Efeu - Die Kulturrundschau

Der Schlussakkord zum Wort Rache

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22.03.2022. Einig sind sich taz, NZZ und ZeitOnline darin, dass die Rücktrittsforderungen an PEN-Chef Deniz Yücel fehl gehen. In der SZ wirft Regisseur Sergei Loznitsa der ungarischen Filmakademie nach seinem tatsächlichen Rauswurf Stalinismus vor. Mit gemischten Gefühlen nehmen taz und Tagesspiegel Verdis "Sizilianische Vesper" an der Deutschen Oper: Was kann uns die Gewalt des 13 Jahrhunderts anderes lehren als Geschichte? Die FAZ muss zugeben, dass Sou Fujimotos Haus der Musik in Budapest ziemlich großartig geworden ist, auch wenn es ein Prestigebau der Regierung ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2022 finden Sie hier

Literatur

Die Feuilletons sind sich weitgehend einig: Die Forderung ehemaliger PEN-Präsidenten nach Deniz Yücels Rücktritt (unser Resümee) geht fehl. Dirk Knipphals von der taz kennt Yücel noch gut aus gemeinsamen taz-Zeiten und kann sich gut vorstellen, "dass hier unterschiedliche Diskussionsstile aufeinandertreffen", aber "auch als jemand, der, um beim Hintergrund zu bleiben, eine Flugverbotszone ablehnt (was ich tue), kann man fragen, ob ein PEN-Präsident unbedingt pastoral auftreten muss. Es herrscht Krieg in Europa! Da kann man sich doch nicht auf das 'Ideal einer in Frieden lebenden Menschheit' zurückziehen und glauben, dass damit alles gesagt und irgendwem geholfen sei."

Die ganze Geschichte "ist ein wenig gratisironisch", meint David Hugendick auf ZeitOnline, "da der PEN sich vor allem dem Schutz des freien Worts und der freien Rede verschrieben hat. Das gilt für inhaftierte Dichter in Turkmenistan, für den Vereinspräsidenten sollte das möglicherweise dann ja auch gelten", dies zumal, da Yücels auf eine Nachfrage geäußerte Position, dass der Luftraum über der Ukraine von der Nato geschlossen werden sollte, "sogar nicht besonders exotisch ist". Thomas Ribi kann dem in der NZZ nur beipflichten: "Eine Vereinigung, die sich für das freie Wort einsetzt, sollte auf eine Meinungsäußerung mit inhaltlichen Debatten reagieren, nicht mit Rücktrittsforderungen."

Der Welt-Literaturkritiker und ehemalige Generalsekretär des deutschen PEN von 2009 bis 2013, Herbert Wiesner, reagiert mit einem offenen Brief, den die Welt dokumentiert: Sicher hatte Yücel kein PEN-Mandant, um sich militärstrategisch zu äußern. "Wie denn auch? Unser PEN spricht nicht mit einer einzigen Stimme. ... Schiller nannte das noch Gedankenfreiheit. Auch frühere Präsidiale haben sich auf öffentlichen Podien frei zu ihrer politischen Überzeugung bekannt, ohne vorher die Mitglieder befragt zu haben." Und "es kann doch nicht Euer Wunsch sein, dass Deniz Yücel, um dessen Freiheit wir gekämpft haben, jetzt nicht mehr sagen darf, was er denkt".

Der Dlf hat den Essay von Thekla Dannenberg über die Literatur und die Herausforderung der Klimakrise online nachgereicht. In der Science-Fiction "zeigt sich ein Schreiben, das deutlich konsequenter und leidenschaftlicher den Klimawandel behandelt als die eher populäre Literatur von T.C. Boyle und Margaret Atwood." Als Klassiker des Genres gelten die Romane von Ursula K. LeGuin, in der Gegenwart erweist sich Kim Stanley Robinson mit seinem aktuellen Roman "Das Ministerium für die Zukunft" als verdienstvoll: Dieser "700-seitige Monumentalroman überwältigt durch seine Direktheit, die unverblümte Wut, das Unmäßige. Robinson sammelt alles, was in Theorie und Aktivismus gerade angesagt ist: Er stellt die spanische Kooperative Mondragón vor, die mit knapp 75.000 Mitarbeitern Spaniens siebtgrößtes Unternehmen ist und dabei gänzlich genossenschaftlich organisiert. Er macht sich für die Projekte der indischen Umweltaktivistin Vandana Shiva stark, die als Frauenrechtlerin und promovierte Physikerin die ökologische Landwirtschaft in Indien vorantreibt. Zugleich setzt er aber auch auf Geo-Engineering, also sehr umstrittene Eingriffe in die klimatischen Kreisläufe der Erde, um etwa die CO2-Konzentration in der Luft zu senken oder die Sonnenstrahlung abzulenken. ... Robinson verlangt einem intellektuell durchaus einiges ab. Aber die alles dominierende Frage ist, welcher Widerstand möglich und nötig ist, welche Formen er annehmen kann und von wem er ausgehen muss."

