Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 3. Tag

Von Thekla Dannenberg, Lukas Foerster, Thomas Groh, Ekkehard Knörer
08.02.2009. Macht es sich gemütlich in seiner Latte-Macchiato-Umgebung: Andrew Bujalskis "Beeswax". Ulli Lommels "Absolute Evil" ist ein Monstrum von einem film noir. Simone Bitton dokumentiert den Tod der amerikanischen Friedensaktivistin Rachel in Gaza. Tommy Lee Jones gesellt sich für ein Foto zu den Toten in Bertrand Taverniers "In the electric mist". Spanische Frauen legen jeden Macho aufs Kreuz, beweist Agustin Diaz Yanes in "Solo quiero caminar". Außerdem besprochen: Lars Jessens "Dorfpunks", Hans-Christian Schmids "Sturm", Sebastian Schippers "Mitte Ende August" und John Cooks "Schwitzkasten".
Macht es sich gemütlich in seiner Latte-Macchiato-Umgebung: Andrew Bujalskis "Beeswax" (Forum)

Andrew Bujalski ist seit seinem Debütfilm "Funny Ha Ha" aus dem Jahr 2002 einer der Hauptvertreter einer neuen Spielart des amerikanischen Indiekinos, die seit ein paar Jahren auf den Festivals Furore macht: Mumblecore. Noch streiten die Experten darüber, was dieser Neologismus genau bezeichnet. Vielleicht soviel wie: nuscheln als Avantgarde. Menschen, die ganz emphatisch genauso sind wie ihr gedachtes Publikum (Mittzwanziger, gehobenes Bildungsniveau, dezent alternatives Milieu, beschäftigt mit einer mindestens halbkreativen Tätigkeiten) tun Dinge, die das gedachte Publikum außerhalb des Kinos ebenfalls tut (sich ver- und entlieben, ambitionierte Projekte verfolgen und damit meistens auf die Schnauze fallen, Blödsinn reden etc). Oft werden diese Menschen von Laiendarstellern verkörpert, die das, was sie darstellen, mehr oder weniger auch im echten Leben sind, wodurch die Distanz zum Publikum gleich noch ein bisschen kleiner wird. Gefilmt wird mit kleinen Budgets und meistens (hier allerdings nicht) digital. Der Blick über den eigenen Tellerrand ist selten.



Im Mittelpunkt von "Beeswax" stehen die Zwillingsschwestern Jeannie und Lauren. Jeannie betreibt mit einer Bekannten einen hippen Secondhand-Laden. Außerdem sitzt sie im Rollstuhl. Dieser Rollstuhl wird im Film nicht zum Problem und die Art, wie er nicht zum Problem wird, verdeutlicht, was für einen Blick auf seine Figuren Bujalski anstrebt: Keine bloße Verfügungsmasse für Drehbuchmanöver sollen Jeannie, Laren und die anderen sein und auch keine einfachen Platzhalter für soziale Probleme, sondern vielschichtige Individuen, die in ihrer Subjektivität ernst genommen werden. So wird zwar immer wieder gezeigt, wie Jeannie ihren Rollstuhl zusammen- und auseinanderfaltet, aber solche Szenen sind in "Beeswax" weder berechnend noch mitleidheischend.

Man kann das alles durchaus mögen: die gut ausgewählten und aufeinander abgestimmten Laiendarsteller, die ihre authentisch anmutenden und dennoch fein gedrechselten Dialoge in bester Mumblecore-Manier vortragen, die reduzierte, mehrsträngige Erzählung, die sich um den Secondhand-Laden herum konzentriert, aber sich allen dramaturgischen Zuspitzungen entzieht, die unprätentiöse Kameraarbeit. Freilich kann man am Ende nicht anders, als festzustellen, dass der Weg, den "Beeswax" einschlägt, doch zuallererst der Weg des geringsten Widerstands ist.



Bujalski präsentiert ein (ethnisch, sozial, habituell) durch und durch homogenes Milieu und diese Homogenität wird nie zum Problem, ja noch nicht einmal zum Thema. Einzig ein Anwalt, der in einer Szene auftaucht und Jeannie wegen einer anstehenden Rechtsstreitigkeit mit ihrer Kollegin berät, hält ein wenig Abstand zu seiner Latte-Macchiato-Umgebung, aber der ist schnell wieder weg. Ansonsten sind die Slacker unter sich. Und auch wenn sie sich nicht immer wohl dabei fühlen: Der Film tut es in jedem Fall. Und vielleicht ist genau dies das größte Problem des aktuellen amerikanischen Indiefilms der Bujalski-Spielart.

Man vergleiche nur einmal die relative Geschlossenheit dieses prototypischen Mumblecore-Streifens mit der diskursiven Vielfalt, die das amerikanische Mainstreamkino, insbesondere in den Komödien, selbst in seinen mittelmäßigen Varianten eröffnet. Man wird den Verdacht nicht los, dass der reduzierte Erzählgestus auch mit einem Moment von politischer Feigheit korrespondiert, mit einer irgendwie doch problematischen Form von Selbstbeschränkung, die den slice of life sucht und dabei vergisst, dass jeder slice of life nicht aus sich selbst heraus sinnhaft ist, sondern nur als Teil eines kontinuierlichen Sozialen, das auch jenseits von Secondhand-Läden stattfindet und dessen bestimmende Eigenschaft nur allzu oft jene Differenzen sind, die bei Bujalski und seinen Kollegen nicht vorkommen.
Lukas Foerster
Andrew Bujalski: "Beeswax". Mit Maggie Hatcher, Tilly Hatcher u.a. USA 2009, 100 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Tot in Gaza: Simone Bittons "Rachel" (Forum)

