9punkt - Die Debattenrundschau

Ästhetik der Existenz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.03.2017. Heute wird in ganz Europa für Europa demonstriert. In der taz hat André Wilkens kein Problem damit, die EU ein "Elitenprojekt" zu nennen - da hat es weitaus schlimmere gegeben.  Kenan Malik erinnert daran, wie sich selbst Index on Censorhip einst weigerte, die Mohammed-Karikaturen abzudrucken und dabei alle Argumente deklamierte, sie zu bringen. In der NZZ erklärt Hans Ulrich Gumbrecht seinen Begriff des "Sozialdemokratismus".  Die Kolumnisten sind bestürzt über die mickrigen Entschädigungen, die Opfer des Paragrafen 175 erhalten sollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2017 finden Sie hier

Europa

Heute werden sechzig Jahre EU mit "Marches for Europe" gefeiert. Überall in Europa demonstriert auch die Bewegung "Pulse of Europe". Der Autor und ehemalige EU- und UNO-Mitarbeiter André Wilkens hat im Gespräch mit Anja Maier von der taz kein Problem damit, Europa ein "Elitenprojekt" zu nennen: "Klar, ist Europa ein Elitenprojekt. Es wurde erdacht von klugen Politikern, hohen Beamten, von Philosophen, den Churchills dieser Welt. Der hat gesagt: Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa. Wir müssen uns zusammenschmeißen, damit wir uns nicht mehr streiten. Auch der Kommunismus war ein Elitenprojekt, ebenso die Anti-Globalization-Bewegung. Es waren ja nicht die Arbeiter, die aufgestanden sind, sondern die Naomi Kleins dieser Welt."

Ebenfalls in der taz sagt Anna Klöpper, Mitorgorganisatorin des "March for Europe": "Wir gehen vor allem deshalb auf die Straße, weil wir für etwas sind. Und ich glaube, genauso geht es sehr vielen Menschen in Europa, die bisher aber eben nur eine schweigende Mehrheit waren. Sie sind für die europäische Idee - wenn auch vielleicht nicht zwingend für die Union, wie sie derzeit ist."

Weiteres Zum Jubilar EU: Die EU-Politiker Manfred Weber and Guy Verhofstadt fordern in politico.eu eine europäische Verteidigungsunion. Und Natalie Nougayrède rät im Guardian, die Europäische Union gerade auch als einen Schutzschild für die Nationen zu sehen.

Ian Buruma hat ein Buch über seine jüdische Familiengeschichte geschrieben. Alan Posener unterhält sich in der Welt mit ihm unter anderem über die Themen Assimilation und jüdischer Selbsthass. Auf die Frage, ob er glaube, dass Hitler die Idee der Assimilation zerstört habe, sagt Buruma: "Nein, gar nicht. Viel hing doch davon ab, wo man lebte, und von ähnlichen Zufällen. Gewiss, es gab deutsche Juden, die der Illusion anhingen, sie könnten der Verfolgung entgehen, weil sie das Eiserne Kreuz hatten oder auf andere Weise dem Vaterland gedient hatten. Sie wurden desillusioniert. Wenn man aber sagt, die Nazis hätten das Projekt der Assimilation widerlegt, dann überlässt man Hitler das letzte Wort darüber, wie Juden leben können in den Gesellschaften, in die sie hineingeboren wurden."
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Ideen

In einem Essay für die NZZ analysiert Hans Ulrich Gumbrecht den europäischen "Sozialdemokratismus" mit seinen "extensiven Gleichheitsforderungen", ökologischen Werten, seinem De-facto-Pazifismus und seinem Glaube an den Staat und stellt ihn der amerikanischen Risikogesellschaft gegenüber. Die Argumente pro und kontra sind auf beiden Seiten ausgereizt, meint er, vielleicht sollte man die beiden Gesellschaftsmodelle heute in ihrer "Ästhetik der Existenz" vergleichen, "mit der sich die Richtung der zentralen Vergleichsfrage verschiebt. In einer Ästhetik der Existenz sollte es nicht mehr darum gehen zu entscheiden, in welcher Gesellschaft es sich eher aushalten lässt, also nicht mehr um eine Bewertung der eigenen Existenz aus der Sicht einer potenziellen Opferrolle, sondern um verschiedene Grade von Intensität in einer vorweg als lebenswert aufgefassten Existenz. Dabei hat der Begriff der Intensität keine spezifische Bedeutung, sondern bezieht sich auf - allein quantitativ unterscheidbare - Momente der verschiedensten Gefühle."
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Medien

An eine finstere Paradoxie erinnert Kenan Malik im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buchs über die Rushdie-Affäre ("From Fatwa to Djhad"), das er in seinem Blog nachdruckt. Bei Index on Censorship erschien ein Interview mit Jytte Klausen, die in der Yale University Press ein Buch über die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte. Der Verlag traute sich nicht, die Karikaturen zu drucken, was im Interview kritisch beleuchtet wurde: "Die wirkliche Ironie steht allerdings noch aus. Index on Censorship publizierte ein Interview über die Unvernunft der Yale University Press, die die Karikaturen zensierte und über den negativen Einfluss dieser Entscheidung auf Meinungsfreiheit und die Wahrnehmung die Muslime, und dann weigerte sich Index, auch nur eine der Zeichnungen abzudrucken, um sein Interview zu illustrieren... Eine der führenden Organisationen für Free Speech zensierte sich selbst in einem Artikel darüber, warum solch eine Zensur falsch ist. Das war umso seltsamer, als die Gründe, die Index anführte, die Karikaturen nicht zu publizieren, die selben waren wie die der Yale University Press, die in dem Interview von Klausen verworfen wurden."
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Kulturpolitik

