie - ein besseres Modell als ethnische Zugehörigkeit. In jeder Region stellte das Institut eine weit verbreitete Abneigung gegen die repräsentative Demokratie und ihr Prinzip 'ein Mensch, eine Stimme' fest. Mein erster Gedanke war, dass sich hier eine reaktionäre Ansicht zeigte, die auf dem Glauben beruhte, dass einige Stimmen mehr zählen sollten als andere. Doch tatsächlich ergibt 'ein Mensch, eine Stimme' für Malier keinen Sinn, weil damit der Glaube einhergeht, dass die Mehrheitsmeinung der einzige Weg ist, in einer komplexen, heterogenen Gesellschaft über schwierige Fragen der Gerechtigkeit und Macht zu entscheiden. Der Grundsatz der Gerechtigkeit in den alten Sahel-Regimen, auch wenn er oft genug verletzt wird, lautet, dass jeder etwas bekommen muss und niemand mit leeren Händen dastehen darf. Die hartnäckigste Kritik an der Wahldemokratie in der Region - nicht nur in Mali, sondern auch in Niger und Burkina - besteht darin, dass sie zu Ausgrenzung führt und die Unterlegenen von jeglicher Teilhabe an Wohltaten oder den Entscheidungen ausschließt, während die Gewinner sich über den Sieg von 'notre régime, notre pouvoir' freuen. Im Westen sind die Herrschaft der Mehrheit und das Ritual des gnädigen Eingestehens der Niederlage Teil der politischen Kultur (oder waren es früher). Für die Menschen im Sahel sind sie ein Rezept für Konflikt und Spaltung."

Ausführlich beschäftigt sich Jonathan Rée mit Leben und Denken des Erzliberalen Friedrich Hayek, dem Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger eine zweiteilige und offenbar sehr instruktive Biografie widmen. Am Ende seines Lebens habe der verbitterte Hayek Reagan, Thatcher und Pinochet nahegestanden, räumt Rée ein, aber er sei nie so ein Fundamentalist des Marktes gewesen wie Ludwig Mises oder Milton Friedman, das hätten schon seine frühen britischen Gegner in den vierziger Jahren falsch eingeschätzt: "'Der Weg zur Knechtschaft' wurde nicht von vielen gelesen, aber seine schärfsten Argumente - dass Sozialisten besessen seien von 'zentraler Lenkung aller wirtschaftlichen Aktivitäten nach einem einzigen Plan' und dass sie 'Totalitaristen' seien, die die liberalen Grundlagen der 'westlichen Zivilisation' zerstören wollten - waren bald berüchtigt, und sein Autor ('der schreckliche Dr. Hayek', wie Isaiah Berlin ihn nannte) wurde weithin als Verletzung eines wohlmeinenden nationalen Konsenses angesehen. George Orwell lobte Hayek für den Mut, 'unmodisch' zu sein, zeigte sich aber ansonsten unbeeindruckt. Wir wissen bereits, so Orwell, dass der Kollektivismus nicht von Natur aus demokratisch ist'; aber wir wüssten auch, dass der Laissez-faire-Kapitalismus 'eine Tyrannei beinhaltet, die wahrscheinlich schlimmer, weil unverantwortlicher ist als die des Staates'. Hätte Orwell den 'Weg zur Knechtschaft' genauer gelesen, hätte er vielleicht mehr Sympathien gehabt. Ihm wäre in erster Linie aufgefallen, dass Hayek ein 'dogmatisches Laissez-faire' ablehnt... Er hätte sicherlich auch Hayeks Unterstützung für staatliche Interventionen begrüßt, die darauf abzielen, 'Mobilität' zu fördern, 'Chancenungleichheit' zu verringern und sogar 'Wissen und Information' zu verbreiten. Orwell hätte vielleicht auch anerkannt, dass Hayek darauf achtete, seine sozialistischen Gegner mit gewissenhafter Höflichkeit anzusprechen, indem er nicht von Bosheit oder Torheit sprach, sondern von der 'Tragödie', die einträte, wenn wir 'unwissentlich das genaue Gegenteil von dem produzieren, was wir anstreben'. (Der Sozialismus, sagte er, 'kann nur mit Methoden verwirklicht werden, die die meisten Sozialisten missbilligen'). Hayek machte auch die bemerkenswerte Beobachtung, dass ein Land, das sich den Sozialismus zu eigen macht, zumindest in dem Maße, in dem es all seinen Bürgern das Recht auf einen komfortablen 'Lebensstandard' einräumt, wahrscheinlich einem fremdenfeindlichen Nationalismus erliegt."

