Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Sichschütteln der Schellen am Tamburin

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17.11.2018. Ganz große Kunst, Klangneuland gar, erlebten die Musikkritiker in der Uraufführung von György Kurtágs Oper "Fin de partie" nach Samuel Beckett. Die taz vertieft sich in die Soundskulpturen von Viola Klein. Die SZ liest Instapoetry. KI kann keine Kunst, ruft die NZZ. Die Italiener haben sich noch nie gern an den Faschismus erinnert, meint in der taz der Schriftsteller Boris Pahor. Und: Die "Lindenstraße" wird eingestellt, aber erst 2020. Erste Nachrufe in FAZ und Zeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2018 finden Sie hier

Bühne

Szene aus György Kurtags "Fin de partie" an der Scala. Foto: Ruth Walz


An der Mailänder Scala hatte György Kurtágs Oper "Fin de partie" nach Samuel Beckett Uraufführung. Regie führte Pierre Audi, es dirigierte Markus Stenz. Mehr als mit dieser Oper kann man Beckett nicht gerecht werden, staunten die tief beeindruckten Kritiker. Kurtag erschafft aus "kleinsten Bausteinen" eine Welt, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. Die "pointillistische" Musik "erweitert Becketts Text in zweifacher Weise: Zum einen bringt sie die Sprache wahrhaft zum Klingen, und zwar in durchweg traditioneller, bisweilen ins Ariose ausgreifender Singweise, dabei außergewöhnlich subtil dem Sprachfall des französischen Originaltextes nachlauschend. Zum anderen erfasst die Musik aber auch das szenische Geschehen, also die in regelrechte Pantomimen ausufernden Regievorgaben Becketts, die das groß besetzte Orchester in geradezu filmisch-illustrative Klanggesten übersetzt, ohne sie ins Comichafte zu überzeichnen. Markus Stenz und das Scala-Orchester erfüllen diese Doppelfunktion als musikalische Choreografen und Kommentatoren des Geschehens nicht mit der nadelspitzen Präzision mancher Neue-Musik-Ensembles, aber mit erfreulicher Sicherheit und Wärme im Ton."

Das ist kein posthumanistisches Komponieren, sondern ein ganz auf den Menschen und seinen Körper bezogenes, staunt ein hingerissener Klaus Georg Koch in der FAZ. "Im gleichen Sinn wird die Leiblichkeit des groß besetzten Orchesters herausgestellt, vom Sichschütteln der Schellen am Tamburin, wenn die Sänger lachen oder vor Kälte zittern, bis zu den durchschlagenden Zungen der Akkordeons, dem barocken Klangzeichen für das Totenreich. ... Zusammenhang, ja sogar Form entsteht ganz wesentlich aus dieser kleinteiligen Bewegung menschlicher Laute, aus dem Ansetzen, Aufschwingen und Wiederzurückfallen der Stimmen. Das Orchester der Scala unter dem Dirigenten Markus Stenz wächst in der Intensität der Stimmformungen, in der Zurückweisung jeglicher Pauschalität, in seiner Aufmerksamkeit für die Stimmen der anderen über sich hinaus."

Kurtag hatte schon Becketts letzten Text "What is the word" 1991 vertont, erklärt Bernhard Doppler im Standard. "'Fin de partie' ist nicht so radikal und oft komödiantisch: Das Gähnen bei Hamm (im Rollstuhl) und das kurze Lachen beim humpelnden Clov sind exakt mitkomponiert wie auch jene Bahnschaffnerpfeife, mit der Hamm seinen Diener zu sich beordert. Über weite Strecken kann man aber vor allem kulinarische, geradezu betörende Oper hören, nostalgisch elegische Klänge insbesondere von den in zwei Mülltonnen entsorgten Eltern: Hillary Summers Mezzo entschwebt immer wieder mühelos in zarteste Höhen, während Leonardo Cortelazzi seinen Tenor weich strömen lässt." Weitere Kritiken: Kurtág "hielt sich streng an die Beckettsche Vorlage und leistete doch wesentlich mehr, als das seinerzeit so verstörende Endzeit-Drama nur mit Musik zu garnieren", lobt Michael Ernst in der nmz. Und SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck betrat "Klangneuland jenseits der Erstarrung".

Zum Tod des Schauspielers Rolf Hoppe schreiben Judith von Sternburg in der FR, Rüdiger Schaper im Tagesspiegel und Andreas Kilb in der FAZ.