Außerdem: Die NZZ bringt die 14. Folge von Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. In seinem Intellectures-Blog spricht Thomas Hummitzsch mit Ryan North und Albert Monteys über deren Comicadaption von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug". Für die Zeit hat sich Oskar Piegsa mit der Jugendbuchautorin Juliane Pickel getroffen, die für Debüt "Krummer Hund" eben hochrangig ausgezeichnet wurde. Und Sylvia Staude unterhält sich für die FR mit der Autorin Cathy Park Hong über deren Buch "Minor Feelings" und anti-asiatischen Rassismus in den USA.

Besprochen werden unter anderem Adam Greens Comic "Krieg und Paradies" (taz), Daniel Wissers neuer Erzählband "Die erfundene Frau" (Standard), ein Band mit Goyas Briefen (online nachgereicht von der FAZ), eine Neuausgabe von Gert Loschütz' "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" (SZ), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Wilderer" (Welt), David Edmonds' Buch über den Philosophen Moritz Schlick (FR) und Gine Cornelia Pedersens "Null" (FAZ).
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Bühne

Verdis "Sizilianische Vesper". Foto: Marco Lieberenz / Deutsche Oper

Verdis "Sizilianische Vesper" erzählt recht frei vom Volksaufstand gegen die französische Herrschaft in Palermo im Jahr 1268. Als Grand Opéra sollte sie ein bisschen Kino bieten oder wenigstens ein bisschen Meyerbeer, erklärt Niklaus Hablützel in der taz. Dass Verdi daran gescheitert ist, aber dennoch alles haarsträubende Theater in grandioser Musik auflöst, zeigen Olivier Py und Enrique Mazzola an der Deutschen Oper Berlin sehr schön, wie er schreibt: "Alle wechseln immerzu die Fronten, bis sie allesamt vom Chor erschlagen werden. Spannend ist das schon, Böses ist gut, Gutes böse und Verdi versucht, allem eine Stimme zu geben... Am Ende klang es leiser im Saal, als danach zu erwarten war. Mag sein, dass der Schlussakkord zum Wort 'Rache!', ohne Solisten, aber mit vollem Chor und Orchester, daran erinnert hat, dass draußen der Krieg wirklich ist. Zu Recht nehmen Py und Mazzola darauf keine Rücksicht, so naheliegend es bei diesem Stück wäre. Sängerinnen haben in der Pause Spenden für die ukrainischen Flüchtlinge gesammelt. Aber ein Aufstand des 13. und eine Oper des 19. Jahrhunderts sind genau die Geschichte, von der man nur Geschichte lernen kann. Das hat Hegel gesagt, der sich selbst nie daran hielt. Verdi war besser, man muss ihn nur so spielen wie hier."

Ulrich Amling hält die Inszenierung im Tagesspiegel dagegen für einen kompletten Reinfall, vor allem die Anspielungen auf den Algerienkrieg gehen ihm völlig gegen den Strich: "Das alles ist nicht erst unerträglich, seit Schutzsuchende in Mariupol unter den Trümmern eines Theaters begraben wurden. Der infantile Umgang mit Gewalt marginalisiert das, was die Grand Opéra heutig machen könnte: ihr Gespür für Umstürze, die Vorahnung von Kulturbrüchen, diese unerträgliche Ruhe vor einem Sturm von historischen Ausmaßen."

