Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

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Magazinrundschau vom 07.03.2023 - New Yorker

Masha Gessen porträtiert russische Journalisten im Exil in Riga, die trotz ihrer Kremlkritischen Haltung skeptisch betrachtet werden. Immerhin hat Lettland - anders als viele Nachbarländer - den Redaktionen von TV Rain (Doschd), Meduza und natürlich der Novaja Gazeta großzügig Aufnahme geboten: "Der Medientheoretiker Jay Rosen schreibt, dass der Journalismus seine Autorität aus dem Anspruch zieht, am Ort des Geschehens zu sein, wo der Leser oder Zuschauer nicht ist: 'Voraussetzungen für die Berichterstattung ist eine gemeinsame Welt, ein Geflecht gemeinsamer Annahmen, das Reporter und Rezipienten verbindet', erklärt Rosen. 'Wenn das auseinanderbricht, ist auch die Möglichkeit von Journalismus dahin'. Aber genau das, was TV Rain in die Lage versetzt, mit Russen in Russland zu sprechen, macht es auch außerhalb Russlands verdächtig. Galina Timtschenko, die 2014 das Internetportal Meduza ins Leben rief, leistete Pionierarbeit mit dem Modell der Berichterstattung aus dem Exil. Die technischen und redaktionellen Mitarbeiter von Meduza arbeiteten von Riga aus, während die Journalisten aus Russland berichteten. Auf diese Weise konnte der Kreml, auch wenn einzelne Journalisten manchmal mit Einschüchterungen und Drohungen konfrontiert waren, die Publikation selbst nicht verfolgen... Aber Meduza hat immer noch einen Weg, aus Russland zu berichten: Meduza beauftragt vier oder fünf verschiedene Personen vor Ort mit der diskreten Beschaffung von Informationen; Autoren und Redakteure in Riga fügen dann die Geschichte zusammen. 'All unsere Quellen und all unsere Journalisten sind jetzt anonym', sagte Timtschenko. Die Meduza-Leser in Russland müssen virtuelle private Netzwerke (VPN) nutzen, um die Zensur des Kremls zu umgehen. Sie lesen das Medium, um sich über den Krieg in der Ukraine zu informieren, aber auch um praktische Informationen zu erhalten. Nach Beginn der Einberufung im Herbst veröffentlichte Meduza eine Reihe von Beiträgen in der Art von 'Wie man nicht im Krieg landet' und 'Was passiert, wenn man sich nicht bei der Rekrutierungsstelle meldet'... Andere Journalisten im Exil äußerten sich ähnlich. 'Unser kurzfristiges Ziel ist es, dass diejenigen, die im Land sind und gegen den Krieg sind, nicht den Verstand verlieren', sagte mir Denis Kamaljagin, Herausgeber von Pskowskaja Gubernija, einer seit langem umkämpften unabhängigen Regionalzeitung. Kamaljagin, der aus Russland floh, nachdem die Polizei sein Büro und seine Wohnung durchsucht hatte, überraschte mich mit der Aussage, er verstehe die Letten, die russische Journalisten als Bedrohung ihrer Sicherheit ansähen. 'Soll Lettland begeistert sein, dass wir hierher kommen und die russische Geheimpolizei mitbringen, vor der wir fliehen?', sagte er. 'Was ist, wenn sie hier anfangen, uns zu töten?'"
Stichwörter: Gessen, Masha

