9punkt - Die Debattenrundschau

Deutlich eins reinwürgen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2017. Die Ausstrahlung des Films "Auserwählt und ausgegrenzt" und die Diskussion darüber gerieten zur hochnotpeinlichen Angelegenheit, meint Spiegel online - so etwas muss wohl passieren, wenn man einen Film zugleich zeigen und sich von ihm distanzieren will. Erstmals äußern sich in Télérama auch französische Stimmen zu dem Film: Das Magazin hat ausschließlich scharfe Kritiker gefunden. Jörg Baberowsiki darf laut einem Gerichtsurteil als rechtsextrem bezeichnet werden. Anlass für Wolfgang Benz, im Tagesspiegel nachzutreten.  Seyran Ates' liberale Moschee ist nun laut Zeit online auch Gegenstand einer Fatwa der Al-Azhar-Universität in Kairo - "im Klartext: todeswürdig".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.06.2017 finden Sie hier

Medien

Die Ausstrahlung des Films "Auserwählt und ausgegrenzt"  geriet gestern zur hochnotpeinlichen Angelegenheit - der WDR schuf sogar eine eigene Internetadresse zum "Faktencheck", um die redaktionelle Prüfung nachzuholen, die man den Filmemachern zuvor offenbar gar nicht konzediert hatte. Selbst Arno Frank von Spiegel online, der nach der Präsentation des Films bei bild.die das übliche Argument seiner Gegner brachte - der Film habe handwerkliche Mängel (unser Resümee) - kann in seiner heutigen Besprechung des Films und der Diskussion (Video in der Mediathek) nur abwinken: "So redlich der Versuch sein mag, eine Dokumentation zu zeigen und sich gleichzeitig von ihr zu distanzieren, so gründlich ging er in die Hose. Zumal die obsessive Akribie, mit der im 'Faktencheck' noch das kleinste Haar in der Suppe gesucht wurde, den Befürwortern des Films in die Hände spielte." Wird man am Ende zugeben müssen, dass es den im Film beschriebenen Antisemitismus tatsächlich gibt?

Michael Hanfeld erinnert im faz.net daran, dass der WDR bei anderen Dokumentationen weit liberaler verfuhr, etwa "als er vor einigen Wochen einen von seiner Machart her um einiges fragwürdigeren Film über den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zeigte" (unser Resümee). "In diesem Film, den der WDR erst nach Kritik von außen in einigen Punkten veränderte und das auch nicht unbedingt transparent, wurde Wilders mehr oder weniger als Repräsentant einer jüdischen Weltverschwörung dargestellt." Matthias Drobinski bespricht Doku und Diskussion für sueddeutsche.de. Bei den Salonkolumnisten schreibt Richard Volkmann.

Sehr scharf kritisiert Michael Wuliger in seiner Kolumne für die Jüdische Allgemeine antiisraelische Tendenzen der öffentlich-rechtlichen Sender - trotz und gerade wegen der Nachricht, dass die ARD doch die proisraelische Doku "Auserwählt und ausgegrenzt" sendete: "Die Verantwortlichen des Westdeutschen Rundfunks (WDR) haben nicht aus Einsicht gehandelt, sondern taktisch. Sie wollten die Kuh vom Eis holen, bevor ihr peinliches Rumgeeiere den Ruf von ARD und WDR noch mehr beschädigt hätte, als er ohnehin schon ist. Der Widerwille gegen die Dokumentation war noch der Presseerklärung des Sender deutlich anzumerken: Fünfmal ist in dem kurzen Text von 'Mängeln' der Dokumentation die Rede, als wollte man den Autoren noch deutlich eins reinwürgen."

Erstmals sind auch französische Stimmen zu dem Film zu hören, die das linkskatholische Magazin Télérama (das zu Le Monde gehört) gesammelt hat. Drei Historiker reißen die Doku in Stücke, etwa der Zeithistoriker Johann Chapoutot: "Die Gesamtthese des Films ist von unerträglicher intellektueller und moralischer Grobheit: ein erster Holocaust wurde von den Deutschen begangen, die seit Golgatha von Antisemitismus vergiftet sind (die zu kurze Sequenz über das Christentum hätte ausgebaut werden dürfen), und ein zweiter steht bei den Arabern/Muslimen an, die den Hass auf die Juden mit der Muttermilch aufgesogen haben. Dieselben Ursachen, dieselben Wirkungen, und unsere tapferen deutschen Dokumentarfilmer berufen sich auf ihre ganze angeborene Schuld und nachfolgende Verantwortung, um eine Welt aufzuklären, die taub und stumm ist."
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Religion

Gestern meldete Spiegel online, dass Seyran Ates' neue liberale Moschee in Berlin von türkischen Medien als Gülen-Projekt verunglimpft wird (unser Resümee). Heute berichtet Evelyn Finger bei Zeit online, dass nun die Religionswächter der Al-Azhar-Universität in Kairo mit eine Fatwa aufwarten: "Sie ist mit einem Foto der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee illustriert und besagt: Eine Frau darf kein Gebet anleiten, Frauen und Männer dürfen nicht im selben Raum beten, Frauen in einer Moschee nicht ohne Kopftuch sein. Denn dies sei unislamisch. Im Klartext: todeswürdig."
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Überwachung

Markus Reuter fasst in Netzpolitik nochmal zusammen, worum es in den allerletzten Gesetzen vor den Wahlen geht: "Die Ausweitung des Staatstrojaners ist das krasseste Überwachungsgesetz der Legislaturperiode. Es kommt versteckt in einem ganz anderen Gesetz, damit erst gar keine politische Debatte darüber entsteht. Als wäre das nicht genug, schwebt weiterhin das Damoklesschwert des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes über der Presse- und Meinungsfreiheit im Netz. Das Hate-Speech-Gesetz von Maas wird schon jetzt fast einhellig als Fall für Karlsruhe gehandelt."

