Bücherbrief

Plädoyer für die Fantasie

11.12.2017. Attila Bartis erinnert mit kalter Schönheit und surrealem Glanz an eine Jugend im sozialistischen Ungarn. Zurab Karumdize streift mit der femme fatale und Munch-Muse Dagny Juel durch Georgien. Elvira Dones schickt uns mit einer Schwurjungfrau in die albanische Provinz der Achtziger. Scott Anderson erklärt, wie die arabische Welt aus den Fugen geriet. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Dezember.
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Weitere Anregungen finden Sie der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Attila Bartis
Das Ende
Roman
Suhrkamp Verlag, 751 Seiten, 32 Euro



Genau die richtige Lektüre für lange Winterabende empfehlen die Kritiker mit Attila Bartis' neuem, in fünfzehn Jahren entstandenen Roman "Das Ende", der im Rückblick des 52-jährigen Fotografen Andras Szabad von dessen Jugend im sozialistischen Ungarn nach dem Scheitern der Revolution und seiner Liebe zu der Pianistin Eva erzählt. In der SZ staunt Lothar Müller über die Dringlichkeit, mit der hier die Ära Kadar im Blick auf die Innenwelt des jungen Mannes vor den Augen des Lesers entsteht. Und er bewundert den "surrealen Glanz" der unpathetischen, nahezu dokumentarischen Sprache des Autors, der mit Peter Nadas nicht nur die Liebe zur Fotografie teile. Für FAZ-Kritikerin Katharina Teutsch ist der Roman, der ihr in "kalter Schönheit" von Liebe, vom Tod, dem Mauerfall und transgenerationellen Verheerungen erzählt, gar ein Jahrhundertbuch, das von Terezia Mora kristallklar ins Deutsche übertragen wurde. Spex-Kritiker Malte Spitz lobt die "furchtlose und obszöne" Inszenierung der Figuren, wird aber zugleich auch von der Einfühlsamkeit angezogen, mit der Bartis das Verdrängen und Vergessen schildert. "Schöner hat lange niemand mehr von der Düsternis erzählt", schwärmt Robert Mappes-Niedek in der FR und staunt, wie gelungen Bartis die trostlose Stimmung der Landschaft Siebenbürgens einfängt.

Zurab Karumdize
Dagny oder ein Fest der Liebe

Roman
Weidle Verlag, 288 Seiten, 23 Euro



Zurab Karumidze ist einer der bekanntesten Autoren Georgiens, den man unbedingt auch hierzulande entdecken sollte, versichern die Kritiker voll des Lobes über den neuen Roman "Dagny oder ein Fest der Liebe". Erzählt wird die Geschichte der Norwegerin Dagny Juel, Femme fatale, Schriftstellerin, Ehefrau des polnischen Dichters und Satanisten Stanislaw Przybyszewski, Modell Edvard Munchs und Geliebte August Strindbergs, die im Jahre 1901 in Tiflis von einem Eifersüchtigen erschossen wurde und um die sich bis heute Legenden ranken. Für SZ-Kritiker Moritz Müller-Schwefe ist dieser Roman ein "Plädoyer für die Fantasie", in dem der Autor die realen Ereignisse mit "spielerischer Leichtigkeit", grandioser Erfindungsgabe, intertextuellen und historischen Verweisen, Bezügen zu georgischen Mythen, Märchen und insbesondere dem Nationalepos "Der Recken im Tigerfell" aufmischt und bei den Vorbereitungen zum "Fest der Liebe" Stalin oder den griechisch-armenischen Mystiker Georges Gurdjeff auf kosmische Wesen treffen lässt. Im Deutschlandradiokultur liest Olga Hochweis den Roman als "kulturelles Spiel rund um die Liebe, ihre Leidenschaft, ihre Hingabe, ihre kosmische Vibration" und trifft den Autor in Tiflis. Und im br meint Heinz Gorr, auch wenn man sich im "überbordenden Fundus" aus Zitaten ab und zu mal verlieren sollte, die "fesselnde" Heldin holt den Leser schnell wieder zurück.

