Efeu - Die Kulturrundschau

Fantasie. Unkorrektheit. Provokation

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24.06.2023. "Das andere Russland ist Putin", insistiert in der FAZ die seit Jahrzehnten auf Deutsch schreibende Schriftstellerin Olga Martynova, die im Literaturbetrieb neuerdings unter den "guten Russen" geführt wird. Monopol lauscht den vielstimmigen Klagen Künstlicher Intelligenzen im griechischen Ioannina. Die Welt lässt sich im vom digital gebotoxten Harrison Ford im neuen Indiana Jones nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns selbst historisch geworden sind. Die SZ blickt in Mannheim irritiert auf Christian Weises "Wilhelm Tell" im Karpfenkostüm. Und alle trauern um Jazz-Urgewalt und Ekstaseveteran Peter Brötzmann, der so radikal "brötzte".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.06.2023 finden Sie hier

Kunst

Bild: Matthew Niederhauser/Marc da Costa: "Parallels" LED wall, camera, environmental sensors, and machine learning model.

Unter dem Titel "Plasmata II" fand bereits die zweite von der Onassis Stegi Foundation produzierte Ausstellung in der nordgriechischen Stadt Ioannina statt - und Monopol-Kritikerin Eva Scharrer staunt, wie gut Natur und (digitale) Technologie in einigen Werken ineinandergreifen: "So lässt etwa der in Berlin lebende Künstler Matthias Fritsch mit Hilfe lokaler Fachleute in einem Innenraum der Festungsmauer ein 'Mycelium-Network' entstehen, eine lebende Skulptur aus verschiedenen, sich über die Dauer der Ausstellung verändernden und vermehrenden Pilzkulturen. (…) "Die 'moiroloi', die vielstimmige Klage der Menschen von Epirus, sind … Inhalt der ortsspezifischen Klanginstallation 'The Passing' von Maenads, die am Ende des Parcours im tunnelgleichen Südtor der Burg von Ioannina installiert ist: Ein vielstimmiger Chor menschlicher und nicht-menschlicher Klagen wird hier zum subversiven Akt, der dem eurozentrischen Individualismus eine radikal pluralistische Kollektivität gegenüberstellt - auch diese wurde von einer KI generiert. Angesichts der Tragödie, die sich nur wenige Tage vor der Eröffnung vor der Küste des Peleponnes abgespielt hatte, bekommt die Arbeit nochmals eine andere Schwere."

Neun Monate nachdem Ann Demeester die Leitung des Zürcher Kunsthauses übernommen hat, horcht Isabel Pfaff für die SZ nach, wie es mit dem angekündigten Richtungswechsel im Umgang mit NS-Raubkunst klappt. Seit März ist bereits nicht mehr von der Unterteilung von Raub- und Fluchtgut die Rede, sondern es gibt nur noch die Kategorie der "NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüter". Ab November sollen nun auch "die Bührle-Werke der Öffentlichkeit neu präsentiert werden - diesmal nach einem Konzept der Kunsthaus-Leitung und nicht, wie vorher, kuratiert von der Bührle-Stiftung. Man wolle die Sammlung 'in einen größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang' stellen. 'Polyphonie und Dialog' seien das Ziel, dafür will das Museum nicht nur die Kunstwerke und deren Kontext zeigen, sondern auch auf konkrete Schicksalen von ehemaligen Eigentümerinnen und Eigentümern eingehen." Offen ist noch, was die Kunstgesellschaft machen wird, wenn sich der Raubkunst-Verdacht bei einem Bührle-Werk bestätigt, so Pfaff.

Außerdem: In der FR resümiert Stefan Scholl den "Kulturkampf", der in Russland um Andrej Rubljows "Dreifaltigkeit", eine der ältesten und berühmtesten Ikonen Russlands, die auf Geheiß Wladimir Putins aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie in die Erlöserkathedrale gebracht wurde, ausgebrochen ist: "Aus der Fachwelt gab es entsetzte Reaktionen. Vor allem der Restaurationsrat der Staatlichen Tretjakow-Galerie, wo Russlands moralisch gewichtigste Antiquität seit 1929 hängt. Das 27,3 Kilo schwere, 141,5 Zentimeter hohe, 114 Zentimeter breite Kunstwerk aus mit Temperafarben bemaltem Lindenholz gilt als schadhaft." Ebenfalls in der FR feiert Ingeborg Ruthe die Wiedereröffnung der generalsanierten Kunsthalle Rostock. Die Berlin-Biennale wurde auf das Jahr 2025 verschoben, ein Kurator wurde auch noch nicht gefunden, meldet Laura Helena Würth in der FAS und fragt nach dem Documenta-Debakel: "Ist … das Kuratieren einer Großausstellung mittlerweile eher Endpunkt einer Karriere als deren Anfangs- oder Höhepunkt?" Für die Welt porträtiert Swantje Karich die Pariser Künstlerin Camille Henrot.

