Efeu - Die Kulturrundschau

Dinge, Dinge, Säge, Säge, Glöckchen, Glöckchen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2017. Die taz prüft die neue Betriebstemperatur des Liebeslebens von Juliette Binoche. Die Zeit gerät bei einem Konzert des Trios "The Necks" in der Elbphilharmonie in eine Identitätskrise.  Die FAZ kostet Revolutions-Borschtsch in Krasnojarsk. Im Standard feiert Johan Simons den Schriftsteller des Heimwehs, Joseph Roth.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2017 finden Sie hier

Film


Juliette Binoche in Claire Denis' "Meine innere schöne Sonne"

Lose inspiriert von Roland Barthes' Essay "Fragmente einer Sprache der Liebe" erzählt Claire Denis in "Meine schöne innere Sonne" davon, wie Juliette Binoche als Künstlerin etwas reiferen Alters "ihr Liebesleben auf neue Betriebstemperatur bringt", erklärt Claudia Lenssen in der taz, die bei diesem Film allerdings das für die französische Regisseurin typische "Hexengelächter" vermisst: "Was bleibt, ist eher ein Lächeln im Desaster und eine Portion Komik bei all den Tränen und gemurmelten Selbstgesprächen." Zwar dekonstruiere die Regisseurin "scharfsinnig die Erwartung an romantische Komödien", doch "nimmt sie um dieses großartigen Effekts willen ihrer Hauptfigur alles, was mich jenseits des engen thematischen Korsetts Liebessehnsucht auch interessiert hätte. Einen einzigen Strich mit dem Pinsel zieht die Malerin im ganzen Film, Kunst fungiert nur als Gimmick, nicht als Ausdruck, Ausweg, Eigenes."

Hingegen "hinreißend" fand Janis El-Bira den Film: "Wem Sprechen und Sehen versagen, der muss zwangsläufig tasten", schreibt er im Perlentaucher. "Und weil der Körper nicht lügt, nicht stottert und stammelt in seinem Begehren, lässt Denis die Körper ihrer Figuren immer wieder den schwierigen Anläufen zur Sprache zuvorkommen", so etwa in einer umwerfenden Tanzszene: "Es scheint, als atmeten die Tanzenden eine andere Luft, als sei es ausgerechnet der Körper, der für das Leichte am Menschen steht. Sprachlose Schönheit."

Sehr frustriert zeigt sich Matthias Dell im Freitag von Verlauf und Erliegen der jüngsten Berlinale-Debatte um Dieter Kosslicks Nachfolge: Nach einer souverän abmoderierten Diskussionsveranstaltung im Haus der Kulturen der Welt ist die Diskussion "zu Ende, bevor sie begonnen hat. Sichtbar geworden ist immerhin, wie schwer der Streit einer Kultur fällt, die davon leben soll. Wie groß der Konformismus von Künstlern ist, die sich von dem Mut distanzieren, den sie gehabt haben."



Im neuen "Star Wars"-Film "Die letzten Jedi" lassen sich auch feinere Beobachtungen anstellen anstatt bloß Begeisterung oder Ablehnung zu markieren: Um was es in dem neuen Film nämlich eigentlich geht, ist "das Prinzip der Verbindung (versinnbildlicht durch häufige Nahaufnahmen sich berührender Hände) gegen das Prinzip der Trennung (versinnbildlicht im Hass von tosenden Flammen im Weltall)", schreibt etwa Patrick Holzapfel im Perlentaucher. So springt Regisseur Rian Johnson "nicht nur in gewohnter Sternenkriegs-Manier durch Raum und Zeit, um waghalsige Parallelmontagen zu inszenieren, sondern führt auch den Schuss-Gegenschuss jenseits räumlicher Logik ins Star-Wars-Universum ein." Rian Johnson ist ohnehin als quirliger Genre-Neudenker bekannt, erklärt Dietmar Dath in der FAZ und bescheinigt dem Regisseur und Drehbuchautor, das "Star Wars"-Filmuniversum in mindestens vier Aspekten umzukrempeln. Weitere Besprechungen in taz, Standard und Berliner Zeitung.