Elvira Dones
Hana
Roman
Ink Press, 252 Seiten, 19 Euro



Wenige Besprechungen hat dieser im kleinen Schweizer Verlag Ink Press erschienene Roman der albanisch-schweizerischen Autorin und Filmemacherin Elvira Dones bisher erhalten - zu Unrecht, wenn man etwa NZZ-Kritikerin Martina Gläubli Glauben schenkt: Für sie ist die Geschichte von Hana, einer sogenannten "Schwurjungfrau", die im Alter von 19 Jahren ihrer Weiblichkeit abschwört, um nach Albaniens traditionellem Rechtskodex, dem Kanun, durch ewige Jungfräulichkeit als Mann unter dem Namen Mark lebend die Unabhängigkeit eines Mann zu erhalten, ein ebenso fesselndes wie poetisches Erzählwerk voll "lockerer Dialoge". Im NDR lobt Mirko Schwanitz die Geschichte der Rückkehr einer Frau in eine Weiblichkeit, die sie in sich selbst verstecken musste, als so "intelligentes wie schmerzvolles Spiel mit den Geschlechterrollen" und als "subversive Vision", die die Gender-Frage ganz neu beleuchtet. WOZ-Kritikerin Silvia Süess staunt, wie Dones den Bogen vom kargen albanischen Bergleben der Achtziger bis ins New York der nuller Jahre spannt und mit "kühler Distanz" von "machoiden gesellschaftlichen Strukturen" erzählt. In der Presse lobt Sophie Reyer den Roman als "mutige soziale Studie".

Lucia Berlin
Was wirst du tun, wenn du gehst
Stories
Arche Verlag, 176 Seiten, 19 Euro



Zehn Jahre nach dem Tod der Amerikanerin Lucia Berlin wurden ihre hierzulande im vergangenen Jahr unter dem Titel "Was ich sonst noch verpasst habe"
erschienenen Erzählungen entdeckt und frenetisch gefeiert. Die Kritiker stellten Vergleiche mit Tschechow, Carver, Mansfield oder Munro an und waren hingerissen vom Witz, der Gnadenlosigkeit und Intensität der Kurzgeschichten. Etwas weniger enthusiastisch, aber immer noch sehr begeistert ist der neue Band "Was wirst du tun, wenn du gehst" aufgenommen worden, in dem wir erneut alleinerziehenden, alkoholabhängigen, liebebedürftigen oder einsamen Frauen am Rande der Gesellschaft begegnen. SZ-Kritiker Tobias Lehmkuhl attestiert Berlin brillante Figurenzeichnung, elegante Sprache und klug gewählten Sujets, ja, eine geradezu "perfekte Ästhetik", der bisweilen vielleicht der Funken "schlechter Geschmack" der Wirklichkeit fehlen mag. In der NZZ lobt Angela Schader die Raffinesse der plötzlichen Perspektivwechseln in den Texten und den sinnenfreudigen Blick der Autorin auf Landschaften und Milieus. Im Spiegel staunt Peter Henning nicht nur wie in diesen "Exerzitien in poetischem Minimalismus" jedes einzelne Wort sitzt, sondern er lobt auch die feinsinnige Übersetzung von Antje Ravic-Strubel. Und im WDR bewundert Manuela Reichart, die nach der Lektüre mit ganz anderen Augen auf die Welt blickt, vor allem Berlins Vermögen, mit wenigen Strichen zum "Greifen nahe" Figuren entstehen zu lassen.

Petra Morsbach
Justizpalast
Roman
Albrecht Knaus Verlag, 480 Seiten, 25 Euro



Neun Jahre lang hat Petra Morsbach für ihren neuen Roman "Justizpalast" recherchiert und herausgekommen ist ein Monumentalroman, ein Meisterwerk, ein großes Sittenbild der Justiz, wie die KritikerInnen unisono versichern. Erzählt wird die Geschichte der bayrischen Richterin Thirza Zorninger, die in antibürgerlichen Verhältnissen bei einem Schauspieler-Ehepaar aufgewachsen ist, in der Justiz Karriere macht, einzelne Fälle verhandelt und Einblicke in das deutsche Rechtssystem gewährt. Für NZZ-Kritiker Paul Jandl ist der Roman nicht nur eine comedie humaine, die durch Klugheit, Materialdichte und Konkretion besticht, sondern er staunt auch, wie Morsbach den Finger auf den Unterschied zwischen privatem Rechtsempfinden und positivem Recht legt. In der FR würdigt Christoph Schröder den Roman als brillante Symbiose zwischen nüchternem Recht und lebendiger, emotionaler Literatur. In der FAZ findet Andreas Platthaus es preiswürdig, wie Morsbach Juristenjargon nachempfindet, die Handlung mal beschleunigt, mal abbremst und eine intime Zweisamkeit zwischen Richterin und Recht inszeniert. Im Deutschlandfunkkultur lobt Maike Albath neben der "lebendigen und wirklichkeitsnahen" Figurenschilderung insbesondere das Vermögen der Autorin, auch die "beunruhigenden" Zustände der Justiz aufzuzeigen. Nur einer ist nicht begeistert: Richter Thomas Fischer, der den Roman in der Zeit
genüsslich in seine Einzelteile zerlegt.