Besprochen werden die Ausstellung "Kirchner, Pechstein, Werefkin - Meisterwerke aus der Sammlung Peltzer" im noch nicht komplett wiedereröffneten Prinzenpalais des Residenzschlosses Altenburg (FAZ) und die Ausstellung "Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (Berliner Zeitung). Tagesspiegel und Berliner Zeitung fassen die Highlights des Berliner Festivals "48 Stunden Neukölln" zusammen.
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Literatur

In einem Essay für "Bilder und Zeiten" der FAZ schreibt die Schriftstellerin Olga Martynova über ihr Unbehagen, dass der Literaturbetrieb Menschen aus der Sowjetunion nach ihrer Herkunft sortiere: "Man führt mich unter den 'guten Russen'. Zum Beispiel sprach Ulrich Schreiber im Vorfeld des Berliner Literaturfestivals von der 'Weißen Liste' von Künstlern, die ihre Stimme gegen Putin und den Krieg erheben: 'Solche russischen Autoren werden beim Festival auftreten, Viktor Jerofejew etwa und Olga Martynova, auch ukrainische wie Ilya Kaminsky.' Abgesehen davon, dass ich seit Jahrzehnten in Deutschland lebe, auf Deutsch schreibe und mich als deutsche Autorin sehe, ist mir diese Konstruktion nicht geheuer: trotz seiner Herkunft gut zu sein. 'Das andere Russland' nennt man mich und meine Kollegen. Nein. Das andere Russland ist Putin."

Mit ebenfalls großem Unbehagen blickt der Schriftsteller Gert Heidenreich in einem Essay für "Bilder und Zeiten" der FAZ auf Social-Media-Dynamiken, wo Leute allein durch Followerschaft zu Experten geadelt werden und Richtersprüche fällen, was genehm ist und was nicht: "Mir ist, offen gesagt, zu viel Kosmetik in der Diskussion, zu wenig Blick auf die Realität, zu viel eingeforderte Politur. ... Neue Bilder und Vorbilder wachsen nicht aus der Weißwaschung der alten und schon gar nicht unter Einschränkung auf allseitige Freundlichkeit. Um die Fortwirkung von Menschenverachtung und kolonialer Arroganz in uns zu klären und künftighin zu vermeiden, braucht es Gegenentwürfe, Radikalität, offene Fantasie. Unkorrektheit. Provokation."

Außerdem: Wissenschaftler haben ermittelt, was die annähernd 600 zentralen Werke der Literaturgeschichte sind, mit denen Künstliche Intelligenzen wie ChatGPT gefüttert werden, meldet Andrian Kreye in der SZ: Der so ermittelte "digitale Kanon" (hier als Tabelle) entspreche wenig überraschend dem "Geschmack genau jener demografischen Schicht trifft, die auch im Silicon Valley dominiert". Nadine A. Brügger erzählt in der NZZ von ihrer Reise auf Hemingways Spuren nach Pamplona in der spanischen Provinz Navarra. Der Schriftsteller Ales Steger erzählt im "Literarischen Leben" der FAZ von seiner Reise nach New Mexico ins Gebiet, wo 1945 die erste Atombombe gezündet wurde. Alexander Menden berichtet in der SZ von der Verleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises in Osnabrück an die russische Exil-Autorin und energische Putin-Kritikerin Ljudmila Ulitzkaja. Kein Künstler schulde der Öffentlichkeit eine echte Biografie, kommentiert Christiane Lutz in der SZ gelassen die ohnehin eher milde Aufregung darüber, dass die Schriftstellerin Sybille Berg ihre teils sensationell anmutende Biografie in Interviews NZZ-Recherchen zufolge wohl fingiert und dabei teils grell übertrieben hat. Alexandru Bulucz gratuliert in "Bilder und Zeiten" der FAZ dem polnischen Lyriker Ryszard Krynicki zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Heinz Strunks Erzählband "Der gelbe Elefant" (taz), T.C. Boyles "Blue Skies" (taz) und Guntram Vespers "Lichtspiele" (FR).
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Bühne