Dieser Film macht einen so verlegen, berührt einen so unangenehm, dass man sich die ganze Zeit über im Kinositz windet, meist vor Verlegenheit, aber auch vor Entsetzen und Ärger. Die in Marokko und Israel aufgewachsene und nun in Paris lebende Filmemacherin Simone Bitton zeichnet in ihrem Film "Rachel" ein Bild von der Lage in Gaza im Jahr, das einem vor Augen führt, dass hier der Tod nicht eine furchtbare Tragödie ist, sondern etwas, was man politisch ausschlachten kann oder unter den Teppich kehren muss. Der Film rekonstruiert den Tod der 22-jährigen Rachel Corrie, einer amerikanischen Friedensaktivistin, die im Gazastreifen von einem israelischen Bulldozer niedergewalzt wurde. Natürlich hat die israelische Armee den Fall intern untersucht, alle beteiligten Soldaten für unschuldig erklärt und den Fall abgeschlossen, vor Gericht kam der Fall nicht.

Bitton holt die Ankläger, Beschuldigten und Zeugen vor die Kamera, die trauernden Eltern und die Zyniker, die Nutznießer und die Beschöniger, die Spinner und die Friedensrapper. Beteiligte werden befragt, Akten zerpflückt und Lagepläne auseinandergenommen. Man fühlt sich von seinen widerstreitenden Empfindungen so hin und hergerissen, als müsste man seinen eigenen inneren Gazakrieg ausfechten.



Bitton zeigt junge Idealisten, die einem durchaus Empathie und Respekt abringen, wie sie als menschliche Schutzschilde ihr Lebens riskieren, um israelische Bulldozer davon abzuhalten, palästinensische Häuser niederzureißen. In orangefarbenen Signalwesten stellen sie sich immer wieder vor die gepanzerten Riesenmaschinen und kämpfen um jeden Zentimeter Schutt in diesem kargen Niemandsland. Aber man sieht sie auch als heillose Naive, die sich auf der Suche nach dem Guten zu nützlichen Idioten einer fragwürdigen Organisation machen lassen, dem pro-palästinensischen International Solidarity Movement (ISM). "Lass mich wissen, wenn Du eine Idee hast, was ich sinnvoll mit meinem Leben anfangen kann", schrieb Rachel Corrie an ihre Eltern.

Abgesehen von den kaltschnäuzigen Offiziellen sehen wir auch einen der Bulldozer-Fahrer, der offensichtlich von seinen eigenen Skrupeln aufgehalten, die Friedensaktivisten bedrängt, sie sollten sich da nicht einmischen: "Dies ist mein Kampf, nicht eurer." Aber Bitton spricht auch mit einem anonymisierten Ex-Soldaten, der - streng religiös - davon berichtet, wie er in seiner Militärzeit aus Spaß und Langeweile auf palästinensische Häuser geschossen hat: "Durch Nachtsichtgeräte sieht es einfach super aus, wenn Wassertanks explodieren."

Die Palästinenser, deren Häuser vom Abriss bedroht sind, beteuern ihre Unschuld und ihre Freundschaft zu der jungen Rachel, die sie mittlerweile zur Märtyrerin erklärt haben. Einige behaupten auch, sie noch am Tag ihres Todes gewarnt zu haben, sie solle sich doch nicht einer solchen Gefahr aussetzen. Dies nimmt Simone Bitton erstaunlicherweise für bare Münze, und - dies ist ganz eindeutig der große Schwachpunkt des Films - sie fragt auch nicht nach dem Leben in Gaza, geht weder dem obskuren ISM auf den Grund noch erkundigt sie sich ein einziges Mal, wie die Friedensemissäre eigentlich mit der Hamas klargekommen sind.
Thekla Dannenberg
"Rachel". Regie: Simone Bitton. Dokumentarfilm. Frankreich, Belgien 2009, 100 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Liebe auf gemietetem Bett: Ulli Lommels "Absolute Evil" (Panorama)

Vor 40 Jahren stand Ulli Lommel in Fassbinders Debütlangfilm "Liebe ist kälter als der Tod" vor der Kamera, etwa zeitgleich spielte er außerdem in Rudolf Thomes großartigem "Detektive", dem anderen großen deutschen Film jener Tage, der ohne das amerikanische Kino so nicht denkbar gewesen wäre. Ulli Lommel, das war mit diesem Film-Doppel der deutsche Alain Delon, eine europäische Anverwandlung einer amerikanischen film noir Figur. Nun hat er selbst und in den USA einen solchen Film gedreht: Da ist ein Pärchen, im coolen schwarzen Wagen aus den 70ern, auf der Reise durchs Hinterland. Da ist ein Motel und ein Geheimnis zwischen den beiden. Da kleben auch schon finstere Gestalten auf ihrer Spur, die offenkundig nichts Gutes im Schilde führen. Liebe auf dem gemieteten Bett. Ein erwartbarer Übergriff, Pistolen, der Hauch von "unfinished business" und Rache liegt in der Luft. Ein Schuss, Blut, eine Leiche.