Sachbuch

Scott Anderson
Zerbrochene Länder
Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet
Suhrkamp, 264 Seiten, 18 Euro



Vom New York Times Magazine, wo die hier versammelten Texte des amerikanischen Journalisten Scott Anderson ursprünglich erschienen sind, als "hellsichtigste, kraftvollste und menschlichste Erklärung dessen, was in der Region passiert ist", gepriesen, empfehlen auch die deutschen Kritiker die nun in erweiterter Buchform vorliegende Reportage über zwei Frauen und vier Männer, die in Ägypten, Libyen, Syrien und dem Irak die Unruhen im Nahen Osten erlebt haben. Zeit-Kritikerin Andrea Böhm schätzt Anderson nicht nur als versierten Kenner der Region und brillanten Schreiber, sondern staunt auch, wie detailreich und vielschichtig der Autor die Region in leisen Tönen zeichnet. Darüber hinaus ist die Kritikerin dankbar, dass Anderson ihr - ohne abzurechnen - zeigt, wie sehr der europäische Umgang mit Afrika und dem Nahen Osten immer noch von Verdrängung geprägt ist. Vor allem aber ringen ihr die erstaunlich nüchternen Gespräche mit inhaftierten IS-Häftlingen, die der Reporter "ohne Verharmlosung" entdämonisiert, größte Anerkennung ab. Auch SZ-Kritiker Wolfgang Freund hat in dem Epochen und Länder streifenden Buch einiges über die Ursachen der Misere in der arabisch-muslimischen Welt gelernt. Den hollywoodesken Ansatz, mit der Autor "Soziologie aus der Graswurzelperspektive" betreibe, findet er ebenfalls gelungen. Ein Inhaltsverzeichnis hätte er sich allerdings schon gewünscht. Hingewiesen sei in dem Zusammenhang auch auf Fethi Benslamas "Psychoanalyse des Islam"
: Sprachgewaltig und lehrreich, meint FAZ-Kritikerin Susanne Schröter.

Ina Hartwig
Wer war Ingeborg Bachmann?
Eine Biografie in Bruchstücken
S. Fischer Verlag, 320 Seiten, 20 Euro



Ina Hartwigs Bachmann-Biografie räumt ein für alle mal mit Mythen und den Klischees der "Schmerzensfrau" auf, versichert die in der Zeit rezensierende Schriftstellerin Eva Menasse, die auch Hartwigs enormen Rechercheaufwand bewundert: Nie hagiografisch, angenehm nüchtern und wissenschaftlich fundiert kann ihr die Autorin anhand von Gesprächen mit Zeitzeugen, Freunden und Bekannten neue Blickwinkel eröffnen und Zweifel beseitigen: Sie erfährt hier nicht nur einiges über die Affäre zwischen Kissinger und Bachmann, sondern freut sich auch über das ein oder andere Bonmot: "Sie trank wie eine Bäuerin, saß aber da in Chiffonkleidern", verrät etwa Peter Härtling. Dass sich die Autorin Bachmann ganz ohne Scheu nähert, dabei ihren eigenen subjektiven Zugang stets mitreflektiert, hat der Rezensentin ebenfalls gut gefallen. In der FAZ und im Deutschlandfunkkultur spricht Ina Hartwig über Bachmanns Leben. Und: Sehr gut besprochen wurde auch Helmut Böttigers Analyse der Liebesgeschichte zwischen Bachmann und Paul Celan: Quellensatt, atmosphärisch dicht und erhellend, meint FAZ-Kritikerin Wiebke Porombka.