Besprochen werden Mateja Koležniks Inszenierung von Schnitzlers "Der einsame Weg" am Wiener Theater in der Josefstadt (Standard, FAZ), Otto Nebels Textcollage "Zuginsfeld" über den Ersten Weltkrieg am Zürcher Sogar-Theater (NZZ), Becketts "Endspiel" in der Inszenierung von Anne Lenk am Münchner Residenztheater (nachtkritik), die Uraufführung von Clemens J. Setz' "Erinnya" in der Regie von Claudia Bossard am Schauspielhaus Graz (nachtkritik) und Claudia Bauers Inszenierung von Genets "Die Zofen" am Theater Bonn (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit Interesse verfolgt Elisabeth Gamperl, wie sich auf Instagram längst eine eigene Lyrikszene gebildet hat, die #Instapoetry: Das bildbasierte soziale Netzwerk hat "Literaturkarrieren ermöglicht, an die im konventionellen Literaturbetrieb wohl nicht zu denken gewesen wäre", schreibt sie in der SZ und freut sich über diese Verjüngungskur für die Dichtkunst: "Instapoeten wie Rupi Kaur oder Yrsa Daley Ward bringen mit ihrer Art und ihren Themen eine Zugänglichkeit und Inklusivität in das abstrakte Genre, das lange Zeit vor allem einer privilegierten und intellektuellen Klasse vorbehalten war. Und sie heben Literatur in ein neues Medium, ähnlich vielleicht wie einst Rolf Dieter Brinkmann, Vater der deutschen Popliteratur, der die neuen Medien damals, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als Mittel zur Sinnes- und Seinserweiterung umarmte."

105 Jahre zählt der in Italien lebende, slowenische Schriftsteller und Shoah-Überlebende Boris Pahor mittlerweile. Martin Reichert hat ihn für die taz in Triest besucht und dabei das europäische Jahrhundert aus spezifisch slowenischer Perspektive nochmals Revue passieren lassen. Dass jetzt Rechtspopulisten im Land an der Macht sind, erfüllt ihn mit Sorge: "Wir sind sehr unglücklich. Man muss sagen, dass die Italiener schon immer lieber nicht über den Faschismus gesprochen haben. Sie verschweigen ihn lieber. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Jahr 2004 wurde in Italien ein 'Erinnerungsgesetz' verabschiedet - man erinnert sich daran, wie die italienische Bevölkerung unter jugoslawischer Herrschaft Istrien verlassen musste -, aber dieses Gesetz erwähnt mit keinem Wort, was den Menschen dort vor 1945 angetan worden ist, von den Faschisten. Die italienische Bevölkerung weiß bis heute nicht, was der Faschismus bei uns angerichtet hat."

Dazu passend: In der Zeit nimmt die Schriftstellerin Nora Bossong ein in seiner überschwänglichen Begeisterung, gelinde gesagt, absurdes Video von Matteo Salvinis Auftritt in Viterbo zum Anlass über die italienische politische Kultur zu meditieren, die dank der katholischen "Formensprache, in der sich Pomp und Pathos, jubelnde Menschen und Heilsversprechen verbinden" und mit Berlusconis Trash-Strategien gründlich auf den Hund gekommen ist.

Weitere Artikel: Ralph Trommer plaudert für die taz mit dem Autor und Zeichner Émile Bravo über dessen neuen "Spirou"-Band. Die Welt dokumentiert David Grossmans Dankesrede zum Preis für Verständigung und Toleranz, der dem Schriftsteller in Berlin verliehen wurde. In der NZZ macht sich Paul Jandl an eine Phänomenologie der Einfälle in der Literatur. Mit der Rilke-Handschrift ist in Thomas Gottschalks abgebrannter Villa in Malibou kein kostbares Unikat in Flammen aufgegangen, beruhigt Marc Reichwein in der Welt.

Besprochen werden unter anderem Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" (Freitag), Michelle Obamas Autobiografie (ZeitOnline, taz), Henry Bestons "Das Haus am Rand der Welt" (NZZ), Viivi Luiks "Schattenspiel" (NZZ), Sara Paretskys Krimi "Kritische Masse" (Freitag), ein von Debora Helmer und Gabriele Radecke herausgegebener Band mit Theodor Fontanes Theaterkriitken (Welt) und ein Prachtband zum 90. Geburtstag von Micky Maus (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Design

Tillmann Prüfer porträtiert im Zeit-Magazin das Designerpaar Lucie und Luke Meier, das jetzt hinter der Marke Jil Sander steht: "Mode als Dialog: Widerspricht das nicht dem Bild des kompromisslosen Designers? Der nur seine Vision durchdrückt? Das Ergebnis ihres Dialogs sei niemals ein modischer Kompromiss, sagt Luke. Aber es sei eine Illusion, dass es Genies gebe, die alles allein entschieden."
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Film

Bestürzung allenthalben, zumindest im verbliebenen Restpublikum: Die ARD stellt die "Lindenstraße" ein - allerdings erst im März 2020. Der Grund: "Man müsse 'nüchtern und mit Bedauern' feststellen, dass das Zuschauerinteresse und 'unsere unvermeidbaren Sparzwänge' mit den Produktionskosten einer solchen Serie nicht vereinbar seien", zitiert Michael Hanfeld in der FAZ ARD-Programmdirektor Volker Herres. Das mit den Kosten hält Hanfeld für Quatsch, die ARD habe schließlich per se hinreichend Mittel, um die Serie ad ultimo zu produzieren. Doch das mit dem Publikumszuspruch ist durchaus bergründet: "Es gelingt nicht mehr, was der Erfinder und Produzent der 'Lindenstraße', Hans W. Geißendörfer, im Dezember 2015 zum dreißigjährigen Bestehen der Serie für diese in Anspruch nahm: dass sie von der Gegenwart erzählt und auf diese einwirkt. Das war einmal, aber es ist nicht mehr. Das war in den achtziger Jahren und frühen Neunzigern. Das war, als von gleichgeschlechtlicher Liebe im Fernsehen zu erzählen einen Tabubruch darstellte und Til Schweiger in der 'Lindenstraße' als Hauptdarsteller der zweiten Reihe seine Karriere begann." Rückblickend dürfte sich letzteres wohl als der größere Tabubruch herausgestellt haben.