Magazinrundschau vom 17.01.2023 - London Review of Books

Deborah Friedell liest zwei Bücher über die amerikanische Starreporterin Dorothy Thompsons, die als eiserne Nazi-Gegnerin Hitler interviewte und jahrelang den Kriegseintritt der USA propagagierte, um am Ende ihre Sympathien für Deutschland zu entdecken und ihren Aversionen gegen Juden freien Lauf zu lassen - "wie ein gestrandetes Schiff, wenn die Wasser zurückgegangen sind". Doch 1934 war sie die berühmteste, meistgelesene - dank ihrer Kolumne für die Herald Tribune, die weltweit lizensiert wurde - Hitlergegnerin in der englischsprachigen Presse: "Diejenigen, die anderer Meinung waren als sie, waren 'Schwachköpfe', 'Feiglinge' und 'Strauße', 'Architekten des Zynismus', 'die Angst haben, aufzuwachen und zu leben'. Besonders verärgert war sie über den Nationalhelden Charles Lindbergh. Er war ihr 'lieb und teuer' gewesen, als er im Alleingang von New York nach Paris geflogen war; aber er hatte sich an die Spitze von Kundgebungen gesetzt, um das Neutralitätsgesetz gegen die 'britische und die jüdische Rasse' zu verteidigen, die 'unser Land in den Untergang führen' würden. Er war der von Thompson am meisten gefürchtete Amerikaner, 'Amerikas Sorgenkind Nummer eins', der schöne Mann, der, da war sie sich sicher, 'Amerikas Führer' werden wollte (wie er es in Philip Roths Roman 'Das Komplott gegen Amerika' tut). Seine Fans beschuldigten Thompson der Hysterie - die Angriffe gegen sie waren fast immer sexistisch. Eine Bemerkung (die Alice Roosevelt Longworth zugeschrieben wird) lautete, Thompson sei die 'einzige Frau in der Geschichte, die ihre Menopause in der Öffentlichkeit hat und dafür bezahlt wird'. Sie erhielt so viel Post, viele davon Hassbriefe, dass sie ihr mit speziellen Lastwagen zugestellt werden mussten; drei Sekretärinnen, die alle Madeline hießen, halfen ihr beim Sortieren der Briefe und übergaben die bedrohlichsten an das FBI. Vor dem Weißen Haus versuchte eine Gruppe von Frauen, sie symbolisch zu erhängen: Sie sagten, sie seien alle Mütter, und Thompson wolle 'das Leben von einer Million Jungen in Blut und Schmerz opfern'. Senatoren aus Idaho, Montana und North Dakota forderten, gegen sie als 'britische Agentin' zu ermitteln. Wie sonst lasse sich ihre Bemerkung während der Schlacht um Britannien erklären, dass 'wenn die Demokratie in Großbritannien untergeht, dann nicht, weil das britische Volk Hitler nicht mit allem, was es hatte, bekämpft hat, sondern weil ... die größte Demokratie und die größte freie Nation der Welt zugelassen hat, dass sie ohne angemessene Hilfe untergeht'?"

