Magazinrundschau - Archiv

Gazeta Wyborcza

171 Presseschau-Absätze - Seite 5 von 18

Magazinrundschau vom 11.12.2007 - Gazeta Wyborcza

Der Stalinismus stirbt, jetzt auch in Nordkorea. Die fortschreitende Korrumpierung von Funktionären und der - meist von Frauen betriebene - Schwarzmarkt-Kleinkapitalismus, sind Anzeichen einer heimlichen ökonomischen Liberalisierung des Landes, meint im Interview Nordkorea-Experte Andrej Lankow. Ein Vereinigungsszenario wie in Deutschland sieht er jedoch skeptisch: "Die DDR war nur zweimal ärmer als die BRD, und Nordkorea ist 15 bis 30 mal ärmer als der Süden. Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde genau beobachtet, und man hat davon Abstand genommen. Aus menschlicher Perspektive ist das kaum verwunderlich - die Südkoreaner kaufen alle fünf Jahre ein neues Auto, fahren jährlich in den Urlaub. Warum sollten sie das alles aufgeben, wegen der Trottel aus dem Norden?"

Eine Woche nach den "Wahlen" in Russland spielt die populäre, kremlfreundliche Band Lube in Warschau. Was wissen die Polen überhaupt von der Populärmusik aus dem Osten?, fragt sich Robert Sankowski. "Nachdem wir jahrelang die verordnete Freundschaft mit der UdSSR abgeschüttelt haben, wenden wir uns Russland langsam wieder zu. Man liest junge russische Literatur, hin und wieder schafft es ein Film in die Kinos. Viel zögerlicher geht es mit der Rockmusik. Gäbe es nicht das Internet, wäre es heute in Polen genauso schwierig, an russische CDs zu kommen wie vor zwanzig Jahren an Undergroundmusik aus New York oder London." Trotz aller Freude über den Auftritt gibt Sankowski zu: statt der Putin-Lieblinge Lube hätte er viel lieber einen Auftritt der Ska-Punk-Band Leningrad gesehen.

Magazinrundschau vom 04.12.2007 - Gazeta Wyborcza

"Das Seltsame an den Parlamentswahlen in Russland ist nicht, dass man von vornherein weiß, wer gewinnt. Das ist schon Tradition in diesem Land. Diesmal aber wussten die Russen nur, wem sie ihre Stimme geben, nicht, was sie wählen. Das ist das größte Geheimnis ihres Anführers und einiger engster Freunde", schreibt Waclaw Radziwinowicz. Die von Putin selbst als bedeutungslos bezeichnete Partei "Einiges Russland" und die teilweise lächerlich anmutende Parteienlandschaft verraten aber eines über den psychischen Zustand der Machthaber: "Sie haben keine Angst vor den Demokraten oder Demonstrationen. Sie haben keine Angst vor einem Sieg Garri Kasparows bei den Präsidentschaftswahlen im März. Sie haben Angst vor der 'Smuta' "- den Wirren des Kampfs um die Macht.

Magazinrundschau vom 27.11.2007 - Gazeta Wyborcza

Immer nur wegen der Politik rumjammern ist sinnlos, konstatiert der spanische Schriftsteller Fernando Savater, und hat dehalb eine eigene Partei, die Union Progreso y Democracia, gegründet. "Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit Philosophie, Vorlesungen, Bücher schreiben befasst. Dann sagte ich mir: ich möchte nicht nur Zuschauer sein, der schlechte Schauspieler beklatscht. In der Demokratie sind wir, die Zuschauer, gleichzeitig die Schauspieler", erklärt Savater im Interview. Auf die Frage aber, ob er sich selbst, den Philosophen, in der Rolle des aufgeklärten Herrschers sieht, wehrt er ab: "Nein, nein, niemals! Vielleicht kenne ich Platon zu gut. Ich habe eine Partei mit aufgebaut, ich bleibe als Beobachter am Rand."

