9punkt - Die Debattenrundschau

Die Besten in der Hölle

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2023. Wer tötete Prigoschin? Eigentlich egal, denkt sich der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der FAZ, es wird sich schnell ein Nachfolger für ihn finden. Wer soll eigentlich noch die Grenzen der Meinungsfreiheit kennen, wenn selbst das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage vage bleibt, fragt ebenfalls in der FAZ der Jurist Uwe Volkmann. In der FR erklärt die Juristin Rivka Weill, warum der israelische Gerichtshof längst nicht so viel Macht hat wie behauptet. Und: alle diskutieren Hubert Aiwanger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.08.2023 finden Sie hier

Europa

Mit der Wagner-Truppe wird es zumindest in Afrika auch nach dem Tod Prigoschins so weitergehen wie bisher, meint der Wagner-Experte John Lechner im Interview mit der taz. "Russland ist weder logistisch noch ressourcenmäßig in der Lage, sein Militär nach Afrika zu schicken. Außerdem gibt es derzeit einfach keine andere Söldnerfirma, die Einsätze in Afrika in diesem Umfang stemmen könnte. Zumindest sehe ich derzeit keine Firma, die näher am Verteidigungsministerium ist und einfach an die Stelle der Wagner-Gruppe treten könnte. Hinzu kommt, dass Wagner beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik über ein umfangreiches institutionelles Wissen und Expertise in Bezug auf Afrika verfügt. Das ist notwendig, um diese Operationen am Laufen zu halten." Dass sich afrikanische Staaten zum Tod Prigoschins äußern werden, hält Lechner für unwahrscheinlich: "Es gibt gerade in Afrika derzeit ein Interesse, so zu tun, als wäre nichts gewesen, damit man so weitermachen kann wie bisher."

Wer tötete Prigoschin? Eigentlich egal, denkt sich auch der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der FAZ: "Prigoschin ist eine große bösartige Geschwulst am Körper des Putinismus. Mit seinem Tod wurde sie herausgeschnitten, aber an ihrer Stelle werden neue Geschwülste entstehen. Die russische Autokratie braucht die Besten in der Hölle - jene, die nicht nur zynisch, unmenschlich, gnadenlos, sadistisch sind, sondern dabei absolut prinzipienlos, das heißt, alle ihre Handlungen sind eigennützig, und alles andere ist nichts als politische Dekoration. Prigoschin hat Erfahrung in Unmenschlichkeit unter Banditen in Gefängnissen und Lagern gesammelt, wohin er als Zwanzigjähriger geriet und wo er insgesamt neun Jahre wegen Diebstahls, Betrugs und Raubüberfällen einsaß. Diese 'Qualitäten' blieben Jako (so sein Spitzname unter Kriminellen) bis zum Lebensende erhalten, sie trieben seine phantastische Karriere an. Wie beim Kartenspiel setzte er auf Putin als den absoluten Lagerboss und gewann."

Russland ist "Besatzungsmacht" im eigenen Land geworden, schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ. Nawalny, der Nemzow-Vetraute Kara-Mursa und viele andere Oppositionelle sitzen mittlerweile alle in Straflagern. Der Westen sei auch hier wieder auf Putin reingefallen. Aus der von Putin angekündigten "Diktatur des Gesetzes" sei sehr bald eine "Diktatur durch das Gesetz" geworden. Politische Gefangene wurden dabei vollends entrechtet. "Letztlich wurde gerade die katastrophale Lage in den Gefängnissen zum zentralen Argument für die Aufnahme Russlands in den Europarat: Man hoffte auf eine schnelle Modernisierung. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine endete aber die seit 2014 ohnehin wacklige Mitgliedschaft Russlands mit einem Knall. Damit können inhaftierte Oppositionelle keine Eingaben mehr beim Straßburger Menschenrechtsgerichtshof machen. Im russischen Ozean der Lüge und Täuschung gibt es noch eine kleine Insel der Wahrheit. Jedem Verurteilten steht das Recht auf ein 'letztes Wort' zu."

In der taz ist der Orientalist Tigran Petrosyan empört über das Schweigen des Westens zur Belagerung des armenischen Bergkarabachs durch Aserbaidschan. Wie schon 1915/16, als sich niemand über den Völkermord durch die Türken äußern wollte. "Heute stehen wieder Armenier vor dem Hungertod, rund 120.000 Bewohner von Bergkarabach/Arzach. Mit der Absicht, sie in letzter Konsequenz auszulöschen, sind sie auf Betreiben Aserbaidschans seit Monaten von der Außenwelt und damit auch von Armenien abgeschnitten. Diese völkermörderische Situation konnte entstehen, weil die internationale Gemeinschaft - wie auch schon im Ersten Weltkrieg - nicht hinsieht. Auch die Bundesregierung trägt, wie 1915/16 das Deutsche Reich, Mitverantwortung." In der FAS hat auch Rony Othmann eine Kolumne zum Thema geschrieben.

