9punkt - Die Debattenrundschau

Maximale Relativierung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2023. Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Gaza, und nun auch noch dies: Nächstes Jahr droht die Wiederwahl Donald Trumps und die Verwandlung Amerikas in eine Diktatur. In der FAZ prüft Claudius Seidl entsprechende Szenarien. In der SZ gibt Alexander Estis Masha Gessen noch ein paar Nachhilfestunden in der Kunst des Vergleichens. Nehmen wir mal an, Israel verschwände von der Erdoberfläche, das wäre das Ende jeder deutschen Schuld, so Henryk Broder in der Welt, und sehnen sich danach nicht die Rechten und die Linken in Deutschland, fragt Peter Huth ebenfalls in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.12.2023 finden Sie hier

Ideen

In der SZ gibt der russisch-jüdische Journalist Alexander Estis Masha Gessen nochmal ein paar Nachhilfestunden zum Thema "Vergleich" (Unsere Resümees): Gessens "donquijoteskem Feldzug" gegen die Windmühlen einer imaginierten Vergleichsverbotsmaschinerie liege eine Verwechslung von Vergleichsprozedur und Vergleichsergebnis zugrunde. Kein vernünftig denkender Mensch käme auf die Idee, die 'Unvergleichbarkeit des Holocaust' im prozeduralen Sinne zu verstehen... Schon der Begriff der Unvergleichbarkeit widerspricht per se dieser absurden Vorstellung, weil unvergleichbare, mithin singuläre oder spezifische Qualitäten überhaupt erst durch Vergleich als solche erkennbar werden: Eine Unvergleichbarkeit kann allein das Ergebnis einer Vergleichsoperation sein... Inkriminiert werden lediglich Vergleichsergebnisse, die den Holocaust durch pauschale Analogien relativieren, also 'unangemessene Gleichsetzungen', wie Volker Weiß sie nennt. Als Reaktion auf derartige Erosionsbestrebungen hat Jürgen Habermas einst im Zuge des Historikerstreits die Unvergleichbarkeit und die Singularität des Holocaust überhaupt erst postuliert. Nicht die Singularität - die jedem historischen Ereignis zukommt, wenn nur die Perspektive hinreichend fein ist -, sondern 'die Infragestellung der Singularität ist die eigentliche Besonderheit in der Debatte um den Holocaust', so bilanziert Thierry Chervel richtig."

Bei allem Verständnis für die "Frustration" der Palästinenser muss Henryk Broder in der Welt zunächst ein paar Dinge festhalten: Der 'Genozid', den Israel in Gaza angeblich begeht, wäre "der erste in der Geschichte der Völkermorde, bei dem die betroffene Population sich vervielfachen konnte: Von etwa einer halben Million im Jahre 1985 auf über zwei Millionen heute." Der Geduldsfaden reißt Broder aber, wenn Teile der Linken rufen: "Free Palestine from German guilt!" "An dem Satz 'Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen' scheint doch mehr dran zu sein, als bisher angenommen wurde. (…) Offenbar gibt es kein Entkommen aus dem Fluch der bewussten und unbewussten Erinnerung. Nehmen wir einmal an, es käme im Nahen Osten zu einem Supergau und Israel verschwände von der Erdoberfläche. Was würde dann geschehen? Die Bundesregierung würde den Überlebenden sofort humanitäre Hilfe anbieten und die letzten einsatzfähigen Hercules-Transporter losschicken, um die Mitarbeiter der Botschaft, der deutschen Stiftungen und andere Ortskräfte zu evakuieren. (…) Es wäre nicht nur das Ende des 'Judenstaates', sondern auch das Ende jeder deutschen Schuld gegenüber den Juden. Der Holocaust würde im Dunst der Geschichte verschwinden, so wie jedes Unglück in den Hintergrund tritt, wenn es von einem noch größeren Unglück übertroffen wird. Für die chronisch auf Israel fixierten politischen Linken wäre dies auch die Erlösung von ihren Leiden."

"Antisemitismus wird wieder hoffähig, ja, er scheint sogar erwünscht, wenn er sich nur gegen Israels Überlebenskampf richtet", kommentiert Peter Huth ebenfalls in der Welt: "'Ich bin 1945 geboren. Ich schulde der Welt einen Dreck' - so oder ähnlich trompeten seit einiger Zeit viele von denen in die Sozialen Netzwerke hinaus, die ihr Selbstwertgefühl ansonsten ausschließlich aus dem Ort ihrer Geburt ziehen. Diese Lust nach einem Schlussstrich hat nur am Rande mit der aktuellen Lage in Israel zu tun, sondern ist ein urdeutsches 'Jetzt muss ja auch mal gut sein'. Das Wort vom 'Schuldkult' wird in rechtsextremistischen Kreisen - 'Vogelschiss'-Gauland war nicht von ungefähr Vorsitzender deren parlamentarischen Flügels - immer schamloser benutzt. Die extreme deutsche Rechte, die sich nach Außen scheinheilig an die Seite Israels stellt (und gleichzeitig Russland, einen der Hamas-Drahtzieher, anhimmelt; aber das nur nebenbei), bereitet seit Jahren einen Weg vor, der in der maximalen Relativierung der Taten der Deutschen im Nationalsozialismus enden soll. Sie will ein neues Bild eines Deutschlands ohne Fehl und Tadel malen, indem sie die bestialischen Verbrechen einfach überpinseln."