Und da ist ein geheimnisvoller Mann, draußen in der Einöde. Ein alternder Gangster, gespielt von David Carradine in überdeutlicher Anlehnung an seine letzte große Rolle in Tarantinos "Kill Bill". Der alte Mann erinnert sich, hält die Fäden in der Hand, gibt Instruktionen. Und da ist ein anderer geheimnisvoller Mann, kaum jünger als Carradine, mit verspiegelter Sonnenbrille und einer Visage wie aus Stein gemeißelt, der mit einem Assistenten (Lommel selbst, weißgott nicht jünger) einem Haufen Berufskillern auflauert, sie überrumpelt und mit der Beharrlichkeit eines Foltermeisters auf die Beantwortung seiner einzigen Frage pocht: "Who killed Babyface?"



Quentin Tarantino, dem Neuerer des Film Noir, verdankt "Absolute Evil" einiges. Die Anordnung der Storyfetzen im Zeitsprungverfahren, anfangs verwirrend, später klarer, die verworrene Handlung mit ihren zunächst kaum miteinander in Verbindung stehenden Elementen, die Rachegeschichte, die sich nach und nach zu erkennen gibt und dabei manche Front im neuen Licht erscheinen lässt: Das Gute wird zum Bösen, der Böse war der Gute, und das Gute greift zu den Mitteln des Bösen - die Epilogmeditation schließlich spricht sinnierend und pathetisch nicht ganz geglückt vom "absoluten Bösen", vom Bösen allein des Bösen wegen. Fast lässt sich von Tarantinoploitation sprechen.

Aber nur fast: Was zunächst wie gescheiterter Trash wirkt, gewinnt im Laufe gerade aus solchen Reibeflächen und seiner völlig unironischen Haltung zu dieser eigenen, inneren Disparität einen sonderbaren Reiz: Als hartgesottener Genrefilm, der er sein will, kündet er auch von der Unmöglichkeit desselben unter heutigen Bedingungen.

Was für einen Karriere! Ulli Lommel, Schauspielstar des deutschen Autorenfilms, der alsbald selbst auf dem Regiestuhl Platz nahm, mal für bayerische Softsex-, mal für an den deutschen Autorenfilm angelehnte Horrorfilme, Ulli Lommel, der in die USA ging, von Warhol entdeckt wurde und verdrogte Punk-Kultfilme schuf, Ulli Lommel, der spätere Aussteiger ins Indianerreservat, der in Deutschland den monumental gefloppten Daniel-Küblböck-Film schuf, um direkt im Anschluss Dumping-Horror-Reißer fürs unterste DVD-Regal in rauen Mengen runterzukurbeln, dieser Ulli Lommel also legt hier einen Film vor zwischen gediegenem Noir und hölzernem Trash, zwischen Tarantino und Corman, zwischen filmhistorischer Melancholie und verbissener Durchhalteparole, zwischen billiger Exploitation und Kino der großen Gesten, einen Film, der nicht notwendig gut geraten ist oder gar gut unterhält, aber auf eine ganz spezielle Art ziemlich unglaublich ist. Der Filmauswahlkommission des Panorama, die dieses Film-Monstrum in die Sektion geschmuggelt hat, kann man zu solchem Wahnwitz nur gratulieren.
Thomas Groh
Ulli Lommel: "Absolute evil". Mit David Carradine, Carolyn Neff, Rusty Joiner, Ulli Lommel. USA, Deutschland 2008, 80 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Dem Tod verfallen: Bertrand Taverniers "In the electric mist" (Wettbewerb)

Ein Film übers Auftauchen. Ein Sumpf- und Bayou- und Nebel-Film. Allgegenwärtig ist der Tod in diesem Film, allgegenwärtig sind die Toten, die unter den Lebenden umgehen. Dave Robicheaux ruft sie herauf, ruft sie hervor, lässt die Erinnerung sprechen und, viel mehr noch, lässt sie lebendig werden, nein, nicht lebendig - untot. Er gewährt den Toten ein Umgangsrecht mit den Lebenden. Er leidet darunter, er nimmt dies Kreuz auf sich, er ist die Schöpfung des Kriminalschriftstellers James Lee Burke und Tommy Lee Jones macht daraus mit stupender Selbstverständlichkeit seine eigene Figur.



Bertrand Tavernier lässt ihn sprechen. Alles beginnt mit Robicheaux'/Jones' Stimme aus dem Off. Sie kehrt wieder und wieder und das ist nie eine erzählerische Krücke, das ist nie eine Verdopplung des Gesehenen, es ist eine Reverenz an die Vorlage, an die Sprache von Burke - wie überhaupt der ganze Film seine Atmosphärenmalerei nicht zuletzt über die Sprache organisiert, den Bayou-Sound der Südstaaten. Die Melodie des Gesagten ist ihm nicht weniger wichtig als das Gesagte. Die Stimmungs-Färbung des Geschehenen nicht weniger wichtig als das Geschehen. (Was gelegentlich zu einer Überzeichnung führt, die Tavernier vielleicht doch nicht mehr kontrolliert.)

Dave Robicheaux ist für Burke und mehr noch für Tavernier Körper vom Körper des Sumpfs. Er bewahrt auf, was die Welt vergessen und entsorgen möchte, er gräbt aus, er lässt nichts wegsinken. Er ist der klassische Ermittler der Kriminalliteratur als Katechon, als Aufhalter des Vergessens. Bei seinen antiautoritären Impulsen fühlt er darum stets die Gerechtigkeit im Rücken, die darin besteht, denen eine Stimme wiederzugeben, die nicht mehr sprechen. Auch bei Burke umgibt Robicheaux das Pathos dessen, der dem Tod verfallen ist. Und es gibt auch bei Burke als Gegengewicht die Natur. Als Gegengewicht oder als andere Seite: Was in der Natur verfällt, kehrt wieder. Nichts vergeht ganz. Nur unter den Menschen kehrt das Vergangene als Untotes wieder. (Was Tavernier, wenn nicht alles täuscht, stärker betont als die Romane, ist der Humor, ist das Wissen um die Klischees der Kriminalliteratur, mit denen Burke, mit denen Robicheaux nicht weniger Umgang hat als mit den Toten.)



