9punkt - Die Debattenrundschau
Das Duisburg Spaniens
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Ideen
In der SZ meldet Kai Strittmatter: "Tatsächlich geht es Liu Xia schlecht, sie leidet offenbar an schwerer Depression. Die Enttäuschung über die erneut nicht genehmigte Ausreise scheint die Lage noch schlimmer zu machen. 'Wenn ich nicht weg kann, dann sterbe ich in meiner Wohnung', sagte sie dem Schriftsteller Liao Yiwu in einem Telefonat am 30. April. 'Xiaobo ist nicht mehr da, und in dieser Welt ist nichts mehr für mich. Sterben ist jetzt einfacher als am Leben zu bleiben.'" Im Interview mit Spon rät der Menschenrechtsaktivist Hu Jia Diplomaten, sich lautstark für Liu Xia einzusetzen: "Unterwerft euch nicht der Logik der chinesischen Regierung. Macht so viel Lärm wie möglich - wann immer ihr das könnt."
"Verstörend" erscheint Olaf Gersemann in der Welt der aktuelle Marx-Hype, vor allem auch, weil er die Kapitalismuskritik nicht weiterbringe: "Marx-Getreuen bleibt nur, weiter eine fallende Lohnquote zum Naturgesetz zu erklären und daraus abzuleiten, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden müssen. Das eine ist - nachweisbar - so falsch wie das andere. Und daher können die Sympathisanten heute so wenig zur Lösung der sozialen Frage beitragen wie ihr Idol es im 19. Jahrhundert vermochte. Wer einen Automatismus via Verelendung in die Revolution unterstellt, mag sich nicht kümmern um Details, Differenzierung oder gar Empirie." Im Feuilleton-Aufmacher der SZ erklären Literaturkritiker unterdessen Marx-Metaphern.
In der Jüdischen Allgemeinen schreibt Martin Krauss über Religiosität, den Antisemitismus von und antisemitische Attacken gegen Karl Marx: "In Marx' Werk finden sich etliche Passagen, die von Ressentiments, teils Hass auf Juden geprägt sind. Doch, das sagen auch seine Kritiker, das ist keine geschlossene Weltanschauung. Marx'sche Wertanalyse und Kritik der politischen Ökonomie sind nicht antisemitisch."
Der globale Armutsreferenzwert liegt bei knapp 60 Euro im Monat, schreibt der Ökonom Wolfgang Fengler in der SZ und kritisiert, dass in vielen Staaten Europas eine relative Armutsdefinition verwendet werde - diese führe nicht zur Definition von Armut, sondern beschreibe lediglich Ungleichheit: "Zum Beispiel war die Ungleichheit in Deutschland und in der Welt bis zum Jahr 1800 recht gering. Fast alle Menschen waren gleich, nämlich gleich arm. Wenn man den 'Armutsbericht' damals veröffentlicht hätte, wäre die offizielle Armut nahe null gelegen, weil mehr als 95 Prozent der Menschen unter fast gleichen, meist schrecklichen Umständen lebten. Wenn man umgekehrt heute alle Realeinkommen verdoppeln würde, inklusive Hartz-IV-Satz, bliebe die Anzahl der Armen trotz des enormen Wohlstandsgewinns gleich. Schließlich könnten wir zum Ergebnis kommen, dass arme Länder mit moderater Ungleichheit, zum Beispiel Bangladesch oder Tadschikistan, plötzlich eine ähnliche Armutsquote hätten wie Deutschland."
Kulturpolitik
Europa
Im politischen Teil der SZ blickt Sebastian Schoepp auf die Wurzeln des baskischen Nationalismus, der im 19. Jahrhundert aus Angst entstanden sei, als Volksgruppe auszusterben: "Bilbao wurde im Zuge der Industrialisierung zum Botxo, zum rußverseuchten 'Loch', dem Duisburg Spaniens. Dagegen formierte sich ein Nationalromantizismus, der von Kirchenmännern befeuert wurde. 1881 erschien das Epos 'Peru Abarca' des Priesters und Hochschullehrers Juan Antonio Moguel Urquiza, der erste baskische Roman. In ihm ersteht das Idealbild des fleißigen, knorrigen, geradlinigen Basken, der in Einheit mit Mutter Erde und nach der Sitte der Vorväter lebt. Das Leben spielt sich ab um das Caserío, die dick ummauerte rustikale Heimstatt, und die Herde, die um jeden Preis verteidigt werden müssen."
Im Ausland steht Emmanuel Macron mit einer Gloriole da. Im Inland wollte er 1968 feiern und erlebt das Jahr statt dessen als Remake, schreibt Jürg Altwegg in der FAZ: "Universitäten werden besetzt und von der Polizei geräumt. Der Bahnstreik lähmt das Land und wird geführt, als gehe es um die historische 'Schienenschlacht' des antifaschistischen Widerstands im Krieg. Auf den Bau des Flughafens bei Nantes hat die Regierung verzichtet - die Besatzer sind geblieben. Bürger, die in den Alpen den Flüchtlingen das Leben retten, werden ins Gefängnis gesteckt. Die Demonstrationen des diesjährigen 1. Mais waren zerstörerisch wie schon lange nicht mehr."
Geschichte
Internet
Gesellschaft
Von einer kontroversen, allerdings nur in Anwesenheit eines Imams geführten Diskussion über das Kopftuchverbot in der Dar-as-Salam-Moschee in Berlin-Neukölln mit 13 Musliminnen aus Syrien, Libanon, Marokko und Palästina berichtet auf Zeit Online die syrische Autorin Souad Abbas: "Der Standpunkt der islamischen Theologie zur Verschleierung junger Mädchen sei eindeutig, erklärt Taha Sabri, der Imam. Erst mit dem Beginn der Pubertät werde das Tragen des Kopftuchs zu einer religiösen Pflicht, ein kleines Mädchen mit unbedecktem Haar verletze somit kein religiöses Gebot. Zudem spiegele die muslimische Community in Deutschland die Diversität der Gesellschaften wider, aus denen die Muslime eingewandert sind."