Am 8. Oktober sind in Bayern Landtagswahlen, da sorgte die Geschichte der SZ am Samstag für kräftig Ärger. Der stellvertretende bayerische Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger von den Freien Wählern wurde als 17-Jähriger in der Schule mit einem widerwärtigen Flugblatt im Ranzen erwischt. Erst lautete der Vorwurf, Aiwanger habe es selbst geschrieben, jetzt hat sein Bruder sich dazu bekannt. Hubert Aiwanger hatte stets bestritten, das Flugblatt selbst verfasst zu haben. Er "erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend", hatte er geschrieben. Alan Posener reicht das auf Zeit online nicht. Vor seiner Stellungnahme hatte Aiwanger eine zweite Chance verdient, meint er, jeder habe das Recht, aus seinen Fehlern zu lernen. In diesem Fall verwickele sich Aiwanger aber immer weiter in Widersprüche. Und vor allem: "Auffällig ist, was Aiwanger alles nicht sagt. Er benutzt in seiner Erklärung weder das Wort 'Jude' noch 'Antisemitismus'. Er äußert kein nachträgliches Entsetzen über die damaligen Vorgänge oder seine eigene Dummheit, er zieht keine politische Konsequenz." 

Für Dominik Baur (taz) ist die entscheidende Frage: "Wie hält der Mann es heute mit rechtem Gedankengut? Da haben viele ihre Zweifel. Vor allem nach Erding, nach seinem Auftritt bei Lanz. Nicht zuletzt, weil sich Aiwanger nie entschuldigt hat, von ihm hört man allenfalls lauwarme Relativierungen. Mit der reinen Stilisierung der eigenen Person zum Opfer ist es deshalb nicht getan."

Das Herumstochern in den Jugendsünden einer öffentlichen Person war sonst eher eine Spezialität von Boulevardmedien, aber wenn der Zweck die Mittel der SZ heiligt! Der bekannte Strafverteidiger Udo Vetter wendet auf Twitter allerdings ein: "Nehmen wir mal an, Oberstufenschüler N. hat im Jahr 1988 im Alter von 17 Jahren einen Mitschüler erschlagen. Selbst wenn er vom Jugendgericht wegen schweren Totschlags bestraft wurde, wäre die Tat aus dem Erziehungsregister (Vorstrafenregister für Jugendliche und Heranwachsende) gelöscht. Und zwar seit Jahrzehnten. Wäre das Strafverfahren mangels Tatverdachts eingestellt worden oder hätte es gar keines gegeben, wäre die Tat nach 20 Jahren verjährt. Selbst bei einer besonders schweren Straftat wäre also juristisch längst Gras über die Sache gewachsen."
Archiv: Europa

Ideen

Debattiert werden heute oft nicht mehr konkrete Sachverhalte, sondern das Reden darüber, also, wie man darüber reden sollte oder gar darf, und wie nicht, diagnostiziert der Jurist Uwe Volkmann auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ. Entscheidend sind jetzt Mehrheitsauffassungen in einzelnen Milieus, ein genereller Kompass zu Grenzen der Meinungsfreiheit fehlt hingegen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Aufweichung der Regeln beigetragen, indem es einerseits die Meinungsfreiheit der Bürger immer weiter ausgedehnt hat, andererseits Politiker - und auch sich selbst - zu immer strikterer Neutralität verpflichtet hat, meint Volkmann: "Exemplarisch dafür steht die Entscheidung im NPD-Verbotsverfahren, in der auf insgesamt sechzig bedrückenden Seiten zunächst alles aufgeführt ist, was sich an unerträglichen und menschenverachtenden Stellungnahmen der Partei und ihrer Anhänger findet. Zu einem Verbot kann man sich aber dann doch nicht durchringen, weil die NPD dafür nicht wichtig genug erscheint. So wird am Ende alles auf eine unklare Weise toleriert, die Gesellschaft muss es aushalten, solange es irgendwie unter der Fünfprozenthürde bleibt." Bei diesem Stand der Dinge kann sich Volkmann für das geplante "Demokratieförderungsgesetz" der Ampel erwärmen.