Besprochen werden außerdem Claus Peymann mit Ionescos "Nashörnern" in Ingolstadt und Frank Castorf mit dem Stück "Schwarzes Meer" seiner früheren Lebensgefährtin Irina Kastrinidis in St. Pölten (Großregisseure in der Provinz erinnern Bernd Noack in der NZZ an einen alten Sketch von Helmut Qualtinger), Verdis Don Carlo" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Verdis "Rigoletto" an der Oper Lyon (FAZ), Peter Sellars' Inszenierung des mittelalterlichen "Roman de Fauvel" am Théâtre du Châtelet in Paris (die Marc Zitzmann als "Mix aus Hostie, Wokeness und kalifornischer Spiritualität" abtut) und die Wiedereröffnung der Budapester Nationaloper mit Ferenc Erkels Oper "Hunyadi László" (FAZ).
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Architektur

FAZ-Kritiker Niklas Maak weiß, wie umstritten der Plan der Regierung Viktor Orbans war, das Budapester Stadtwäldchen Varosliget in eine prestigeträchtige Bildungslandschaft umzuwandeln. Aber wenn er jetzt das jetzt fertig gestellte Haus der Musik betrachtet, ist er doch ziemlich hingerissen: "Aus der Ferne sieht das Gebäude, das der japanische Architekt Sou Fujimoto mitten in den Varosliget hineingesetzt hat, aus wie ein riesiger angebissener Pilz, der golden durch die Bäume schimmert. Wer dem Bauwerk näherkommt, erkennt, dass der Pilz keinen Stiel hat, sondern auf dünnen, an Baumstämme erinnernden Beinen schwebt. Wie bei Le Corbusiers berühmter Wallfahrtskirche von Ronchamp erinnert das Dach an einen Krebspanzer, in den man hier Kreissegmente eingeschnitten hat; durch diese Löcher entsteht der Eindruck einer Lichtung in einem Wald: Mitten im Stadtwäldchen ist das Haus der Musik ein abstraktes Gewächs - ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass die Unterseite des Dachs schwarz gestrichen und mit abstrakten goldenen Blättern überzogen wurde."

Hier bekommt man einen Eindruck:



Städtische Verdichtung muss nicht zwangsläufig grauer Block fürs Wohnen und grauer Block für Arbeiten heißen, insistiert Sabine von Fischer in der NZZ und verweist auf die Winterthurer Genossenschaftssiedlung Vogelsang, die mit ihren Ocker- und Grüntönen geradezu italienisches Flair verströmt: "Die Siedlung Vogelsang ist eine Großform, vor der niemand Angst zu haben scheint. Dies mag daran liegen, dass die 156 Wohnungen so übereinandergeschoben und ineinander verschachtelt sind, dass sie mehr mit einem gewachsenen Dorf als mit einer geplanten Wohnsiedlung gemeinsam haben. Ein großer Block ist die Überbauung allemal - weil aber von allen Seiten Höfe und Einbuchtungen herausgeschnitten wurden, verzahnt sie sich mit der Umgebung."
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Kunst

Chales Ray: Fall 91, 1992. Foto: Centre Pompidou

Gleich zwei Ausstellungen zeigen in Paris das Werk des amerikanischen Bildhauers Charles Ray. Fantastische Werke, aber auffällig findet Johanna Adorjan in der SZ die Kluft zwischen François Pinaults privatem Museum in der Bourse de Commerce und dem staatlichen Centre Pompidou: "Die Bourse de Commerce dürfte in ihrem Inneren eines der fotogensten Museen der Welt sein: Alles darin ist schön. Das von Tadao Ando mit grauem Beton ausgestaltete Interieur wirkt elegant und freundlich und lässt die hier gezeigten Kunstwerke glänzen wie Stars auf einer Bühne, die man netterweise ebenfalls betreten darf. Man kann in diesem Museum kein hässliches Foto machen, selbst die anderen Besucher stören nie, sondern wirken wie wichtige Statisten... Im Centre Pompidou dagegen wirkt es ein bisschen nach Alles-muss-raus-Sammelschau. Nichts hat den Platz, den es bräuchte, die Decke wirkt zu niedrig (dafür kann der Kurator natürlich nichts), die Beleuchtung ist so, als hätte man im Hobbykeller Licht gemacht. Und auch die Informationen, die die Besucher an die Hand bekommen, sind liebloser als im anderen Museum."

