9punkt - Die Debattenrundschau

Komplett unregulierte Ökosysteme

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2017. taz und Freitag werfen Alice Schwarzers Emma, die gerade vierzig wird, mangelnden Antirassismus und allzu dezidierten Universalismus vor. Der Informatiker Manfred Broy und der Philosoph Richard David Precht fürchten in der Zeit ein weiteres Fortschreiten der digitalen Revolution. Die amerikanische Pressefreiheit ist keineswegs so abgesichert wie viele glauben, mahnt die New York Times. Die SZ besucht das neue Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs und fragt sich, wie lange seine Ausstellung das Kaczynski-Regime übersteht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.01.2017 finden Sie hier

Ideen

Eine der ungeführten Debatten der Gegenwart ist die zwischen Feminismus und dem postkolonialen Genderdiskurs, der sich zuweilen ebenfalls als Feminismus bezeichnet, aber die Frauenfrage dem Antirassismus unterordnet. Die taz bringt heute ein Dossier zu vierzig Jahren Emma. In der Kritik an Emma, die die von Heide Oestreich in der taz befragte  Kommunikationswissenschaftlerin Martina Thiele formuliert, tut sich dieser Spalt in wenigen Worten auf: Weil sich Emma "den Antisexismus auf die Fahne geschrieben hat, geht der Antirassismus dabei verloren. Die Emma ist auf einem Auge blind. Sie müsste sehen, wie auch Kräfte von rechts ihre Aussagen benutzen."

Auch Gratulantin Ulrike Baureithel im Freitag sieht Alice Schwarzers frühes Engagement gegen Islamismus eher kritisch: "Den Kreuzzug gegen den 'Gottesstaat' mitten in Deutschland hatte Schwarzer, ihren der französischen Zweitheimat geschuldeten universalistischen Überzeugungen treu, schon Ende der siebziger Jahre ausgerufen. In der Auseinandersetzung um das Kopftuch positionierte sich Emma immer klar dagegen. Die Kölner Silvesterereignisse aber lieferten Schwarzer den Anlass, eine neue Islam-Debatte 'ohne politische Correctness' ins Rollen zu bringen und gegen 'falsche Toleranz' im Namen einer 'ominösen Religionsfreiheit' zu polemisieren." Bleibt noch die Frage, wie man im Namen universalistischer Werte einen Kreuzzug ausruft.

Große Sorgen um unsere Zukunft machen sich in der Zeit der Informatiker Manfred Broy und der Philosoph Richard David Precht. Die digitale Revolution schreitet voran, aber ein positives Zukunftsszenario verbindet sich damit nicht, meinen die beiden und wünschen sich eine Debatte: "Wenn unsere Demokratie aber bereits vor dem großen digitalen Sturm eine Zerreißprobe erlebt, wie wird es dann in wenigen Jahren um sie stehen, wenn erst Banken und Versicherungen, dann die Automobilindustrie und ihre Zulieferfirmen Hunderttausende Mitarbeiter entlassen? Fast ein Jahrhundert hat es gebraucht, bis der ausgebeutete Proletarier des 19. Jahrhunderts zum abgesicherten Arbeiter wurde. Wollen wir uns im 21. Jahrhundert auf ein erneutes soziales Desaster einlassen?"

Timothy Garton Ash bekommt in diesem Jahr den Karlspreis der Stadt Aachen. Zu spät, meint Thomas Schmid in seinem Blog, denn Garton Ashs Gespür für die Geschichte, das er vor 1989 gezeigt habe, habe nach dieser Wende versagt: "Auch wenn er ein aufmerksamer Beobachter der Details blieb, hat er - stellvertretend für eine große Zahl von Gutmeinenden - beharrlich so getan, als habe 1989 ein goldenes, zumindest besseres Zeitalter begonnen. Doch es kam ganz anders. Obwohl sich die Erfolgsgeschichte Osteuropas fortsetzte, kehrten doch zugleich die alten Dämonen zurück. Das bereitete sich lange vor, heute ist es nicht mehr zu übersehen. Diesen subkutanen Wandel hat Garton Ash nicht erspürt - auch deswegen, weil er sich seiner Weltsicht zu sicher war."

Nicht linke Identitätspolitik, wie es Mark Lilla diagnostiziert hatte (unsere Resümees), sondern die Anfälligkeit von New Labour für neoliberale Einflüsterungen hätten uns in den heutigen Schlammassel geführt, meinen der Politologe Dirk Jörke und der SPDler Nils Heisterhagen im Aufmacher des FAZ-Feuilletons: "Antidiskriminierungspolitik, Vielfaltseuphorie und politisch korrekte Sprache wurden zum politischen Fokus einer von Akademikern geprägten Linken, die glaubt, eine zivilisatorische Avantgarde zu bilden. Doch ihre Anliegen vertragen sich wunderbar mit dem Neoliberalismus, insofern die Rechte des Marktes und die Rechte des Individuums sich ergänzen. So sind die Linken, ohne es zu begreifen, in die Falle der Identitätspolitik gelaufen." (Inwiefern das ein Widerspruch zu Lilla ist, bleibt unklar.)
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Geschichte