Zum hundertsten Geburtstag des Instituts für Sozialforschung, wo einst Selbstkritik statt Identitätspolitik gefordert wurde, dürfte Adorno im Grab rotieren, vermutet Jakob Hayner in der Welt mit Blick auf dessen aktuellen Leiter Stephan Lessenich: "Wie dürftig inzwischen der Anspruch kritischer Theorie ist, demonstriert Lessenich mit seinem Buch 'Nicht mehr normal', in dem Feuilletonbanalitäten über die 'neue Normalität' kräftig gerührt und geschüttelt, jedenfalls mächtig aufgeschäumt dargeboten werden. Den 'alten weißen Mann' will Lessenich 'normalitätspolitisch' sogar mit 'kritisch-analytischen Sinn' aufladen. (…) Zu seinem großen Vorhaben hat Lessenich gemacht, die 'Frankfurter Schule' um 'queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven' zu erweitern. Beispielhaft dafür ist die große Konferenz zum 100. Jubiläum des IfS, die in Frankfurt unter dem Titel 'Futuring Critical Theory' stattfindet und frei heraus erklärt, dass das queerfeministische, post- und dekoloniale Denken zeitgemäßer als die kritische Theorie ist. Doch Kritik des Antisemitismus spielt da bekanntlich kaum eine Rolle."

Außerdem: In der NZZ macht der Philosoph Martin Rhonheimer nochmal mit Friedrich August von Hayek den Unterschied zwischen Liberalen und Konservativen deutlich: "Für Hayek lag dieser Unterschied darin, dass die Konservativen zwar moralische Überzeugungen hätten, aber keine dieser übergeordneten politischen Prinzipien. Konservative seien durchaus bereit, den Zwangsapparat des Staates einzuspannen, um ihre eigenen Wertvorstellungen allgemeinverbindlich durchzusetzen. Liberale wollten das nicht, selbst wenn sie persönlich manche dieser Wertvorstellungen teilen."
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Politik

Ab nächstem Jahr werden wir uns neben der fortschreitenden Klimakatastrophe, der Ukraine und Gaza mit einer weiteren Apokalypse beschäftigen müssen, der möglichen Wiederwahl von Donald Trump in der möglicher Weise letzten freien Wahl in den USA - dieses Schreckensbild hat zumindest der gemäßigt konservative Publizist Robert Kagan (hier und hier) in der Washington Post an die Wand gemalt. Claudius Seidl prüft Kagans Essays in der FAZ auf Plausibilität und nimmt noch die Bücher von Steven Levitzky und Daniel Ziblatt ("Wie Demokratien sterben") und Peter Pomerantsev ("Nichts ist wahr, alles ist möglich") zur Hand. Er glaubt nicht an einen präzisen Plan zur Machtergreifung, eher an Trump als bösen Clown: "Womöglich werden sich aber der Plan seiner Leute und Trumps Planlosigkeit ergänzen. Dass er herrschen will, ungebremst von allen Institutionen, und dass er seine Gegner vernichten will: das sagt Trump selbst. Dass ihm das gelingen könnte, wird womöglich auch daran liegen, dass kaum jemand das wirklich wahrhaben wird: weil selbst seine Gegner sich nur auf die böse, unberechenbare, empörende semifiktionale Show Donald Trumps konzentrieren werden. Und nicht auf die Tatsachen, die im Hintergrund seine Leute schaffen."

Es wird schwer werden, die Ideologie der Hamas in den Köpfen der Menschen zu bekämpfen, vermutet Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ: "Die palästinensische Führung ist nicht in der Lage, auch noch Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen. Die Palästinenser kommen selbst zu dieser realistischen Einschätzung, wie eine Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) zeigt. 60 Prozent fordern eine Auflösung der als korrupt wahrgenommenen Autonomiebehörde, und etwa 90 Prozent verlangen den Rücktritt von Präsident Mahmud Abbas. Die Palästinenser können den 88-Jährigen nicht einmal absetzen, denn der Präsident verweigert seinem Volk seit 2009 Wahlen. In der Schwäche von Abbas und seiner Fatah-Partei liegt der Hauptgrund dafür, warum sich auf der Suche nach einer Alternative immer mehr Palästinenser der radikalislamischen Hamas zuwenden - erst recht nach dem 7. Oktober. Die Zustimmung zur Hamas hat sich im Vergleich zu September im Westjordanland mehr als verdreifacht, im Gazastreifen ist sie leicht gestiegen."

