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Marzio G. Mian
macht sich auf eine
Reise entlang der Wolga und versucht den "fremden Planeten", zu dem Russland für den Rest Europas mittlerweile geworden ist, etwas besser zu verstehen. Er trifft einen alten Bekannten, einen Intellektuellen, sonst "sanftmütig und verkopft", dessen Augen nun in wildem Kriegseifer funkeln. Er begegnet esoterischen Hippies, die mit Ekstase und Reggae den Krieg verdrängen, und Teenager, für die T-Shirts mit Stalin-Aufdruck der letzte Schrei sind. Vor allem bereist er ein Russland, dem man in weiten Teilen überhaupt nichts vom Krieg anmerkt. Seit den westlichen Sanktionen
floriert vor allem die russische Landwirtschaft, stellt Mian fest, als er einen ihrer mächtigsten Vertreter trifft, für den der Krieg in der Ukraine überaus rentabel ist: "Ivan Kazankov ist einundachtzig Jahre alt und hat einen grauen, wölfischen Blick. Er ist groß und kräftig, eine breite rote Krawatte ruht auf seinem Bauch. Er zeigte sich an meinem unerwarteten Besuch ohne allzu große Vorbehalte interessiert: Man merkt, dass er ein echter Chef ist, einer, der niemandem Rechenschaft ablegt - ein Platzhirsch in diesem
agrarischen Stalingrad, diesem ländlichen Reich an der Wolga, das paradoxerweise vom größten Bauernvernichter der Geschichte inspiriert wurde. Sein Büro schien mit dem ausdrücklichen Ziel eingerichtet worden zu sein, jeden zu verwirren, der hofft, Russland im Jahr 2023 zu verstehen: Büsten von Stalin stehen neben russisch-orthodoxen Ikonen, ein Porträt von Nikolaus II. thront über einer Sojus-Statuette, ein Bild von Wladimir Putin hängt neben einem Bild des Heiligen Andreas, Schutzpatron Russlands. Zu dem Chaos dieses Pantheons gesellte sich ein allgemeines Gefühl der Undurchsichtigkeit in
Bezug auf die Natur des Kombinats selbst, das mir zunächst als 'staatlicher landwirtschaftlicher Betrieb, genau wie zu Zeiten der UdSSR' vorgestellt wurde, sich dann aber als privater Familienbetrieb entpuppte. Iwan hatte seine Tochter zur Direktorin gemacht, nachdem sein Sohn in die Duma gegangen war. 'Wichtig ist, dass der Betrieb weiterläuft wie bisher', erklärte er. 'Die Gewinne werden verwendet, um die Gehälter der viertausend Mitarbeiter zu erhöhen und das Unternehmen zu vergrößern.' In Kasan erzählte man mir später, dass Kasankow inmitten des Raubes und der Korruption der neunziger Jahre, als hartgesottene Gauner die sowjetische Industrie- und Militärausrüstung stahlen, seinen eigenen bescheidenen Anteil genommen hatte. Er hatte einen heruntergekommenen Bauernhof erworben und ihn geschickt in einen Industriekoloss verwandelt, der das sozialistische Kombinatssystem an den wilden postsowjetischen Markt anpasste. Der Wurst-Oligarch Kasankov weiß, wie sehr die russischen Verbraucher noch immer unter dem Verlust des Staatskollektivs leiden…Die Kämpfe in der Ukraine, so schien es, würden Kazankov einen
Berg von Rubeln einbringen. 'Die Käseproduktion ist um achtzig Prozent gestiegen', sagte er. 'Wir ersetzen französische und italienische Käsesorten. Wir kaufen immer noch Kühe.' Er sagte mir, dass die Fleischproduktion im Allgemeinen floriert. Was war seine
Meinung zum Krieg? 'Offensichtlich werden wir gewinnen', sagte er, 'weil wir wissen, wie man kämpft und weil wir nicht verlieren können. Wenn es sein muss, werden wir Atomwaffen einsetzen, wir werden die Erde zerstören,
wir werden alles zerstören."