Ein Häuflein Knochen taucht auf im Sumpf, als Rest, der von einem vor vierzig Jahren ermordeten Schwarzen bleibt. Das ist der Anfang einer der Geschichten des Films, der die Zeiten ganz programmatisch ineinanderschiebt. Kurz vorher wird der Leichnam einer jungen Prostituierten gefunden, das ist der Anfang einer anderen Geschichte, in der Gegenwart. Auf den Straßen der Kleinstadt und in den Sümpfen kreuzt ein dauerbetrunkener Schauspiel-Star auf (Elrod Sykes: Peter Sarsgaard mit Bart), in dem Robicheaux einen erkennt, den er aus den Fängen des Schicksals retten kann. Als Aufhalter, das ist seine deformation professionelle, glaubt Sheriff Robicheaux an die Errettbarkeit der Menschen. Ob er an Erlösung glaubt, ist eine andere Sache. Eher schon an seine Faust im Gesicht seines Gegners, an den Baseballschläger in seiner Hand, an den Zorn des Gerechten, der von Zeit zu Zeit in ihm aufsteigt.

Tavernier schlägt sich auf seine Seite, er vertraut sich der von Burke und Jones geschaffenen Figur ganz und gar an, ohne sie und ihr Pathos restlos beim Wort zu nehmen. Dieser Rest geht im Film um als leise Distanz zum Klischee, die sich nicht zuletzt der Überzeichnung verdankt. Es muss ja vielleicht wirklich einer aus Frankreich kommen, um das, was Burke als Bewohner dieser Welt entworfen hat, in ein stark nuanciertes, von Stimmungsfarbe zu Stimmungsfarbe schillerndes, aber doch: in sich geschlossenes Gemälde zu fassen. Die Sumpf-Welt von "In the electric Mist" ist ein stimmungsmalerischer Wurf, was aber auch heißt, dass er die Sättigung mit dem Sumpfigen in verschiedene Modi zu setzen versteht. Er kommt sich da mit dem Auffächern der Stimmungen zur Hilfe, mit den Seitenfiguren, die sich leichter nehmen, mit dem Gusto des John Goodman, der das Böse verkörpert, aber ein mittleres Böses sozusagen, das den Vorteil hat, dass man seine Schmierigkeit und seine Gier auf den ersten Blick gleich erkennt. Da hilft schon ein Schlag in die Fresse, da ist keine zehrende Totentherapie nötig.



Gegen Ende bekommt Tavernier, bekommt der Film ein Problem mit dem Genre, das allzu sehr das Kommando übernimmt. Es muss einer, weil die Regeln es fordern, als Täter überführt werden. Aus dem Sumpf und dem Nebel, denkt man, blinkt hier das eiserne Gehäuse eines Uhrwerks hervor, die Mechanik einer kriminalliterarischen Apparatur. Auch dagegen setzt Tavernier ein Gegengewicht. In der Selbstverständlichkeit nämlich, mit der er Soldaten des Bürgerkriegs ins Bild setzt wie im richtigen Leben. In der Selbstverständlichkeit, mit der er Robicheaux Umang haben lässt mit ihnen. Es ist darum ein großer Moment, wenn der Held sich zu den Toten gesellt für eine Gruppenfotografie. Die Fotografie, daran lässt das Ende des Films keinen Zweifel, ist das dem Sumpf geistesverwandte Medium: Einer wird darin aufgehoben und irgendwann taucht er als Untoter unter Untoten wieder auf.
Ekkehard Knörer
Bertrand Tavernier: "In The Electric Mist". Mit Tommy Lee Jones, John Goodman, Peter Sarsgaard, Ned Beatty, Kelly MacDonald. Frankreich, USA 2008, 117 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Frauen, die es können: In Agustin Diaz Yanes' "Solo quiero caminar" (Panorama Spezial)

Nach einem missglückten Einbruch landet Aurora im Knast, ihre Schwester Ana konnte - leider ohne die Beute - entkommen und muss nun Geld als Edelhure anschaffen. Und während sie es einem mexikanischen Gangsterboss besorgt, setzen sich Gloria und Paloma beim Richter erfolgreich dafür ein, um Auroras Strafmaß zu vermindern. Leider gehen mit Anas Freier prompt die Pretty-Woman-Fantasien durch, er will sie heiraten, sie stimmt zu und geht mit ihm nach Mexiko. Sie hätte es besser wissen müssen. Nicht nur, dass Mexikos Oberschicht keinen Stil hat, der Kerl fängt auch noch an sie zu verprügeln. Sie fängt an zu trinken. Als Ana von ihrem Mann aus dem fahrenden Auto geworfen, ist klar: Dieser Mann muss beklaut werden. Der Rest des Quartett kommt zu ihr nach Mexiko und beginnt mit den Vorbereitungen für den großen Coup gegen das Macho-Kartell.