Sandra Richter
Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur
C. Bertelsmann Verlag, 728 Seiten, 36 Euro



Nur eine einzige Kritik hat Sandra Richters Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur bisher erhalten - die aber hat es in sich: Für die FAZ hat sich der Schriftsteller Ilija Trojanow den 700 Seiten dicken Brocken vorgenommen, in dem Richter schwungvoll verstaubte Schubladen aufreißt, weit ausholt, um dann die weltweite Rezeption deutschsprachiger Literatur seit der Neuzeit zu präsentieren. So muss Germanistik aussehen, findet der Kritiker, der hocherfreut ist, dass die Autorin über den Tellerrand hinausblickt, auch hierzulande eher unbekannte, aber im Ausland hochgeschätzte Autoren ins Licht rückt oder die Rezeption von Lessings Nathan durch die Epochen und Kulturkreise beleuchtet. Dass Richter auch vor Unterhaltungsliteratur, etwa Karl May, nicht Halt macht, lässt den Kritiker sogar über das Fehlen eines "konsistenten Narrativs" hinwegsehen. Liebhabern der französischen Literatur seien außerdem die nun in Buchform unter dem Titel "Im Labyrinth der Welt" erschienenen Essays und Kritiken des 2012 verstorbenen Literaturkritikers Hanns Grössel empfohlen: NZZ-Kritikerin Angelika Overath entdeckt hier eine "kostbare" persönliche Literaturgeschichte der französischen Moderne von Flaubert bis Modiano, in der sie viele außergewöhnliche Entdeckungen macht.

Michael Opitz
Wolfgang Hilbig
Biografie
S. Fischer Verlag, 672 Seiten, 28 Euro



Pünktlich zu Wolfgang Hilbigs siebzigstem Geburtstag ist diese Biografie über den 2007 verstorbenen Dichter erschienen, und die Rezensenten sind zufrieden mit dem Werk des Literaturwissenschaftlers Michael Opitz und glücklich über einen Anlass, sich wieder einmal mit Hilbigs Schreiben zu beschäftigen. SZ-Kritiker Nico Bleutge gibt sich als großer Bewunderer der "sprachlichen Essenzen", die Hilbig stets aus seinen Erinnerungsschichten hervorzuzaubern vermochte, zu erkennen und ist entsprechend erfreut über die Biografie von Opitz, der seinerseits Hilbigs Lebensschichten freilegt, indem er Tagebücher, Stasiakten, unveröffentlichte Texte und Notizen in den Archiven sichtete und Gespräche mit Freunden und Partnerinnen Hilbigs führte. Über die formalen Aspekte in Hilbigs Werk hätte Bleutge zwar gern mehr erfahren, das Porträt des Autors erscheint ihm aber elegant und analytisch geschrieben. In der FR ist Dirk Pilz dankbar, etwas über Hilbigs Beziehung zur Mutter und seinen Aufstieg zum Weltliteraten zu erfahren und trotz einiger Redundanzen und dem Fehlen einer erzählerischen Linie lobt er den Band auch als etwas andere DDR-Literaturgeschichte. Im Deutschlandfunkkultur spricht Michael Opitz über Wolfgang Hilbig.

Barbara
Es war einmal ein schwarzes Klavier
Unvollendete Memoiren
Wallstein Verlag, 200 Seiten, 18,90 Euro



Zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen in Frankreich und dem Tod der Chanson-Sängerin Barbara liegen ihre unvollendeten Memoiren unter dem schönen Titel "Es war einmal ein schwarzes Klavier" auch auf Deutsch vor, freuen sich die RezensentInnen. In dem schmalen, aber anekdotensatten Buch ist nicht nur zu erfahren, wie Barbara, als Kind einer jüdischen Familie geboren, immer wieder umziehen, vor den Deutschen fliehen und in Verstecken leben musste oder wie sie vom Vater belästigt wurde, sondern hier ist auch nachzulesen, wie die junge Chansionniere zunächst gegen ihren Willen in Göttingen auftreten sollte und von zehn Studenten und einer alten Dame eigens einen schwarzen Salonflügel ausgeliehen bekam, da ihr der braune nicht gefiel. FR-Kritiker Jörg Aufenanger ist ganz verliebt in dieses Buch, Zeit-Kritikerin Elisabeth von Thadden entdeckt hier "Sätze wie Lebenskristalle" und im Spiegel erlebt Barbara Schulz nicht nur vergnügt den "Glamour der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der belgischen und französischen Chanson-Szene", sondern lernt auch bewegt die Schattenseiten im Leben der Sängerin kennen. Wer sie nicht kennt: Hier singt sie "Nantes".