Szene aus "Wilhelm Tell". Foto: Christian Kleiner

Für seine Inszenierung auf der Seebühne im Karpfenteich bei den Schillertagen Mannheim hat Christian Weise den "Wilhelm Tell" nicht nur als Musical angelegt, sondern das ganze Ensemble in Fischkostüme gesteckt. Gute Idee - eigentlich, meint Christiane Lutz in der SZ: "Es wird gesungen, getanzt, mit Flossen gewedelt und ins trübe Wasser gesprungen, Männerrollen und Frauenrollen gibt es nicht. Der Tell, ein Karpfical. Die Idee ist so gaga, dass sie an sich schon wieder gut ist, weil es absolut keinerlei zwingenden Anlass gibt, aus dem 'Tell' thematisch irgendwas Karpfenähnliches oder auch nur Fabelhaftes herauszulesen." Leider haut es "nicht recht hin, weil zwischen all den Fisch-Gags, dem Gesang, der pausenlosen Ironie und den wogenden Karpfenschädeln dann eben doch einiges an Inhalt verloren geht. (…) Aus starren Karpfenmündern wirkt der Text vor allem albern." Nachtkritikerin Esther Boldt amüsiert sich hingegen prächtig: "Der Freiheitsdrang liegt an diesem Abend eher im lustvollen Gegen-den-Strich-Bürsten - und da liegt er gut."

Außerdem: Maximal zwanzig Prozent des Ensemble des Wiener Burgtheaters sollen laut dem designierten Intendanten Stefan Bachmann ausgetauscht werden, entwarnt Margarete Affenzeller im Standard. In der SZ berichtet Christine Dössel von den Geburtstagsfeierlichkeiten zu Klaus Maria Brandauers Achtzigstem im Burgtheater. Besprochen werden außerdem eine Inszenierung von Louise Bertins "Faust"-Oper beim Festival Palazzetto Bru Zane im Pariser Théâtre des Champs-Elysées (FAZ) und Ahmad Ali und Wiktor Baginskis Steppenwolf-Inszenierung am Theater Freiburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Ikone aus und in den Achtzigern: Harrison Ford als Indiana Jones

Kommenden Donnerstag erscheint der neue Indiana-Jones-Film. Es ist Teil 5 der Reihe, der mittlerweile 80-jährige Harrison Ford wird mitunter einer radikalen Digital-Botox-Kur unterzogen, um wieder wie er selbst in den Achtzigern (des 20. Jahrhunderts wohlgemerkt) auszusehen. Die Regie führte erstmals nicht Steven Spielberg, sondern Hollywood-Routinier James Mangold. Bei all der Sause, die den legendären Archäologen von den Vierzigern in die Sechziger und dann bis in die Antike verschlägt, stellt Jan Küveler von der Welt "erstaunt fest, wie viel uns die Actionfilmreihe darüber erzählt, wie die Zeit vergeht und wir uns selbst historisch werden. ... Paradoxerweise betont gerade die Technologie von George Lucas' Special-Effects-Firma Industrial Light and Magic, die das Gesicht des Recken zu Beginn digital verjüngt hat, die Kluft, die die Jahre geschlagen haben." Filmdienst-Kritiker Rüdiger Suchsland hat merklich viel Freude an der "Spirale der Verrücktheit", in die ihn dieser Film mit seinen "magisch-ungesehenen Bildern" zieht: "Es ist ein Kino, das nie belehren oder alles richtig machen will, das mutig und keineswegs beflissen ist und den Jahrmarktscharakter des Mediums gegen seine postmodernen Verächter verteidigt, womit es seinem Idealismus treu bleibt und weder neokonservativen oder traditionalistischen Versuchungen nachgibt."

In einem flankierenden Filmdienst-Essay zeigt sich Lucas Barwenczik hingegen genervt vom nostalgischen Bohei, das um die Indiana-Jones-Filme veranstaltet wird: "Das Kino ist in Teilen zu einer geriatrischen Kunstform verknöchert. ... Die verzweifelt an die Kindheit geklammerte Popkultur akzeptiert kaum noch neue Helden. ... Man kann sich auch zu sehr am Poptimismus der Gegenwart berauschen." Ebenfalls keinen Spaß hatte NZZ-Kritiker Andreas Scheiner: "Die Spezialeffekte sind für so eine Großproduktion erstaunlich krumm. Genießen kann man nichts. Die Raserei reißt nie ab. ... Hollywood hat ADHS."