Man staunt, wieviel harte körperliche Arbeit so ein Einbruch macht: Tunnel müssen gegraben, Munition gegossen und Fahrräder zu Präzisionsgewehren umfrisiert werden. Aber, lernen wir, spanische Frauen sind tough, sie können viel wegstecken, und deswegen haben Mexikaner eine Menge Respekt vor ihnen: "Wenn's hart auf hart kommt, sind sie schlimmer als alle Actionhelden." Mexikanische Männer haben vielleicht einen Hang zu Romanzen und Schlagermusik, spanische Frauen hören Hardrock. Flamenco tanzen sie nur, weil sich unter den bauschigen Kleidern die Waffen so gut verstecken lassen. Wenn sie guten Sex bekommen haben, zahlen sie dafür. Und natürlich können sie mit einem Baseballschläger genauso gut umgehen wie mit einer Halbautomatik oder einem Schneidbrenner.



Vielleicht übertreibt Agustin Diaz Yanes in seinem Thriller ein wenig mit der Toughheit seiner Freibeuterinnen, den ganzen Film über bleiben sie wirklich sehr wortkarg und emotionslos. Man erfährt über sie weniger als über den armen Kartell-Vize, der noch immer um seine Mutter trauert, die er als Kind verloren hat (der Vater hat sie in einem Eifersuchtsanfall totgeprügelt). Aber das große Plus in diesem spanisch-mexikanischen Schlagabtausch ist, dass er auf jede Psychologie pfeift. Natürlich wollen sich die Frauen rächen, aber wenn sie rauben, morden oder Sex kaufen, dann tun sie das nicht, weil ihnen Gewalt angetan wurde oder sie ihre traumatische Kindheit nicht verwunden haben, sondern weil sie es wollen. Und weil sie es können.
Thekla Dannenberg
Agustin Diaz Yanes: "Solo quiero caminar?. Mit Diego Luna, Victoria Abril, Ariadna Gil, Pilar Lopez de Ayala, Elena Anaya. Mexiko, Spanien 2008. 129 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Bisschen Freizeitvandalismus: Lars Jessens "Dorfpunks" (Perspektive deutsches Kino)
Da ist das Kornfeld, da poltert die Musik. Die Deutschpunk-Helden "Slime", immer wieder: "Weg mit dem Scheiß-System". Da ist der Punk. Im Kornfeld. Immer wieder das Kornfeld, das mal durchschritten, mal beguckt wird, mal Vorder-, mal Hintergrund gibt. Da ist der Hain. Und die Ostsee. Und der Strand. Das System, das weg soll, war vermutlich niemals hier. Immer nur Landschaft, im Endlos-Modus. Und mittendrin und nichts drumrum: Ein Dorf.

Dorf und Punk, eigentlich ein Widerspruch. Punk in seiner Frühphase war ein strikt urbanes Phänomen. Unweigerlich stößt man auf Städtenamen wie London und New York als Keimzellen, in der Bundesrepublik schließen sich Düsseldorf, Hamburg und West-Berlin als Brutstätten an. Das geht Mitte der Siebziger los, brodelt wenige Jahre später in die Großstädte der Bundesrepublik über und ist 1984 als aufsehenerregende Bewegung, als ästhetischer und lebensweltlicher Befreiungsschlag nach den wollig-teelastigen 70ern schon wieder weggestorben, kulturindustriell verbogen oder in andere Bereiche der Kulturproduktion diffundiert.



1984 und Schmalenstedt an der Ostsee, Zeit und Raum, in dem "Dorfpunks" spielt, lässt sich deshalb unweigerlich auch als "viel zu spät am völlig falschen Ort" lesen. Die Punks in "Dorfpunks" definieren sich nicht über souverän-flinke ästhetische Manöver, wie sie etwa rund um den "Ratinger Hof" in Düsseldorf entwickelt wurden, auch geht es nicht um Codes, um Aneignung, Umdeutung oder radikalen Bruch. Punk in Schmalenstedt hieß ein Lagerfeuer in der Natur zünden, auf dem Marktplatz rumlümmeln, bei der Party der Gymnasial-Popper ins Bett der Gastgeber-Eltern pinkeln, ein bisschen Freizeitvandalismus. Und von den stumpfen Bundeswehrtypen dann und wann aufs Maul bekommen. Mitten drin in diesem Eintopf steckt Malte Ahrens, nom de punk: Roddy Dangerblood. Ein Alter Ego von Rocko Schamoni, der im gleichnamigen - und sehr lesenswerten - Roman seine Jugend als Provinzpunk aufschrieb. Aus dem episodischen Roman, der viel darüber verrät, warum man in der Provinz Punk wurde und welche Haltung zum Leben einem das mitgab, hat Regisseur Lars Wessel universell Gültiges destilliert, was auch für heute in der Provinz lebende Sportfreunde-Stiller-Hörer Gültigkeit beanspruchen kann: Die Geschichte eines Sommers, der alles ändert.

Wie die Punkfreunde zusammen am Lagerfeuer eine Band gründeten, durch dick und dünn (und knapp am Ertrinkungstod vorbei) gingen, eine Party sprengten und sich dann auseinanderlebten. Eine Kippzeit, in der vieles zum ersten Mal geschieht: eigenes Konzert (Misserfolg), Knutschen und Fummeln (ungelenk, abgebrochen), Stunk mit den Eltern (liberaler Diskussionsterror). Am Ende liegt viel entzwei, die Freunde schlagen unterschiedliche Karrieren ein: Verdrogter Assi, stalinistischer K-Gruppler und eben Malte, der eigentlich nur seiner Fantasie freien Lauf lassen will. Eine Erlösungsgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen: Steht am Ende eines coming-of-age-Films üblicherweise Aufbruch, steht bei Malte auf der Bühne begangener Unsinn (Rocko Schamoni selbst nahm denn auch im Funpunk-Milieu um die frühen Goldenen Zitronen herum karnevalistische Schlagerplatten auf, heute macht er discolastigen Soul mit Punk als Hintergrundrauschen).