Besprochen wird die Ausstellung "Seduced: Art and Sex from Antiquity to Now" im Londoner Kunstzentrum Barbican. "Wenn man mehrere hundert Kunstwerke gesichtet hat - von antiken Skulpturen bis zu zeitgenössischen Fotografien, auf denen Pornostars zu sehen sind - muss man feststellen, dass das Set an Emotionen, die mit Sex verbunden sind, immer gleich bleibt: Verlangen, Scham, Abscheu, Freude." Ob etwas Pornografie oder Kunst ist, hängt dabei allein vom Kontext ab: "Würde man die antike Statue eines nackten Titanen in einem Sex-Shop aufstellen, gälte sie als Pornografie, nicht als Kunst", sagt der Kurator Martin Kemp im Gespräch.

Magazinrundschau vom 20.11.2007 - Gazeta Wyborcza

Diskussionen über Werte und Moral gehören zur Demokratie, und ein Kompromiss ist nicht immer möglich, konstatiert im Interview der amerikanische Philosoph Michael Sandel. "Keine Gesellschaft ist im Stande, in moralischen Fragen Einigkeit zu erzielen. In der Demokratie gibt die Meinung der Mehrheit den Ausschlag, aber in einer offenen Debatte muss diese Mehrheit die moralischen oder religiösen Anschauungen anderer ernst nehmen. Wichtig ist, dass das System offen bleibt." Sandel geht von der Unvereinbarkeit gegensätzlicher Moralvorstellungen zum Beispiel in der Abtreibungsdebatte aus. Hier versuchen einige Politiker, "weltanschauliche Neutralität vorzutäuschen, statt von Werten überhaupt zu sprechen. So zu tun, als ob reale Unterschiede und Konflikte nicht existierten, ist oft schlimmer als eine freie und offene Debatte."

Was ist den jugoslawischen Gastarbeitern geblieben? fragt Dubravka Ugresic. Und antwortet selbst: "Nichts. Geld, das sinnlos ausgegeben wurde für protzige Grabmäler, Häuser, die im Bürgerkrieg zerstört wurden und Autos. Das war das einzige, womit sie ihr gedemütigtes Ego beruhigen konnten. Sie waren Diener in Ländern, die sie nie als eigene akzeptiert haben, und sie waren Diener im ehemaligen Jugoslawien, wo sie als erste nationalistischen Anführern aus Serbien. Bosnien und Kroatien nachliefen."

Außerdem: Juliusz Kurkiewicz zeichnet ein längeres Porträt des Journalisten und Schriftstellers Bruce Chatwin ("Wer war er? Diejenigen, die ihn kannten, wissen es bis heute nicht.") Und: die Debatte um den kulturellen Nachlass des Realsozialismus hat nach der Architektur die Neonwerbung erreicht: Eine polnische Fotografin aus London hat daraus eine Ausstellung gemacht (hier ein paar Bilder), die ausgerechnet im Warschauer Kulturpalast gezeigt wird. "Das entstehende Museum für Moderne Kunst hatte sich jetzt bereit erklärt, die Neonreklame in ihr Programm zu integrieren. Es soll eine Freilichtausstellung entstehen, und ihre Geschichte erforscht werden", kündigt die Gazeta Wyborcza an.

Magazinrundschau vom 06.11.2007 - Gazeta Wyborcza

Das neue Mitte-Links-Bündnis "LiD" enttäuschte bei der Parlamentswahl (3. Platz, 13 Prozent), der Philosoph und Politikwissenschaftler Bronislaw Lagowski weiß auch warum: "Die historische Schwäche der Linken in Polen kommt unter anderem daher, dass das einfache Volk keine eigene Geschichte hatte. In Frankreich lebt das Volk in dem Bewusstsein, ein Subjekt der Geschichte zu sein; das polnische Volk dagegen hat ein Bewusstsein entwickelt, in dem es die Mythologie der Intelligenz und des Adels angenommen hat. (...) Den Bauern ging es im 19. Jahrhundert schlechter als den Schwarzen in den USA, kein Wunder also, dass das Volk sich seiner Identität schämte. Um so leichter übernahm es die Mythen, Meinungen und das Selbstbewusstsein jener Klasse, die das Volk unterdrückte. Das ist eine sehr schwache Basis für die Linke."