Im UN-Sicherheitsrat ist die Zerstörung von Kulturgütern nach einer von Frankreich und Italien eingebrachten Resolution zum Kriegsverbrechen erklärt worden, berichtet Florence Evin in Le Monde und zitiert die Generaldirektorin der Unesco, Irina Bokowa: "Die vorsätzliche Zerstörung kulturellen Erbes ist ein Kriegsverbrechen, sie ist zu einer Kriegstaktik geworden, um Gesellschaften dauerhaft in einer Strategie kultureller Säuberung zu schädigen. Darum ist die Verteidigung kulturellen Erbes weit mehr als ein kulturelles Anliegen - sie ist ein Imperativ der Sicherheit und von der Verteidigung von Menschenleben nicht zu trennen."
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Gesellschaft

Heiko Maas hat einen Gesetzesentwurf zur Rehabilitierung verurteilter Opfer des einstigen Paragrafen 175 vorgelegt, dem das Kabinett zugestimmt hat. Heinrich Schmitz begrüßt das bei den Kolumnisten, findet den Entwurf im Detail allerdings extrem geizig: "Okay sind 3.000 Euro pauschal vorab  für jedes Urteil, also für die Verurteilung als solche, unabhängig vom verhängten Strafmaß. Aber 1.500 Euro für ein Jahr Haft sind eine Ohrfeige für diejenigen, die diese Haft erleiden mussten. Als Schwuler im Bau, das war keine Zuckerschlecken. Und da soll man jetzt als Entschädigung 4,11Euro pro Hafttag bekommen? 0,17 Euro pro Stunde Elend? Da werden die Betroffenen reichlich billig abgespeist. Wenn Sie als Unschuldiger in Haft geraten, erhalten Sie nach paragraf 7 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen einen Betrag von 25 Euro pro Tag, also immerhin 9.125 Euro pro Jahr. Das ist zwar auch nicht die Welt, aber warum sollen die rehabilitierten Homosexuellen auch nur einen Cent weniger erhalten?"

Außerdem: In der NZZ mokiert sich Slavoj Zizek über den jüngsten Ausdruck "der politisch korrekten Besessenheit": den Affirmative Consent Kit, ein Täschchen mit Kondom, Stift, Minzetabletten und einem Vertrag über einvernehmlichen Sex, das in den USA verkauft wird.
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Politik

Verena Hölzl schickt für die taz eine lange Reportage aus Myanmar über die brutale Verfolgung der muslimischen Minderheit der Rohingya, die für sie ohne die Vorgeschichte nicht erklärbar ist: "Birma ist ein Vielvölkerstaat. Die Vielfalt wird von der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung, den Bamar, mehr als Bedrohung denn als Reichtum betrachtet. Andere Sprachen, Traditionen und Religionen passten nicht in die Diktatur, die Birma fast ein halbes Jahrhundert lang war. Jahrzehnte der Anti-Minderheiten-Propaganda durch die Militärjunta haben die Birmesen fremdenfeindlich gemacht."

Die muslimische Demokratie Indonesien gerät immer mehr in den Bann des Islamismus. Wie das funktioniert, zeigt Ann Esswein im Freitag am Beispiel der immer schärferen Verfolgung Homosexueller: "Im Februar forderte der Ulema-Rat (MUI), eine muslimische Dachorganisation, erstmals ein Verbot von LGBTI-Aktivitäten. Im selben Monat fand ein Treffen der Rundfunkkommission statt. Das Ziel: jegliche Darstellungen aus der Medienlandschaft zu bannen, 'die Kinder und Jugendliche dazu anstiften können, schwul oder lesbisch zu werden'. Im Dezember schrieb die Jakarta Post, dass künftig keine Transgender, Transvestiten oder Homosexuellen mehr in den Medien zu sehen sein werden. Zuvor stand die 'Anstiftung' unter Strafe, mit einer neuen Klausel im nationalen Rundfunkgesetz soll nun jegliche Art von LGBTI-Darbietung strafbar werden."

Nach der Katastrophe für Donald Trumps ersten Gesetzentwurf zur Abschaffung von Obamacare fasst die New York Times zusammen: "Es war die größte Niederlage in Trumps früher Amtszeit, der es daran nicht mangelt. Sein Einreiseverbot ist von den Gerichten gestoppt worden. Vorwürfe fragwürdiger Beziehungen zur russischen Regierung zwangen seinen Sicherheitsberater Michael T. Flynn aus der Regierung. Spannungen mit Alliierten wie Deutschalnd, Britannien und Australien sind groß. Trumps Popularitätswerte befinden sich auf einem historischen Tiefstand."
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