So sympathisch die Grundhaltung von "Dorfpunks" und überhaupt die Leistungen des Laien-Ensembles ist, in der Beschränkung auf den einen Sommer, im Zuschnitt auf diesen einen universellen Moment "Provinz" liegt die Schwäche des Films. Gern hätte man sich das Fragmentarische der Vorlage gewünscht, hätte gern mehr erfahren von der Gefahr, der rebellischen Grundhaltung. Das beschreibt Schamoni in seinem Buch besser.

Immerhin, der herzhaft stampfende und mit viel Liebe zusammengestellte Soundtrack, kann ich als Dorfpunk einer viel späteren Generation vielleicht noch sagen, ist mit Abstand der beste des ganzen Festivals. Und verflucht seltsam ist es, wieviele Filme dieses Festivals auf der Tonspur bei Schwarzbild mit Meeresrauschen beginnen.
Thomas Groh
Lars Jessen: "Dorfpunks". Mit Cecil von Renner, Ole Fischer, Pit Bukowski, Daniel Michel, Axel Prahl. Deutschland, 2009, 93 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Hans-Christian Schmids "Der Sturm" (Wettbewerb)

Der rote Ball am Strand. Die Mutter, das Kind, beide spielen, ganz nah gefilmt. Eine intime Szene, die im nächsten Schnitt erweitert wird: Die Totale zeigt die Mitarbeiter des Zeugenschutzprogrammes, die wenige Meter weiter die Szenerie absperren. Die Spannung zwischen Privatleben und Verpflichtung gegenüber dem Recht, aus der der ganze Film seine Dialektik bezieht - in diesem recht späten Moment kommt sie bildhaft zum Ausdruck.



Die Mutter ist eine wichtige Zeugin in einem Kriegsverbrecherprozess in Den Haag. Es geht um ethnische Säuberungen während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Der frühere Zeuge, Alan, Bruder der Mutter, hat nach verzweifelter Falschaussage Selbstmord begangen und damit jahrelange Ermittlungsarbeit in Frage gestellt. Der Angeklagte, Druric, genießt in seiner Heimat mittlerweile den Ruf eines nationalistischen Märtyrers. Hannah Maynard ermittelt als Staatsanwältin im reiferen Alter, die privat mit ihrem bärbäuchigen Freund, ein Diplomat in Brüssel, schmust und gerne schokoladigen Freuden nachgeht. Um den Fall fortführen zu können, sind enorme Anstrengungen nötig: Die Mutter, die in einem Vergewaltigungsgcamp unter Leitung des Angeklagten interniert war, lebt mittlerweile in Deutschland, ist im Familienleben angekommen und will die Vergangenheit ruhen lassen. Einschüchterungen und Todesdrohungen bosnischer Nationalisten tun das übrige.

Die Wahrheit der Kriegsgeschehnisse stehen von vornherein nicht zur Disposition; Wahrheitsfindung hier nicht das erste Ziel. Stattdessen erzählt Hans Christian Schmids "Sturm" von den Strukturen des Zwangs, des zähneknirschenden Ausgleichs zwischen diplomatisch-politischen Interessen - schnellstmöglich soll das einstige Kriegsgebiet in die EU eingegliedert werden - Recht und Moral - Bestrafung von Kriegsverbrechen - und privatem Glück. Ein Gutteil der Handlung besteht gerade aus der schmerzlichen Überzeugungsarbeit der Staatsanwältin, against all odds die traumatisierte Zeugin aus der Privatheit in die Öffentlichkeit zurückzuholen.



Beide, Staatsanwältin und mühsam in den Zeugenstand geholte Zeugin, sehen sich dabei auch Männerwelten gegenüber. Die verflochtenen Strukturen von Justiz und Politik sind, bei aller Verflüssigung klassisch patriarchaler Strukturen, noch immer männerdominiert; die Mühen der Anwältin werden rasch als Karrierismus diffamiert; demgegenüber ist die Zeugin blanker viriler Rohheit ausgesetzt. "Sturm" auch ein Film über die Solidarität unter Frauen. Hans-Christian Schmid setzt das mit souveräner Hand als Spagat zwischen sachtem Genrethrill und Entwirrung des Chaos, den der politisch noch immer fragile Balkan darstellt, um.

Und wie seltsam nahe manche Filme im Wettbewerb oft liegen. Kurz nach der Vorführung begegne ich David Hudson vom Daily-Blog des Independent Film Channel vor dem Berlinalepalast. Beide kommen wir auf "The International" von Tykwer zu sprechen, der tags zuvor lief. Deutsche Regisseure drehen multilinguale Filme vor dem Hintergrund internationaler Interessenskonflikte. "Aber so muss man es machen", sagt Hudson, dem "The International" kaum gefiel, über "Sturm".
Thomas Groh
Hans-Christian Schmid: "Sturm". Mit Kerry Fox, Anamaria Marinca, Stephen Dillane, Rolf Lassgard. Deutschland, Dänemark, Niederlande 2009, 110 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Spät-Slackertum mit semi-abgründigen Liebeshändeln: Sebastian Schippers "Mitte Ende August" (Forum)

Eine erst heitere, dann düstere, dann groteske, dann melancholische Geschichte um Ehe und Liebe, um die Beziehungen zwischen Menschen, die einander nahe sind, wenngleich vielleicht nicht nahe genug, oder vielleicht sogar zu nahe, möchte Sebastian Schipper (im Bild) in "Mitte Ende August" wohl erzählen. Er schickt dafür, wie es in deutschen Filmen der letzten Jahre ("Sie haben Knut", "Ferien", nur zum Beispiel) auf so langsam doch sehr verdächtige Weise in Mode gekommen ist, seine Protagonisten aufs Land. Er entfernt sie also - äußerlich jedenfalls - aus allen größeren Zusammenhänge von Gegenwart und Geschichte und konzentriert sich ganz auf Anziehungs- und Abstoßungskräfte des künstlich begrenzten und isolierten Personals.