Außerdem: Im filmischen wie literarischen Western hat sich in den letzten Jahren einiges getan, versichert Oliver Pöttgen im 54books-Essay. Im Filmdienst schreibt Jutta Brückner einen Nachruf auf den Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden die marxistische Amazon-Serie "I'm a Virgo" (Tsp, mehr dazu hier), die Verfilmung des Take-That-Musicals "Greatest Days" (NZZ), die auf Sky gezeigte, queere Serie "Somebody, Somewhere" (taz), der neue Pixar-Film "Elemental" (TA) sowie die Serien "The Dry" (Tsp, FAZ) und "The Crowded Room" (TA).
Archiv: Film

Architektur

In der taz bewundert heute auch Ingo Arend das von Renzo Piano entworfene Museum Istanbul Modern: "Der ganze Komplex strahlt ein Gefühl von Transparenz, Zugänglichkeit und Helligkeit aus. (…) Das Museum an einem der herausgehobenen Plätze der Weltstadt Istanbul sendet mit seiner neuen Architektur ein Signal aus der liberalen Türkei. Dass es mit 'Always Here' eine seiner fünf Eröffnungsausstellungen türkischen Gegenwartskünstlerinnen widmet, lässt sich für die AKP-Türkei, die die Istanbul-Konvention aufkündigte und regelmäßig Demonstrationen zum Weltfrauentag im März mit Polizeigewalt unterbindet, als weiteres kalkuliertes Zeichen lesen."
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Musik



Die Feuilletons trauern um die Jazz-Urgewalt Peter Brötzmann. "Er war der lauteste, aggressivste, ätzendste, rücksichtsloseste, radikalste, avantgardistischste Jazzmusiker auf dem Kontinent", schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ. Nach Brötzmanns konfrontativem Saxophon-Stil ist das Verb "brötzen" benannt, mit seinem (oben eingebundenen) Album "Machine Gun" von 1968 ließ er den Free Jazz auch in Deutschland regelrecht explodieren. Diese Platte "hat nichts von ihrer zerstörerischen Kraft gegen alle Hörgewohnheiten, Jazzkonventionen, Marktstrategien eingebüßt: ein pausenloses Gebrüll, pure Energie, massive Wände zum Einsturz bringende Frequenzen eines zum Klangtongeräuschbetonbohrer mutierten Saxophons."

"Sie nannten ihn Ekstaseveteran, Free-Jazz-Kaputnik, Improvisationsextremist, Lärmvandale oder Rohrreiniger vom Dienst", erinnert sich Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: "Doch keines dieser Etiketten wurde dem Furor gerecht, mit dem er sich den Weg freigeblasen hat zu den archaischeren Schichten der Musik. Mit seinen Spalt- und Splitterklängen sprengte Brötzmann jedes interesselose Wohlgefallen." Die Lungenkrankheit, mit der der Saxophon-Berserker seit Jahren zu kämpfen hatte und der er letzten Endes erlag, zwangen ihn zuletzt, "Chaos und Tumult über weite Strecken Andacht und Versenkung" weichen zu lassen, schreibt Christoph Wagner in der NZZ: "Melodien und Strukturen bekamen nun einen höheren Stellenwert, auch räumte der kompromisslose Improvisator den Pausen größeren Raum ein. An die Stelle des unerbittlichen Powerplay war ein weniger rabiates Musizieren getreten."

Das eigene Ende vor Augen führte Brötzmann Anfang des Monats noch ein letztes Gespräch mit ZeitOnline, das nun vorgezogen veröffentlicht wird. Als Free-Jazzer fühlte er sich missverstanden, sagt er. Ein Großteil dessen, was heute Free-Jazz genannt wird, sei irrelevant: "Die meisten verstehen unter Freiheit, das zu tun, was sie wollen, sich von nichts und niemandem etwas sagen zu lassen. Aber in der Musik war das immer schon ein Irrtum. Freiheit ist etwas sehr Individuelles. Sie hat für Louis Armstrong genauso existiert wie für Don Cherry - nur eben als innere Einstellung, nicht als Programm. Ende der Sechziger kam das aus den Vereinigten Staaten zu uns herüber. ... Instrumente wie Bass oder Schlagzeug wurden emanzipiert, die einengenden, formalen Kompositionstechniken aufgebrochen, die Harmonielehre wurde erweitert. Das alles hatte mit Freiheit zu tun, unserer Freiheit als Künstler." Weitere Nachrufe in taz, Standard und SZ. Dlf Kultur spricht mit Labelbetreiber Siggi Loch, der Brötzmanns späte Aufnahmen veröffentlicht hat. Hier das aktuelle Album "Chasing Ghosts":



Außerdem: Für die taz analysiert der Sexualwissenschaftler Sebastian Schädler das Pornovideo, das Till Lindemann von sich hat drehen lassen. Die Staatsanwaltschaft in Litauen wird gegen Lindemann nicht ermitteln, meldet Jakob Biazza in der SZ.
Archiv: Musik