Nicht viel Zukunft gibt Florian Hassel in der SZ der Ausstellung des Danziger Museums des Zweiten Weltkriegs, die jetzt eröffnet wurde: "Denn hier kommt nicht nur das deutsche Morden in Auschwitz zur Sprache, sondern auch Juden-Pogrome von Einheimischen: im rumänischen Iași, dem litauischen Kaunas, dem heute ukrainischen Lwiw und im polnischen Jedwabne. Dort ermordete die polnische Dorfbevölkerung im Juni 1941 Hunderte jüdischer Nachbarn. Wie in vielen Ländern Europas war Antisemitismus auch in Polen weitverbreitet... Doch dass Polen nicht nur Opfer waren, sondern auch Täter, passt nicht zum nationalistischen Selbstbild der Regierung."
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Internet

Während Carta-Autor Till Wäscher den amerikanischen Fernsehsendern zwar durchaus einen Anteil am Wahlsieg Donald Trumps zuspricht -  sie widmeten ihm teils dreimal so viel Sendezeit wie Hillary Clinton, weil er Werbeeinnahmen brachte -, geht er  bei Carta doch lieber kritisch mit den Internetplattformen ins Gericht - sie sind ihm nicht reguliert genug: "Trump benötigt die tech companies, insbesondere Google, Twitter und Facebook, da sie neben ihrer geostrategisch nicht zu unterschätzenden Bedeutung als nahezu komplett unregulierte Ökosysteme die Verbreitung seiner 'alternativer Fakten' ermöglichen. Nur durch die sozialen Netzwerke konnten Krawalljournalismus-Seiten wie Breitbart und The Gateway Pundit eine größere Leserschaft erreichen -und deren Vertreter schließlich im Pressekorps des Weißen Haus landen."

Gegen mehr Regulierung spricht sich dagegen  Markus Reuter in Netzpolitik aus, auch weil es in Deutschland bisher gar nicht so häufig zu "Fake News" gekommen sei: "Die meisten Falschmeldungen hierzulande kommen aus dem fremdenfeindlichen Spektrum und sind Versuche, Ausländer und Geflüchtete als Kriminelle darzustellen. Gesammelt werden sie unter anderem von einer Initiative, die auf Hoaxmap.org diese Fake News dekonstruiert. In der teilweise hysterisch geführten Diskussion kommt erschwerend hinzu, dass der Begriff der Fake News mittlerweile zum Kampfbegriff mutiert ist, den alle Seiten benutzen, um ihnen nicht genehme Nachrichten zu diskreditieren."
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Gesellschaft

Im September 2016 sollte dem linken, säkularen Intellektuelle Nahed Hattar im jordanischen Amman der Prozess gemacht werden wegen einer Karikatur, die er auf seiner privaten Facebookadresse gepostet hatte. Auf den Stufen des Gerichts wurde er von dem Islamisten Riad Ismail erschossen (mehr hier). Seitdem ist ein Streit ausgebrochen über das Selbstverständnis des Landes, erzählt in der Zeit Yassin Musharbash. Dass gegen Hattar überhaupt Anklage wegen Beleidigung religiöser Gefühle erhoben wurde, war für manche schon der entscheidende Fehler. "Dem Vernehmen nach schwebte der Justiz eine Art Kompromiss vor: Hattar wird bestraft, aber nicht hart; eine Geldstrafe stand angeblich im Raum. Ein bisschen Volkswillen, ein bisschen Meinungsfreiheit: Das kann man geschickt nennen, typisch jordanisch oder unentschieden. Aber darf man in so einer Angelegenheit unentschieden sein? Das Gericht hat diese Frage nicht mehr beantwortet, Riad Ismail war schneller."
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Medien

Die Pressefreiheit ist trotz des ersten Verfassungszusatzes in den USA keineswegs so solide abgesichert wie viele vermuten, schreiben Ronnell Anderson Jones und Sonja R. West in der New York Times: "Die amerikanische Pressefreiheit ist ein Mischmasch. Es gibt einige gesetzliche Schutzmechanismen, aber die Presse muss sich auch auf nicht gesetzlichen Absicherungen verlassen. In der Vergangenheit gehörten etwa die finanzielle Stärke der Medien, der gute Wille des Publikums, eine gegenseitige Abhängigkeit mit Regierungsoffiziellen, die Unterstützung sympathisierender Richter sowie politische Normen und Traditionen dazu. Aber jede dieser Säulen wurde in letzter Zeit erschüttert."

Eine äußerst beunruhigende Bestätigung dieser Skepsis findet sich heute im Guardian, wo Jon Swaine über Journalisten berichtet, die während der Demonstrationen gegen Trump am Inauguration Day festgenommen wurden.
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Europa

Wer ist das Volk, auf das sich rechte Parteien immer wieder berufen? Hat es nur eine Stimme? Natürlich nicht, meint in der Zeit der Historiker Christian Geulen in einer Verteidigung der repräsentativen Demokratie: "Tatsächlich ist die Gesellschaft, auch in Deutschland, in sämtlichen politischen Themen viel zu gespalten, als dass
man einen einheitlichen Willen 'des' Volkes auch nur erah­nen könnte. Und so archaisch funktioniert unsere Demo­kratie glücklicherweise auch nicht - oder zumindest noch nicht. Sie lebt von unterschiedlichen Partikularinteressen, die im freien Meinungskampf um Mehrheiten ringen, Kompromisse schließen und so in die politische Entscheidungs­bildung eingehen."

Außerdem: In der Zeit liefern sich Frauke Petry (AfD) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne) einen Schlagabtausch über Werte, Staatsbürgerschaft und Flüchtlingspolitik - mit den bekannten Argumenten.
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