Weiteres: Hanns-Georg Rodek gratuliert in der Welt den europäischen Filmproduzenten zum Lobby-Erfolg in Sachen Geoblocking innerhalb der EU. Urs Bühler porträtiert in der NZZ die chilenische Schauspielerin Paulina García. Andreas Hartmann empfiehlt den Berliner taz-Lesern das Experimental-Filmfestival im Kino Movimento.

Besprochen werden Robert Sigls in den 80ern entstandener, deutscher Horrorfilm "Laurin", der jetzt auf BluRay wiederentdeckt wurde (taz) und Philippe Liorets "Die kanadische Reise" (taz).
Archiv: Film

Musik

In der Elbphilharmonie hat das australische Trio The Necks ein Impro-Konzert ohne vorherige Absprache und Probe gehalten. Ulrich Stock berichtet auf ZeitOnline von einer entrückenden Erfahrung: Irgendwann "geschehen seltsame Dinge, Dinge, Säge, Säge, Glöckchen, Glöckchen, Reiben, Reiben, auf den Trommeln und den Trommelfellen, der Schlagzeuger steif hinter seinen Becken, der Pianist unbewegt, ein tönender Buchhalter, Achtung, Achtung, Steuerprüfung!" Der Kritiker kommt sich im Zuge selbst abhanden: "Wer bin ich, und was ist gut?"

Weiteres: Immer mehr Jazzclubs bringen Live-Alben heraus oder streamen ihre Konzerte online, berichtet Adam Olschewski in der NZZ. Ueli Bernays widmet sich in der NZZ Geschichte und Siegeszug des Weihnachts-Popalbums. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Neal Prestons fotografischen Musikerporträts.

Besprochen werden ein Impro-Konzert des Mondrian Ensembles (NZZ), David E. Gehlkes Buch "Systemstörung" über die Geschichte des Metallabels Noise Records (taz), Sonja Vogels Studie "Turbofolk" (FR) und das neue N.E.R.D.-Album "No_One Every Really Dies" mit Pharell Williams (Welt). Außerdem verkündet Pitchfork die besten Rap-Alben des Jahres. Auf der Nummer Eins, wenig überraschend, Kendrick Lamars "Damn". Daraus ein Video:

Archiv: Musik

Literatur

Christoph Bignens schreibt in der NZZ über die Autovorlieben von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch .

Besprochen werden neue Bücher von Giwi Margwelaschwili, der heute 90 Jahre alt wird (SZ), Mehdi Belhaj Kacems Essay "Artaud und die Theorie des Komplotts" (ZeitOnline), Jens Wonnebergers "Sprich oder stirb" (Tagesspiegel), Boris Sawinkows "Das schwarze Pferd" (NZZ), die Ausstellung "Zwischen den Fronten: Der Glasperlenspieler Hermann Hesse" im Literaturhaus Berlin (FAZ) und Michael Opitz' Biografie über den Schriftsteller Wolfgang Hilbig (FAZ).
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Bühne

Warum Joseph Roth? Der niederländische Regisseur Johan Simons inszeniert erstmals am Wiener Burgtheater und hat sich dafür den "Radetzkymarsch" ausgesucht. Im Interview mit dem Standard erklärt er, was er an Roth so zeitgemäß findet: "Roth rechnet unaufhörlich vor, was es zu gewinnen, was es zu verlieren gibt. Er war sein Leben lang nirgendwo zu Hause. Er hat seine Heimat sehr früh verloren. Darum schrieb er auch mit Sentiment, niemals sentimental. Es gibt keinen größeren Schriftsteller des Heimwehs als Joseph Roth. Er hat ja übrigens auch eine Zeitlang in Amsterdam gelebt. Seine Literatur ist für niederländische Schriftsteller wie Geert Mak und Arnon Grünberg essenziell. Seine Sprache ist einfach, wie die eines Nachbarn, mit dem man im täglichen Austausch ist. Die Ursache für den Rechtsruck - jetzt mit Blick auf die Niederlande gesprochen - ist die Ungleichverteilung der abgegebenen Stimmen aus dem städtischen und ländlichen Bereich. Die rechten Stimmen kommen bei uns vorwiegend vom Land. Für diese Menschen gibt es bei uns heute keinen Autor, keine Stimme, die die dahinterliegenden Ängste artikuliert. Joseph Roth hingegen, den würde auch meine Mutter verstehen."