Jose Antonio Zarzalejos, Chefredakteur der konservativen spanischen Tageszeitung ABC, erklärt, was es mit dem neuen Gesetz über historische Erinnerung in Spanien (mehr hier) auf sich hat: "Ein Teil der Linken und der Regionalisten glauben, dass die Rechnungen mit dem Franco-Regime noch nicht beglichen sind. Für mich ist das nichts als Rachlust", bei dem ein verlorener Krieg im nachhinein wenigstens symbolisch gewonnen gewerden soll. Dabei: "Mein Vater ist 85, für ihn ist Franco alles; für mich ist Franco eine Erinnerung aus der Kindheit - von mir aus, können die Denkmäler verschwinden. Für meine Kinder, 19-26, existiert Franco gar nicht. Es geht sie nichts an. Gar nichts."
Stichwörter: Adele, Mythologie

Magazinrundschau vom 30.10.2007 - Gazeta Wyborcza

Der Nahostexperte Dawid Warszawski erklärt, welchen Zusammenhang es zwischen den türkischen Angriffen auf Nordirak und der Armenienresolution des US-Senats gibt. "Es geht hier nicht in erster Linie um die PKK. Es geht darum, ein unabhängiges Kurdistan im Irak zu verhindern. Washington möchte aber um jeden Preis eine neue Front in diesem vom Bürgerkrieg erschütterten Land unterbinden. Deshalb geht auch die Unterstützung für die Resolution zurück, um die Türkei nicht zu provozieren. Die Anerkennung des Leids vor fast 100 Jahren tritt in den Hintergrund, wenn ein neuer Krieg droht." Da die Amerikaner in diesem Fall ihren Verbündeten im Irak unterstützen müssten, wäre ein Kampf zwischen türkischen und US-Einheiten nicht zu vermeiden. Was weder die EU, noch die USA, noch Ankara wollen. Und, ja, es geht auch um Öl...

Außerdem: Pawel Smolenski erinnert an die Geschichte des polnischen Untegrundverlags NOWA, der vor 30 Jahren entstanden ist. "Davor gab es den russischen Samizdat, aber nach anfänglichen technischen Probleme erreichte die NOWA einzigartige Auflagen von über zehntausend Exemplaren hochwertigen Drucks. Als Untergrundverlag war sie von Natur aus politisch, aber sie publizierte auch Literatur, Poesie und Dramen. Außerdem veröffentlichte sie Autoren aus anderen sozialistischen Ländern und sägte so am Grenzzaun." Die NOWA war der einzige polnische Verlag, der 1980 die Bücher des Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz publizierte. Josef Brodsky erklärte einmal, dass seine Bücher nirgends in so hohen Auflagen veröffentlicht wurden. Nur bei den unabhängigen polnischen Verlagen war er sicher, "dass die Leser seine Bücher auch lesen, und nicht nur die Regale damit schmücken".

Magazinrundschau vom 23.10.2007 - Gazeta Wyborcza

Am 23. Oktober feiert der polnische Philosoph Leszek Kolakowski seinen 80. Geburtstag, und fast die ganze Wochenendausgabe der Tageszeitung ist ihm und seinen Texten gewidmet. Chefredakteur Adam Michnik schreibt: "Kolakowskis Werk hat viele Dimensionen, und jede wird noch über Jahrzehnte Gegenstand von Studien und Analysen sein. Für mich sind seine Schriften vor allem eine Warnung - vor Dummheit, Hass, Verblendung. Die Warnung ist um so wichtiger, als dass wir diese Pathologien nicht bei den anderen suchen sollten, sondern bei uns selbst."

Außerdem im Dossier nachzulesen: Kolakowskis Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1977; seine Anleitung, wie man ein liberal-konservativer Sozialist wird.

Die philosophische Ausgabe der Wyborcza vervollständigt die Philosophieprofessorin Barbara Skarga mit einem Plädoyer für einen europäischen Patriotismus. "Heute Patriot zu sein, heißt nicht nur polnischer, sondern auch europäischer Bürger zu sein. Man muss dieses gemeinsame Vaterland haben, das nationale Abgrenzungen überschreitet. Das bedeutet, in guter Nachbarschaft zu bauen. (...) Wir dürfen die europäische Idee nicht verlieren. Man muss sie verteidigen und gegen die ankämpfen, die den entstehenden europäischen Patriotismus weder verstehen noch anerkennen können".