Besprochen wird Rosemary Mayers Ausstellung "Ways of Attaching" im Ludwig Forum Aachen (FAZ).
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Film

Sergei Loznitsa reagiert auf seinen Rauswurf aus der Ukrainischen Filmakademie (unser Resümee), berichtet Tobias Kniebe in der SZ: Der Filmemacher "empört sich darüber, "dass der Begriff 'Kosmopolit' in seiner Heimat nun wieder als Schimpfwort verwendet werde - das sei ein Rückfall in die schlimmsten Zeiten des späten, antisemitischen Stalinismus. Was propagiere die ukrainische Filmakademie denn jetzt, fragt er und antwortet: 'Nicht eine zivilisierte Haltung, nicht den Wunsch, alle zurechnungsfähigen und freiheitsliebenden Menschen im Kampf gegen die russische Aggression zu vereinigen, nicht die internationale Anstrengung aller demokratischen Länder, diesen Krieg zu gewinnen - sondern 'nationale Identität'. Unglücklicherweise ist dies Nazitum. Ein Geschenk für die Propaganda des Kremls.'

Weitere Artikel: Andreas Busche porträtiert im Tagesspiegel den Filmrestaurator Martin Koerber, der nach 35 Jahren in seiner Tätigkeit in den Ruhestand geht. In der taz spricht der israelische Filmemacher Nadav Lapid über seinen Film "Aheds Knie" (mehr dazu hier). Im Tagesanzeiger gratuliert Hans Jürg Zinsli Will Smith schon einmal vorab zur Auszeichnung mit dem Oscar, den der Schauspieler Zinsli zufolge quasi schon in der Tasche hat.

Besprochen werden Mike Mills' "Come on, come on" mit Joaquin Phoenix (online nachgereicht von der FAS) und die Netflix-Serie "Inventing Anna" (FR).
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Musik

In der SZ-Jazzkolumne nimmt Andrian Kreye die Veröffentlichung der Compilation "Fantastische Frauen" zum Anlass, um über aktuelle Jazzveröffentlichungen von Musikerinnen zu schreiben. Über "12 Stars" von Melissa Aldana zum Beispiel: Diese "spielt Tenorsaxofon, das ähnlich wie die Stratocaster-Gitarre im Rock das Symbol ungefilterter Männlichkeit bleibt. ... Man hört vom ersten Takt an, mit welcher Virtuosität sie jede noch so komplexe Idee spielen kann. Da erinnert sie an Zeitgenossen wie Chris Potter oder Immanuel Wilkins, die ihre extreme Handwerklichkeit für immer neue Ausdrucksformen nutzen. Mit ihrem Ton stellt sie sich allerdings deutlich gegen die Strömung vieler Bläser, sich im Klangbild ihrer jeweiligen Ensembles einzureihen, wie Wilkins zum Beispiel. Aldana lässt ihrer halbakustischen Rhythmusgruppe viel Freiraum, aber wann immer sie ihren luftigen Ton ansetzt, fokussiert sich das Klangbild in seiner ganzen Klarheit auf sie."



Weitere Artikel: Für ZeitOnline spricht Till Wilhelm mit der Rapperin Ebow. In der SZ plaudert Dirk von Lotzow unter anderem über seine Vorliebe für Horrorfilme und über das neue Album seiner neuen Band Tocotronic. Deren Bassist Jan Müller hat für die neue Folge seines Reflektor-Podcasts den sonst meist sehr interviewscheuen Max Goldt für ein wunderbares Gespräch über dessen Musik aus den frühen Achtzigern vors Mikro bekommen. Im Standard gratuliert Christian Schachinger André Heller zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden ein Auftritt von András Schiff in der Tonhalle Zürich (NZZ), eine Ausstellung in Stockholm über den 2018 gestorbenen Dj Avicii (taz), ein Wiener Konzert der Münchner Philhamoniker unter Manfred Honeck (Standard), der Kölner Auftritt der Jazzsängerin Cécile McLorin Salvant mit dem Pianisten Sullivan Fortner (FAZ) und Hinaki Omoris zwischen Field Recording und Synth-Pop changierendes Album "A Journey" (Pitchfork). Wir hören rein:

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