Weitere Artikel: Im Interview mit der Berliner Zeitung muss Marietta Piekenbrock zum gefühlten 100.000 mal versichern, dass die Volksbühne ein elfköpfiges Ensemble haben wird, wie schon unter Frank Castorf.

Besprochen werden das Stück "Alice" der Theatertruppe um die Berner Rapperin Steff la Cheffe im Zürcher Theater am Neumarkt (NZZ), Richard Strauss' "Arabella" am Theater Kiel (nmz), Markus Bothes Inszenierung von Molieres "Tartuffe" am Schauspielhaus Graz (Presse), Roger Vontobels Inszenierung des "Fidelio" in Mannheim (FR) und Mozarts sehr frühe Oper "Lucio Silla" am Kasseler Staatstheater (FR).
Archiv: Bühne

Kunst


Alexander Shishkin-Hokusai, Queue, 2015. Foto: O. Timopheeva. Image courtesy the Krasnoyarsk Museum Centre. Mehr Bilder hier.

In der FAZ berichtet Kerstin Holm von der KunstBiennale im sibirischen Krasnojarsk. Hier denkt man noch dörflich und leninistisch, für die angereisten Künstler eine Herausforderung: "Die Künstlergruppe aus Jekaterinburg 'Wohin die Hunde rennen' (Kuda begajut sobaki) nimmt die bäuerliche Rote-Bete-Suppe Borschtsch als Index für 'Transzendenz', also für revolutionäre Energie. Dazu wertet ein computergestützter Borschtsch-Kocher literarische, philosophische, politische Texte von 1917 und 2017 aus und übersetzt ihren jeweiligen Transzendenzindex in Messeinheiten für die Zutaten, die bei der Vernissage von einem Roboter fertiggekocht wurden. Besucher, die von beiden Suppen kosteten, behaupten, das Borschtschrezept von 1917 sei eindeutig gehaltvoller gewesen."

Die Provokationen eines Ai Weiwei oder Jeff Koons werden Roman Bucheli langsam schal. Vielleicht sollte man es in der Kunst mal wieder mit der Schönheit versuchen, ermuntert er in der NZZ: Provokant ist sie nämlich auch. "Es ist die radikale Antithese zum Bestehenden. Die Schönheit denunziert dieses nicht, sie bildet es nicht ab, sie karikiert es nicht. Sie zeigt das andere des Bestehenden, als dessen Möglichkeit. Schärfer bringt sie zur Kenntlichkeit und zu Bewusstsein, was nottut, weil sie schmerzvoll den Abgrund öffnet zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte."

Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit geht verloren, fürchtet Hanno Rauterberg in der Zeit anlässlich des neuen "puritanischen Furors", der anzügliche oder sonstwie missliebige Kunstwerke aus dem Verkehr ziehen will. Jüngste Beispiele: Dana Schutz' Gemälde des ermordeten Emmett Till oder Balthus' "Träumende Therese": "Es sinkt die Bereitschaft vieler, der Kunst eine eigene, oft bodenlose Wahrheit zuzutrauen."

Weitere Artikel: In Berlin wurde erstmals der mit 200 000 Euro dotierte kulturelle Förderpreis "The Power of the Arts" vergeben, berichtet Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Bernhard Schulz schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Kurators Christos Joachimides.

Besprochen werden die von der Istanbul Biennale ausgerichtete Ausstellung "A Good Neighbour_On the Move" in der Münchner Pinakothek der Moderne (SZ), eine Ausstellung von 15 jungen Künstlern und Künstlerinnen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak im Bikini Haus in Berlin (Berliner Zeitung, taz), eine Ausstellung der Skulpturen von Wiebke Siem und Ann Veronica Janssens in der Berliner Galerie Esther Schipper (Tagesspiegel) und eine Retrospektive des Bildhauers Emil Cimiotti im Georg Kolbe Museum in Berlin (taz).
Archiv: Kunst