Adam Smith muss oft als Pappfigur für angebliche neoliberale Diskurse herhalten. Dabei intendiert Smith etwas ganz anderes, sagt der Wirtschaftwissenschaftler Russ Roberts im NZZ-Interview mit Christoph Eisenring. "Smith macht einen Unterschied zwischen Eigeninteresse und Gier. Zu schauen, dass es einem gutgeht, ist nicht dasselbe, wie gierig zu sein. Wer gierig ist, rennt dem Geld um seiner selbst willen hinterher. Smith hat keine Achtung dafür. Wenn Smith über Eigeninteresse spricht, dann beschäftigt er sich damit, wie es in der Realität aussieht, nicht mit einem Ideal, wie die Welt aussehen müsste."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

In Chemnitz kam es vor fünf Jahren zu rechtsradikalen Ausschreitungen gegen migrantisch aussehende Personen. Das geplante Jahr als Kulturhauptstadt könnte für Chemnitz jetzt zur Chance werden, gegen die Rechten gegenzuhalten, erklärt der Soziologe Ulf Bohmann im FR-Interview mit Pitt von Bebenburg. "Es gibt nach wie vor eine starke rechte Szene, die allerlei Aktivitäten entwickelt, wo Chemnitz zu einem symbolischen Ort gemacht wird. Zweitens sehe ich, wie sich eine Gegenbewegung organisiert, wo sich Demokratieinitiativen stärker miteinander vernetzen. Und zum Dritten gibt es den Kulturhauptstadt-Prozess. Meine These ist, dass Chemnitz ausgewählt worden ist, weil es ein Modell sein soll, wie eine europäische Stadt mit der Herausforderung von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus umgehen kann."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Ist der ÖRR zu links? Im Interview mit der FR winkt der Medienforscher Wolfgang Schweiger ab: Einem Jan Böhmermann im ZDF steht schließlich ein Dieter Nuhr in der ARD gegenüber, meint er. Außerdem missverstehen viele den Beruf des Journalisten. "Viele meinen, Journalisten dürften gar nicht kommentieren. Sie verstehen nicht, dass ein guter Kommentar einseitig sein muss, weil er dem Publikum ein Angebot für die eigene Meinungsbildung machen will. Die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nutzen diese Missverständnisse und brandmarken Kommentare immer wieder als Nachweis journalistischer Einseitigkeit. Doch solange es in den Öffentlich-Rechtlichen gleichermaßen konservative, liberale und linke Kommentare gibt, ist das ausgewogen und sinnvoll."
Archiv: Medien

Politik

In Israel treibt die rechte Regierung unter Netanjahu ihre Justizreform weiter voran, dabei stellt sie den Obersten Gerichtshof als ihren größten Feind hin. Das ist faktisch falsch, erklärt die in Israel lehrende Verfassungsrechtlerin Rivka Weill im FR-Interview mit Maria Sterkl. "Eines ist wichtig zu verstehen: Egal, was der Gerichtshof entscheidet, die Knesset kann es wieder aufheben, indem sie das Grundgesetz abändert - man braucht dafür ja nur eine einfache Mehrheit. Die Regierung tut so, als hätte sich der Gerichtshof plötzlich zu viel Macht gegeben. Es ist aber seit fast dreißig Jahren unverändert, verschiedene Regierungen waren damit einverstanden. Jetzt plötzlich alles zu verändern, ist problematisch. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Likud (Netanjahus Partei, Anm. d. Red.) das im gesamten Wahlkampf nicht angekündigt hat. Sie behaupten, sie hätten von der Bevölkerung das Mandat für diese Veränderungen bekommen, aber das stimmt nicht."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Im British Museum hat der Kurator Peter Higgs mutmaßlich eine Menge Artefakte geklaut und auf ebay verhökert. Der Chef des Museums, Hartwig Fischer, ist inzwischen zurückgetreten. Die Affäre schwächt die Position des British Museum zu Restitutionen etwa von Benin-Bronzen nun ganz gewaltig, meint Alexander Menden in der SZ: "Das British Museum verteidigt die Integrität seiner Sammlung, indem es argumentiert, es sei in der Lage, die Artefakte in weltweit einzigartiger Weise zu bewahren und zu schützen. Auf der Website des Museums heißt es dazu: 'Das Ziel des Museums ist es, eine für die Weltkulturen repräsentative Sammlung zu besitzen und zu gewährleisten, dass diese Sammlung sicher untergebracht, konserviert, kuratiert, erforscht und ausgestellt wird.' Die Griechen, die jede Gelegenheit nutzen, um die Debatte über den Parthenon-Fries am Laufen zu halten, weisen darauf hin, dass diese Argumentation spätestens jetzt, angesichts der massiven Londoner Sicherheitsmängel, Makulatur sei."

Gina Thomas zitiert in der FAZ den Vorsitzenden des Museumskuratoriums John Osborne. Der "sprach am Wochenende in einem BBC-Interview von einem Gruppendenken an der Spitze des Museums, die nicht wahrhaben wollte, dass ein Mitarbeiter so etwas getan haben könnte. Sie habe lieber nichts sagen wollen, als Gefahr zu laufen, der Institution zu schaden. Das hat sich als Bumerang erwiesen. In Griechenland reibt man sich die Hände, Rufe nach Restitutionen sind noch lauter geworden, und konservative Kulturkrieger werfen dem Museum vor, auf Kosten seiner vorrangigen Aufgabe, nämlich die Sammlungen zu betreuen, seine Energie auf Wokeness verschwendet zu haben."
Archiv: Kulturpolitik