Für Experimentalanordnungen dieser Art gibt es ein schwerlich erreichbares Vorbild, nämlich den vielleicht größten Roman deutscher Sprache: die "Wahlverwandtschaften" von Johann Wolfgang von Goethe. Ihn zu verfilmen, nicht weniger, hat sich Sebastian Schipper vorgenommen, und schon in den allerersten Bildern wird ein Verfahren der Anspielung etabliert. Während bei Goethe Eduard nicht nur als Mann in den besten Jahren, sondern auch als Pfropfreiser aufbindender Gärtner eingeführt wird, sehen wir Schippers Helden Thomas (Milan Peschel) beim Blumengießen auf dem Balkon. So wird, nicht nur hier, symbolisch hoch Aufgeladenes ins Lapidare transformiert. Und natürlich ist schon die Besetzung des Eduard mit dem Ex-Volksbühnen-Star Milan Peschel ein Akt geradezu brutaler Entkrampfung.

Sonst aber stimmt die Grundkonstellation: Ein Paar in den besten Jahren sucht nach Vorgeschichten mit anderen Partnern einen - allerdings hier: eher temporären - Rückzugsort. Man kauft ein Haus, richtet sich neu ein. Entwürfe zur neuen Anlage des Lebens wie der Umgebung werden gemacht. Ruhe will man erst haben, lädt dann aber doch einen Mann ein, hier ist's Thomas' Bruder (Andre Hennicke), und eine Frau, hier ist's das Patenkind Augustine (Anna Brüggemann). Der Keim eines Unheils ist gelegt und das Unglück wächst sich zur Tragödie aus. Hier nicht ganz so tragisch wie im Roman, aber doch gravierend genug. Die Übertragung also einer einerseits archetypischen, von Goethe allerdings sehr genau auch historisch verorteten Vierecksgeschichte. Regietheater, Umkostümierung.

Oder ist das alles bis hierhin vom falschen Ende her beschrieben? Ist "Mitte Ende August" vielleicht gar keine Verfilmung? Sondern eine Twenty (Anna Brüggemann)-Thirty (Marie Bäumer)-Forty (Milan Peschel, Andre Hennicke)-Something-Studie, in die dann, später, im Film, Gert Voss als Sixty-Something mit der Wildheit der theatererprobten Rampensau hineinfährt? (In der bunten Vermischung von TV-, Kino- und Theaterstar- und Starlet-Personal drängt sich wiederum Thomas Arslans unendlich viel fester gerahmte Land-Etüde "Ferien" zum Vergleich auf.) Aber warum dann die in der Summe doch sehr konsequenten Roman-Verweise in Verschiebungen, Verdichtungen, Allusionen? Also die Partnerbäume, die das freilich ungleich komplexere chemische Gleichnis quasi ersetzen. Also das Boot und der damit verbundene Namensvorschlag "Blaue Augen", in dem der illegitime Sohn Otto lässig nebenbei auf-, wenn auch, ungeboren, wie er bleibt, nicht untergeht. Also das Blumengießen und der Ehebruch, der Hauptmann als Profi und mancherlei mehr.

Der Vergleich drängt sich unentwegt auf, weil Schipper unentwegt Bezüge herstellt. Wäre dann aber gerade die Differenz von Fallhöhe und Ausmaß dessen, was auf dem Spiel steht, die eigentliche Botschaft des Films? Dass also, was im Roman strengstens gefügt und Symbol und Unerbittlichkeit ist, eine Meditation über die unlösbare Verstrickung von Wollen und Trieb, von Tun und Getriebensein, heute nur noch als handkamerabildförmig gewordenes Spät-Slackertum mit semi-abgründigen Liebeshändeln denkbar ist? Kann man das glauben? Nimmt man es Schippers Viererkonstellation ab? Und ist sie in sich wirklich überzeugend? Als Liebestragödie mit eher heiterem Beginn, als Beziehungsporträt, als Ferienschicksalsdrama, als Vierecksgeschichte aus unserer Gegenwart? Und wenn sie als eins davon oder alles zugleich überzeugte - ich kann's nicht sagen, weil von den "Wahlverwandtschaften" als Vorlage, wie ich zugebe, von Anfang bis Ende bedrängt -, wozu dann Goethe? Eine Antwort darauf müsste der Film geben. Mir scheint eher, dass er sie letztlich verweigert - und darum nicht einmal als das reüssiert, was er sein könnte, wollte er nicht auf diffuse Weise doch mehr.
Ekkehard Knörer
Sebastian Schipper: "Mitte Ende August". Mit Marie Bäumer, Milan Peschel, Andre Hennicke, Anna Brüggemann u.a. Deutschland 2009, 92 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Wienerische Form der Boheme: John Cooks "Schwitzkasten - Clinch" (Forum)

Hermann hat blondgelocktes Haar und schaut darunter mal finster, mal gelangweilt, immer etwas lethargisch, ab und an auch verschmitzt lächelnd in die Welt. Er verliert seinen Job, zu Hause geht ihm der erfolgreiche Bruder auf die Nerven, irgendwann findet er einen anderen Job und am Ende heiratet er. Die Hochzeitsszene ist die schönste im Film, und überhaupt habe ich im Kino noch nicht viele schönere Hochzeiten gesehen. Viel hat sich am Ende nicht geändert an Hermanns Einstellung zur Welt, aber doch ein wenig, und dieses wenige ist genau das, worauf es ankommt: Ein klein wenig genauer ist Hermanns Blick auf sein eigenes Leben geworden.