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - London Review of Books

Der Historiker Michael Dillon, gerade als Gastprofessor an der Pekinger Tsinghua Universität, ist nach Xinjiang gereist, um sich ein Bild von der Lage der Uiguren zu machen. Weit ist er natürlich nicht gekommen, immerhin hat er bei einer Übernachtung in einem Gasthaus Bekanntschaft mit den Bingtuan gemacht, den traditionellen Vorposten des chinesischen Reiches: "Es war die schlechteste Unterkunft, die ich je in China erlebt habe, aber besser, als auf der Straße zu schlafen. Am Abend versammelten sich die Bingtuan-Familien um den Kang, die beheizte Liegefläche, auf der sich die Chinesen im Norden traditionell aufhalten. Sie sprachen Mandarin, es war schwierig, den ethnischen Hintergrund der Menschen zu erkennen. Wenige, wenn überhaupt welche waren Uiguren, die meisten waren Han-Chinesen, einige junge Frauen trugen das typische Kopftuch der muslimischen Hui aus Ningxia und Gansu. Auf dem Kang stand der Holzgrill für die Kebabs, zu denen es Xinjiang-Bier in Flaschen gab. Die Unterhaltung drehte sich um die Erfolge der aktuellen Ernte. Die Atmosphäre erinnert an die landwirtschaftlichen Genossenschaften oder Staatsbetriebe der fünfziger Jahre, ein Eindruck, der sich um fünf Uh am nächsten Morgen bestätigen sollte, als sich die Bingtuan -Bauern an die Arbeit auf den Feldern und in den Fabriken machten. Die Bingtuan sind die Erben einer Tradition der Grenzwachen, die bis zur Ming-Dynastie (1368-1644) zurückverfolgt werden kann. Die Bauern stellen auch die Milizen, die zur Unterstützung von Polizei und Militär gerufen werden und die den Ruf erworben haben, die Uiguren rücksichtslos zu unterdrücken. Die Bingtuan betreiben parallel zum staatlichen System ihre eigenen Gefängnisse in Xinjiang."

Weiteres: James Meek besucht für eine seiner Riesenreportagen Boston in Lincolnshire, das recht idyllisch an der englischen Ostküste gelegen sein könnte, wenn es nicht alle Jubeljahre von heftigen Sturmfluten heimgesucht würde. Die Gemeinde lässt dennoch immer weiter bauen und treibt ihre Stadtplaner damit an den Rand des Wahnsinns. Und Tim Parks liest Alessandro Manzonis Klassiker "Die Brautleute".

Magazinrundschau vom 13.12.2022 - London Review of Books

Die Politikwissenschaftlerin Laleh Khalili, die selbst nach dem Studium bei Andersen Cosulting gearbeitet hat, kann den heuchlerisch hochtrabenden Duktus von Unternehmensberatungen nicht mehr hören. Es geht ihnen immer nur darum, im Interesse der Kapitalgeber die Arbeiter, Gewerkschaften und Regulierungen auszuschalten, meint sie. Besonders gern bereicherten sie sich an Aufträgen für Grenzbehörden, Bananenrepubliken und Streitkräfte, am schamlosesten in Saudi-Arabien: "McKinsey, Boston Consulting und Booz Allen Hamilton haben sich mit Mohammed bin Salman verbündet, der die Macht in Saudi-Arabien an sich riss, als sein Vater 2015 König wurde. Die Arbeit von Booz Allen im Königreich geht allerdings seinem Aufstieg voraus. Im Jahr 2012 entsandte die amerikanische Regierung das Unternehmen dorthin, um die saudische Marine aufzubauen und auszubilden. Das Unternehmen hat auch einen Vertrag über die Ausbildung der saudi-arabischen Cyber-Mitarbeiter, insbesondere im Bereich 'Informationsoperationen'. McKinsey und Boston Consulting haben den Kronprinzen mit dem Jargon der kapitalistischen Effizienz vertraut gemacht. McKinsey war auch für einen Bericht über das geringe öffentliche Ansehen von bin Salmans Politik verantwortlich, in dem detaillierte Profile von Kritikern zusammen mit deren Fotos veröffentlicht wurden." Viele von ihnen wurden verhaftet oder - wie Dschamal Kashoggi - umgebracht. ... Die Krönung von bin Salmans Vision ist Neom, eine futuristische Stadt, die nahe der jordanischen Grenze im Nordwesten Saudi-Arabiens gebaut wird. In der nicht-fantastischen Welt ist Neom eine unerschöpfliche Ressource für ausländische Berater. In der Fantasiewelt beinhalten die von McKinsey, Boston Consulting und Oliver Wyman entworfenen Neom-Pläne fliegende Autos, Roboter-Mädchen, Hologramm-Lehrer, einen riesigen künstlichen Mond, leuchtenden Strandsand und eine medizinische Einrichtung, deren Ziel es ist, 'das menschliche Genom zu verändern, um die Menschen stärker zu machen'. Ganz zu schweigen von der Line, einem 105 Meilen langen Gebäudekomplex, der neun Millionen Menschen beherbergen soll. Das Marketingmaterial spricht von einer 'Revolution der Zivilisation'. Bei vielen der versprochenen Funktionen geht es darum, den normalen Menschen aus der sozialen Gleichung herauszunehmen. Robotische Dienstmädchen und selbstfliegende Taxis werden keine Gewerkschaft gründen, und Hologramm-Lehrer werden Kindern keine revolutionären Ideen vermitteln."