Ungefähr fünfzig neue Strafgesetze wurden in den letzten zehn Jahren erlassen. Und noch mal so viele im Prozessrecht, Telekommunikationsrecht oder Polizeirecht. Sind wir nun viel sicherer? Nein, können wir auch gar nicht, meint Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am BGH, in der Zeit. "Denn 'Sicherheit' ist eine nach oben offene Forderung - immer unermesslich: Sie ist, wenn man ihren Sinn auf Kontrolle und Verfolgung beschränkt, ein totalitärer Begriff. Man könnte ja immer noch unendlich viel mehr tun: allen Personen mit radikalen politischen Ansichten elektronische Fußfesseln anlegen; alle Patientendateien aller Psychologen und Psychiater beschlagnahmen; alle Alkoholiker als Gefährder von Frauen und Kindern registrieren; jährliche Wiederholungen der Fahrerlaubnisprüfung vorschreiben; alle Wohnungen vorsorglich alle drei Jahre durchsuchen..."

Oder das Bargeld abschaffen. Schweden ist gerade auf dem Weg dorthin, berichten Lisa Nienhaus und Jens Jönnesmann in der Zeit. Doch ausgerechnet der ehemalige der Polizeichef von Schweden glaubt nicht, dass damit die Kriminalität eingedämmt würde: "Einerseits würden Kriminelle immer Wege finden zu bezahlen, sagt er. Andererseits lasse sich mit Kreditkartenbetrug ebenso Geld erbeuten wie durch Überfälle. Zahlen des schwedischen Justizministeriums belegen das: Zwar ist die Zahl der Überfälle auf Banken und Geldtransporter in Schweden in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken, von mehr als 200 im Jahr 2008 auf unter 40 im Jahr 2015. Zeitgleich vervielfachten sich allerdings betrügerische Zahlungen mit gestohlenen Karten von knapp unter 20.000 auf fast 70.000 im Jahr."
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Ideen

Darf man aus der Tatsache, dass man Jörg Baberowski laut einem Gerichtsurteil rechtsradikal nennen darf, schließen, dass er es ist? Der einst als Antisemitismusforscher tätige Wolfgang Benz macht sich darüber im Tagespiegel nicht lange Gedanken und tritt nach: "Der medial durchaus präsente Baberowski wird sich weiterhin als Märtyrer inszenieren und dabei das Argument strapazieren, es gebe für bestimmte Positionen keine echte Meinungsfreiheit in diesem Land. Oder man dürfe in Deutschland zwar Meinung haben und äußern, werde dafür aber abgestraft. Man muss freilich kein linker Sektierer sein, um Baberowskis Einlassungen zu Tagesthemen, etwa zum Umgang mit Flüchtlingen, ähnlich anstößig zu finden wie manche Verlautbarungen der AfD."

Außerdem: Die Welt bringt gleich drei Seiten zum 250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts. In der NZZ fragt der Schweizer Philosoph Eduard Kaeser: "Was geschieht, wenn künstliche neuronale Netzwerke sich selbständig machen?
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Gesellschaft

Jan Feddersen blickt in der taz auf die Frau und die Söhne Helmut Kohls und stellt fest: Kohl war der Totengräber der bürgerlichen Familie. "Mit Helmut Kohl ist der prominenteste Bigottling der christdemokratischen Szene gestorben - ein Mann, der sein Fühlen in den falschen Fuffzigern lernte, falls er dies lernte, und der mit Modernitäten (Feminismus, Familienstrukturen ohne Männerernährermodell, sexual otherness) nichts anfangen wollte. Friede seiner Seele, so er eine hatte: Jovial und menschenfreundlich war er in Männerhorden, und das auch nur als Anführer."
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Stichwörter: Kohl, Helmut, Feminismus

Europa

Anderthalb Jahre lang hat der Untersuchungsausschuss des Bundestags zu den NSU-Morden gearbeitet. Nun legt er einen Bericht vor, den Konrad Litschko für die taz vorab gelesen hat. Kritik an der Arbeit der Behörden kommt von allen Fraktionen. Kritisiert wird etwa, dass die Bundesanwaltschaft den NSU immer nur als Trio sah und nicht als Teil eines viel weiter gespannten Netzwerks, das etwa die Sächsin Mandy Struck einschloss: "Dem NSU-Trio vermittelte sie die erste Wohnung nach dem Untertauchen, Zschäpe lieh sie ihre Personalien. Dennoch konnte sich Struck den Ermittlern als unbedeutend präsentieren. Der NSU-Ausschuss gewann ein anderes Bild: Eine 'Macherin' sei Struck gewesen, wiederholt an Neonazi-Aktionen beteiligt und mit Szeneangehörigen liiert. Sie stehe für Helfer, die Ermittler 'intensiver in den Fokus nehmen' hätten müssen." Ein anderer wichtiger Kritikpunkt: eine Nähe zwischen Diensten und V-Leuten, die geradezu als Promiskuität durchgehen kann.

Gestern lieferte die Queen ihre übliche "Queen's speech" zur Eröffnung des Parlaments. Nächste Woche wird über die Rede abgestimmt. Für Theresa May ist jeder folgende Schritt ein Überlebensrisiko, schreibt Tom McTague bei politico.eu: "Sollte sie die Abstimmung über die die Rede der Königin gewinnen, wird der nächste große Test das 'Repeal Bill' sein, ohne das es keinen Brexit geben kann. Das Gesetz widerruft den parlamentarischen Akt, der dem EU-Recht Geltung ion Britannien gab." Und danach geht es noch um Immigration, Zoll, Handel, Landwirtschaft, und weiteres...
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