Und: Volker Schlöndorff stellte auf dem Internationalen Filmfestival in Warschau seinen neuen Film "Ulzhan" vor. Im Gespräch mit Pawel T. Felis verrät der Regisseur, wie froh er war, nach "Strajk" und "Am neunten Tag" diesen Film zu machen: "Als der Drehbuchautor Jean-Claude Carriere anrief, sagte ich gleich: Ja! Das ist das, was ich brauche. Pures Kino. Keine Politik, keine Geschichte, nicht mal Literatur. Nur die große Steppe und ein einsamer Mensch."

Magazinrundschau vom 16.10.2007 - Gazeta Wyborcza

"Mit dem wilden Kapitalismus kann ich gut leben", gesteht Regisseur Andrzej Jakimowski, der durch differenzierte Filme über den Zustand der polnischen Gesellschaft nach der Transformation bekannt wurde. Sein letzter Film "Sztuczki" (Tricks) wurde in Venedig und Gdingen ausgezeichnet. "Paradoxerweise kann ich auf dem kapitalistischen Markt die Unabhängigkeit erlangen, die mich schützt. Ich mache absichtlich subtile Filme und glaube, dass man die Zuschauer für sie gewinnen kann. Man muss es nur sehr wollen. Im Kino passieren unerwartete Dinge." Unabhängigkeit sichert ihm seine eigene Produktionsfirma.

Magazinrundschau vom 09.10.2007 - Gazeta Wyborcza

Putin, schlaflos in Moskau aus Sorge um die russische Demokratie? "Bitte bringen Sie mich nicht zum Lachen!", sagt die Menschenrechtlerin Ludmila Alexieva im Interview. "So lange unsere Zivilgesellschaft nicht heranreift, nicht in der Lage ist, mit Bürokraten wie mit Gleichen zu sprechen, wird sich in Russland nichts ändern. Vergessen wir eine Demokratisierung von oben. Das klappt nirgendwo. Wenn eine Gesellschaft sich wie Dreck behandeln lässt, nutzt jede Regierung das gerne aus." Zwar glaubt Alexieva nicht, dass sie selbst noch ein demokratisches Russland erleben wird, aber sie ist sicher: "Die Russen werden sich noch lange nicht politisch engagieren. Aber irgendwann werden sie von der Regierung fordern, dass sie wie Menschen behandelt werden, mit Würde, und dass sie sich ihrer Interessen annimmt."

Magazinrundschau vom 25.09.2007 - Gazeta Wyborcza

Soeben ist das 32. Polnische Filmfestival in Gdingen zu Ende gegangen, und Tadeusz Sobolewski ist erleichtert: "Wir sahen ein neues Antlitz des polnischen Kinos. Die Tonlage verändert sich - eine Klimaerwärmung naht. Polnische Filme übernehmen Charakteristika des tschechischen Kinos, die wir immer bewundert haben: erwärmenden, ironischen Humor, Abstand und gleichzeitig bejahender Blick auf die Wirklichkeit, Sinn fürs Lokale". Auch wenn politische und gesellschaftliche Themen nicht gänzlich weggelassen werden, heißt die Devise: Ende der Traurigkeit!
Nachdem Andrzej Stasiuk die düsteren Regionen Europas beschrieben hat, wendet er sich "Dojczland" zu. In einem Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Buch outet sich Stasiuk sogar als DDR-Nostalgiker: "Ich mochte die DDR. In der DDR passte mir alles, außer den Skinheads. Wenn ich je daran gedacht hatte, Ferien in Deutschland zu machen, dann in Mecklenburg. Die DDR ist der 'missing link' zwischen Germania und Slavonica, es ist ein verirrter Stamm - ob germanisch oder slawisch, wird keiner mehr entscheiden können. Die DDR ist der Moment, wo die Deutschen etwas locker lassen." (Genau, vor allem in Bautzen und an der Mauer!)