Carolin Ströbele schreibt auf ZeitOnline einen ersten Nachruf auf die Serie, die ihrer Ansicht nach viel zu lange als langweilig abgetan wurde: Eigentlich war die "Lindenstraße" Serien-Avantgarde, meint sie. Produzent Hans W. Geißendörfer verkündet derweil auf Twitter, dass ohne die "Lindenstraße" das Ende der Demokratie drohe.

Weitere Artikel: Für den Filmdienst porträtiert Kathrin Häger den Schauspieler Chris O'Dowd. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt einen Nachruf auf Drehbuchautor William Goldman. Susanne Ostwald gratuliert in der NZZ Micky Maus zum 90. Geburtstag, die SZ spendiert dazu eine ganze Seite.

Besprochen werden der für Netflix entstandene Western-Episodenfilm "The Ballad of Buster Scruggs" der Coen-Brüder (Tagesspiegel, Standard), Luca Guadagninos "Suspiria" (Freitag. The Quietus, unsere Kritik hier, mehr dazu hier) und die BBC-Serie "Bodyguard" (Freitag).
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Kunst

Portrait of Edmond Belamy. Foto: Christie's
Ist das Kunst? Was das Porträt von Edmond Belamy angeht, das eine KI geschaffen hat und das jetzt bei Christie's für 432 500 Dollar versteigert wurde, kommt Felix Philipp Ingold in der NZZ zu einer eindeutigen Antwort: "Statt von einem Original wäre wohl in diesem Fall eher von einem Modell oder einer Projektion zu reden. Tatsache bleibt, dass das computergenerierte, impressionistisch anmutende, dabei ausdrucksschwache Bildnis des Edmond Belamy (ein fiktiver Name) im Ergebnis nichts anderes ist als ein technischer Schmiereffekt, der beliebig vervielfältigt und variiert werden könnte."

Besprochen werden die Ausstellung "Proof of Work" im Schinkel Pavillon über die Netztechnologie Blockchain (taz), eine Ausstellung mit Werken der 1918 gegründeten Novembergruppe in der Berlinischen Galerie (FR) und die "Irrfahrten des Meese" in der Münchner Pinakothek der Moderne (Welt-Kritiker Boris Pofalla findet die Kritik von Catrin Lorch in der SZ (unser Resümee) total ungerecht: "Der Wert eines künstlerischen Oeuvres bemisst sich demnach daran, ob es im Diskurs zu Illustrationszwecken von Weltdiagnosen gefragt oder nicht gefragt ist. Wenn das so ist, wozu braucht man dann das künstlerische Feld? Kann man dann nicht gleich Leitartikel an die Wände hängen?").
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Musik

Die Kölner Produzentin Viola Klein lässt ihre House-Sounds auf Jazz fußen, erklärt Lars Fleischmann im taz-Porträt: "Häufig baut sie kantige, manchmal sogar schroffe Beat-Loops, wie man sie aus dem HipHop kennt. Ihre DNS wird meist durch Jazz bestimmt. Damit hebt sie den maschinellen Funk von Techno auf eine neue, minimale und transzendente Ebene. Minutenlang passiert oberflächlich betrachtet wenig, subkutan schlummert aber genau in der wechselseitigen Beziehung des Loops vorher und des Folgenden eine Spannung, die die Tracks zu zerreißen droht. ... Die Leistung Viola Kleins besteht darin, das ephemere Gefüge an Sounds aus verschiedenen Quellen zu einer eigenen Soundskulptur zu formen." Ihre neue EP kann man auf Bandcamp hören. Bis im ersten Stück was passiert, dauert es tatsächlich eine ganze Weile...



Weitere Artikel: Jens Uthoff plauscht für die taz mit Indierock-Star Eddie Argos, der sich nach einer längeren Auszeit mit seiner Band Art Brut zurückmeldet. In der Austropop-Reihe des Standard erinnert Karl Fluch an Opus.

Besprochen werden Charles Bradleys postumes Album "Black Velvet" (Pitchfork), Jens Friebes "Fuck Penetration" (online nachgereicht von der FAZ), das neue Album von Fucked Up (Skug), das neue Album des Gangsta-Rappers Capital Bra (Tagesspiegel), Neil Tennants Buch mit den Liedtexten der Pet Shop Boys (Welt), C.F. Ramuz' Buch "Erinnerungen an Igor Strawinsky und René Auberjonois" (NZZ) und ein Jazz-Auftritt von Jeff Goldblum (SZ).
Archiv: Musik