Magazinrundschau vom 29.11.2022 - London Review of Books

Die USA sind nicht nur politisch ein gespaltenes Land, sondern auch ökonomisch, stellt Adam Schatz fest. Einige profitieren recht direkt davon, andere eher indirekt, dafür besonders schamlos: "Im vergangenen Juni stellte der Berggruen Governance Index fest, dass die USA seit 2000 einen 'relativ starken Rückgang' sowohl in der 'Qualität der Demokratie' als auch bei der 'Qualität der Regierung' zu verzeichnen hätten. Donald Trump hat diesen Niedergang nicht verursacht, aber er hat ihn ausgenutzt, um die Präsidentschaft zu gewinnen, und ihn während seiner Amtszeit beschleunigt. ... Im letzten Jahrzehnt hat die Polarisierung auf allen Ebenen der Gesellschaft zugenommen. In einer kürzlich erschienenen Studie für die Carnegie Stiftung for International Peace heißt es: 'Die Vereinigten Staaten stellen einen besonders besorgniserregenden Fall dar, da sie die einzige fortgeschrittene westliche Demokratie sind, die über einen so langen Zeitraum ein so hohes Maß an Polarisierung erlebt.' In seiner Polarisierung ähnele Amerika, so heißt es weiter, 'eher jüngeren, weniger wohlhabenden und stark gespaltenen Demokratien und Wahlautokratien als gefestigten demokratischen Gegenparts'. Die dunklen, anarchischen Energien, die einst auf das Talkradio und die Online-Altrighters beschränkt waren - unverschämter Rassismus, Antisemitismus, die Theorie des 'großen Austauschs' - haben inzwischen den politischen Mainstream überflutet... Die Soziologin Arlie Hochschild hat darauf hingewiesen, dass rote und blaue Staaten zunehmend zwei unterschiedliche Wirtschaftssysteme darstellen, und die Kluft zwischen ihnen ist nur noch größer geworden. Weiße Männer, die in republikanischen Bezirken leben, verdienen weniger und haben eine höhere Sterberate als weiße Männer in demokratischen Bezirken. Arme weiße Amerikaner auf dem Land blicken auch weniger optimistisch in die Zukunft als ebenso arme schwarze oder lateinamerikanische Amerikaner, was sie zu einer leichten Beute für das gemacht hat, was Mike Davis in einem seiner letzten Interviews als 'Todeskult' der Republikaner bezeichnete."

Besprochen werden T.J. Clarks Cezanne-Buch "If Theses Apples Should Fall" und Andrew Roberts Biografie von Lord Northcliffe, dem Gründer der Daily Mail, dessen Grundsatz lautete: "Drei Dinge taugen immer als Nachricht: Gesundheit, Geld und Sex".