Die "Mileinials", so werden die Anhänger des argentinischen Präsidenten Javier Milei gerufen, "sind für die argentinische wie für die internationale Linke eine echte Bedrohung, denn sie brechen Tabus, sprechen Dinge an und aus, für die die Linke bislang eine totale Deutungshoheit beanspruchte und die sie selbst in Erklärungsnot bringt", schreibt Tobias Käufer in der Welt: "Die neue argentinische Vizepräsidentin Victoria Villarruel verlangt, dass in Argentinien nicht nur der Opfer der brutalen rechtsextremen Militärdiktatur (1973 - 1990) gedacht wird, sondern auch jener, die Anschlägen oder Folter von linken Guerillagruppen zum Opfer fielen. (…) Besonders weh tut aber die Kritik der 'Mileinnials' an der Verharmlosung und dem Wegschauen gegenüber linksmotivierter Gewalt den nun laut aufschreienden Peronisten. Im Büro der bislang von der linksperonistischen Regierung finanziell geförderten Universität der 'Madres de Plaza de Mayo' hängen für jedermann sichtbar Poster von Che Guevara und Nicolas Maduro. Der legendäre Freiheitskämpfer, der aus Argentinien stammt, ließ gemeinsam mit Revolutionsführer Fidel und dessen Bruder Raul Castro nach der kubanischen Revolution Schwule wegen ihrer sexuellen Orientierung in Arbeitslagern foltern. Der Begeisterung für die kubanische Revolution tut das bei der Linken wie auch in der LGBTQ-Szene keinen Abbruch."
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Europa

Das Regime Alexander Lukaschenkos hat sich nach den Turbulenzen der letzten Jahre wieder gefestigt, schreibt der in Deutschland lehrende belarussische Historiker Alexander Friedman in der taz. Seine politischen Gegner sind im Exil oder im Gefängnis. Und "während der Westen Lukaschenko vor allem als eine russische Marionette wahrnimmt und die Situation in Belarus nicht beeinflussen kann, baut der Kreml kontinuierlich seinen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und ideologischen Einfluss auf den 'kleinen Bruderstaat' aus. Im Gegensatz zu Kasachstan und zu weiteren postsowjetischen Staaten, die - um Neutralität bemüht - seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Distanz zum Kreml gehen, steht Belarus fest an der Seite Russlands. Lukaschenko profiliert sich als treuester Freund der Russischen Föderation. Moskau hat kaum Gründe, mit ihm unzufrieden zu sein; manchmal bereitwillig, manchmal wohl unter Druck macht er genau das, was Russland von ihm erwartet."

Die neue polnische Regierung geht selbst mit nicht ganz rechtsstaatlichen Methoden gegen die von der PiS-Partei gleichgeschalteten Hierarchien der Staatssender vor, berichtet Gabriele Lesser in der taz. Das Dumme ist, dass es nicht anders geht: "Die sauberste Methode wäre gewesen, wenn die neue Parlamentsmehrheit ein Gesetz zur Umstrukturierung der PiS-Staatsmedien in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk verabschiedet hätte. Ein solches Gesetz allerdings muss Polens Präsident Duda unterzeichnen, der ohne die massive Unterstützung der medialen Propaganda kaum noch einmal Präsident geworden wäre. Zudem kündigte dieser bereits an, dass er gegen jeden Versuch der Rückabwicklung von PiS-Gesetzen sein Veto einlegen werde."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Das Grassi-Museum für Völkerkunde soll unter dem Motto "Reinventing Grassi" ganz neu gestaltet werden. Es droht die übliche Ausrichtung nach dem "Zeitgeist von Postkolonialismus und Diversität", fürchtet Andreas Platthaus in der FAZ. Noch verfügt das Museum über seine Schätze, aber falls indigene Bevölkerungen in der ganzen Welt sie zurückhaben wollen, "wird es mehr Konzepte wie die in Leipzig jetzt zu findende Trias aus 'Care Room', 'Prep Room' und 'Raum der Erinnerung' brauchen, in denen das Museum vorführt, wie seine Bestände gepflegt, beforscht und rückgeführt werden. Die Zahl der darin zu sehenden alten ethnografischer Objekte kann man an den Fingern zweier Hände abzählen. Dafür ist die Zahl der Erläuterungen, Installationen und Fotodokumentationen Legion. Reinventing bedeutet in Leipzig auch Dematerialisierung."
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Medien

Für die Presse lief's dieses Jahr nicht so gut, schreibt Michael Hanfeld in der FAZ. Zum einen knabbert KI ihre Inhalte an, und man führt die üblichen Prozesse, um wenigstens Leistungsschutzrechte abzukriegen. Und zum zweiten werden Institute abgewickelt, wie Gruner + Jahr bei Bertelsmann: "22 Titel wurden eingestellt, von 1.900 Stellen sind 700 weggefallen, übrig bleiben wenige Magazine, allen voran der Stern, die zu Digitalmarken werden sollen. Diesen Wechsel zu vollziehen fällt Zeitschriften vielleicht noch schwerer als Zeitungen. Sie alle beklagen einen weiteren Rückgang der gedruckten Auflagen und richten ihr Augenmerk auf digitale Abonnenten. Druckereien werden geschlossen, die Zeitung auf Papier gibt es per Zustellung in einigen Regionen nicht mehr."
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