John Cook (Bild oben) hat nur fünf Filme gedreht, vier davon in Österreich. Lange Zeit war sein Gesamtwerk in der Versenkung verschwunden und doch blieb der Kanadier stets eine legendäre Figur in den Filmgeschichtsschreibungen seiner Wahlheimat Wien. So manchem gilt der ausländische Außenseiter als die Verkörperung eines Versprechens, das das österreichische Kino bis heute nicht einlösen konnte. Für den Filmkritiker Olaf Möller beispielsweise hatte das Cooksche Kino das Potential, einen spezifisch österreichischen "Realismus-Komplex" aus dem Weg zu räumen. Nun, da drei Schlüsselwerke auf DVD erschienen sind und zwei davon den Weg auf die Berlinale gefunden haben, kann man sich selbst ein Bild machen.

Als er mit seiner österreichischen Freundin Elfie Semotan nach Wien übersiedelte, hatte Cook bereits eine veritable Karriere als Modefotograf und Industriefilmer hinter sich. In Österreich dreht er zunächst einen mittellangen Dokumentarfilm, "Ich schaff's einfach nimmer", danach folgen die beiden Filme, die seinen Ruhm begründen und die beide dieses Jahr im Forum zu sehen sind. "Langsamer Sommer", über mehrere Jahre hinweg produziert und 1976 veröffentlicht, ist ein dezidiert persönliches Projekt, eine Art Meta-Slacker-Film, in dem Cook und einige Freunde sich selbst spielen. Der auf 8mm gedrehte und auf 35mm augeblasene episodisch erzählte Film erinnert bisweilen an Jean Eustaches "La Maman et la putain" oder manche Filme des New American Cinema, allerdings wirkt aus heutiger Perspektive manches doch etwas beliebig - zumindest für alle, die keinen gesteigerten Bezug haben zu der spezifisch wienerischen Form von Boheme, die Cook porträtiert (und vermutlich sehr gut zu fassen bekommt).

"Schwitzkasten" aus dem Jahr 1978 ist ein Film von klassischerem Format, in Farbe statt Schwarz-Weiß, vor allem aber einer mit stärkeren Konturen, die dem Cook-Kino gut tun. Das Drehbuch basiert auf einem Roman Helmut Zenkers. Zenker, der unter anderem die, nein DIE österreichische Kultfernsehserie "Kottan ermittelt" schuf, und nach dessen Vorlage Cook später noch einen weiteren Film namens "Artischocke" drehte, war Besitzer eines Parteibuchs der Kommunistischen Partei Österreichs. So wundert es nicht, dass "Schwitzkasten" gleich in mehreren Passagen klassenkämpferisch daher kommt. Der erste Kapitalist, der im Film auftritt, ist bewaffnet. Die Proletarier wissen sich zu wehren. Freilich treibt Hermann und seine nur wenig vitaleren Kollegen kein feuriges revolutionäres Pathos um. Statt dessen wird dezidiert unenthusiastisch und grantelig Klassenkampf betrieben. Das heißt vor allem: gemeinsam herumstehen und über die Chefs motzen. Auch die dialektischen Schritte, die Hermann und der gesamte Film dann in Richtung Klassenbewusstsein unternehmen, sind wohltuend prosaisch.

Wie im Vorgänger gibt es auch in diesem Film eine spezifische Form von Realismus. Es geht um genaue soziale Konstruktionen, die sich organisch aus kleinen Beobachtungen ergeben und ein Milieu erschaffen, statt es vorauszusetzen. Und es geht um eine bedingungslose Empathie mit den Figuren, um eine Empathie, die moralische Wertungen unmöglich macht und für eine zart anarchische Note sorgt in einem Film, der ohne sie leicht zum didaktischen Versuchsaufbau hätte geraten können.

Zu dieser anarchischen Note trägt auf ganz eigene Art eine absichtlich krude gezeichnete Figur bei: Der selbsterklärte sozialdemokratische Dichter Ehrlich, der in seiner Lyrik dem Volk aufs Maul schauen möchte, traut seiner eigenen, ebenfalls selbsterklärten Authentizität nicht und zeichnet deshalb seine Gespräche mit Hermann als Inspirationsquelle auf Tonband auf. Als Hermann das versteckte Aufnahmegerät entdeckt, schaut er kurz verdutzt, spricht dreimal in breitem Wienerisch "Oaschloch!" ins Mikrofon und setzt sich anschließend wieder an den Küchentisch, mit einem Blick, der vielleicht noch ein wenig ausdrucksloser ist als sonst.
Lukas Foerster
John Cook: "Schwitzkasten - Clinch". Mit Hermann Juranek, Christa Schubert, Franz Schuh, Waltraud Misak u.a. Österreich 1978, 97 Minuten. (Alle Vorführtermine)