Magazinrundschau vom 28.02.2023 - New Yorker

An den amerikanischen Universitäten nimmt die Zahl der Studenten in den Geisteswissenschaften, besonders Literaturwissenschaften, rapide ab, berichtet Nathan Heller. Das hat mehrere Gründe: Geringere staatliche Zuschüsse, es wird generell weniger gelesen, die Job- und Verdienstaussichten sind längst nicht so gut wie bei einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, Geld wird generell immer wichtiger. Die Kritik in den Geisteswissenschaften hat inzwischen ihren Gegenstand fast schon abgeschafft, und eine Wissenschaft ohne Statistik ist ein Konzept, dass von vielen nicht mehr verstanden wird. "'Die Geisteswissenschaften werden der kleine Vogel auf dem Nilpferd sein'", sagt eine Geschichtsprofessorin zu Heller. Für viele Studenten sind sie das bereits: "Tiffany Harmanian studiert im Hauptfach Neurowissenschaften an der A.S.U. ('Ich stamme aus einer Arztfamilie - ich bin aus dem Nahen Osten!', sagte sie mir), hat aber Englisch als Nebenfach. Als sie aufwuchs, lebte sie in Romanen und Gedichten. Dennoch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, Englisch im Hauptfach zu studieren. 'Leute, die sich mit Geisteswissenschaften befassen, müssen vielleicht nicht einmal zur Schule gehen, um das zu tun, was sie tun wollen', sagt sie; sie versteht nicht, inwiefern das Studium von 'The Waste Land' helfen kann, als Dichterin erfolgreich zu werden. 'Außerdem gibt es in der Welt, in der wir leben, diesen verzweifelten Wunsch, in jungen Jahren Geld zu verdienen und früh in Rente zu gehen', fügt sie hinzu. Ich frage sie, was sie damit meint. 'Vieles davon hat damit zu tun, dass wir diese Leute sehen - man nennt sie online 'Influencer'', sagte Harmanian und sprach das Wort für mich extra langsam aus. 'Ich bin einundzwanzig. Leute in meinem Alter haben Krypto. Sie haben Agenten, die sich um ihre Bankgeschäfte und den Handel kümmern, anstatt von neun bis fünf Uhr für fünfzehn Dollar Mindestlohn zu arbeiten.' Sie und ihre Altersgenossen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der sich die Versprechen, die Firmen ihren Angestellten gemacht haben, als Lüge entpuppten, also machen sie sich selbständig. 'Das liegt daran, dass unsere Generation sehr viel fortschrittlicher denkt', sagte sie mir."

Jetzt dringen die viel besungenen und beklagten künstlichen Intelligenzen und Chatbots schon in innerste Gefilde vor, stellt der Arzt und Journalist Dhruy Khullar fest: Mittlerweile kann man sich nicht nur von ChatGPT Poeme dichten lassen, sondern sich auch mit psychischen Problemen an Programme wenden, die mit aufmunternden Botschaften oder gezielten Nachfragen Hilfe zur Selbsthilfe geben sollen. Ganz überzeugt ist Khullar nicht, dass KIs wie die amerikanische Support-App Woebot den für den Therapieerfolg so wichtigen zwischenmenschlichen Kontakt ersetzen können, Er fragt sich aber auch, ob die eigene Profession nicht sowieso droht, diesen Apps ähnlich zu werden: "Je mehr klinische Fertigkeiten Du Dir aneignest, desto einfacher wird es, menschliche Eigenschaften zu ignorieren - Mitgefühl, Empathie, Neugierde. A.I.-Sprachmodelle werden zwar effektiver, was die Auswertung unserer Worte angeht, aber sie werden uns nicht wirklich zuhören, und wir sind ihnen egal. Ein Arzt, den ich kenne, hat einem sterbenskranken Patienten mal ein Bier ins Zimmer geschmuggelt, um ihm eine Freude in einer ansonsten freudlosen Zeit zu machen. Diese Idee kam nicht aus irgendeinem Manual und sie ging weit über Worte hinaus - eine einfach menschliche Geste."

Weitere Artikel: Ben Taub rollt nochmal den Skandal von Wirecard auf. Amanda Petrusich hört radikale New Age Musik von Laraaji Nadabrahmananda. Merve Emre liest Calvino. Thomas Mellon stellt die serbisch-britische Autorin Vesna Goldsworthy vor. Anthony Lane sah im Kino Elizabeth Banks' Film "Cocaine Bear".

Magazinrundschau vom 21.02.2023 - New Yorker

Itamar Ben-Gvir ist im Kabinett Netanjahus Israels neuer Minister für Nationale Sicherheit. Er ist außerdem Vorsitzender der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit (Jüdische Kraft), Nachfolgeorganisation der ebenso rechtsextremistischen Kach, und vorbestraft in mindestens acht Fällen, "unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Aufstachelung zum Rassismus", schreibt Ruth Margalit in einem wirklich beunruhigenden Porträt. "'Sein Strafregister ist so lang, dass wir die Tinte des Druckers austauschen mussten, als er vor den Richter trat', sagte mir Dvir Kariv, ein ehemaliger Beamter des Geheimdienstes Shin Bet. Noch im Oktober letzten Jahres weigerte sich Netanjahu, mit ihm die Bühne zu teilen oder sich mit ihm auf Fotos zu zeigen. Doch eine Reihe enttäuschender Wahlen hat Netanjahu dazu bewogen, seine Meinung zu ändern." Und auch die Wähler haben ihre geändert. Vor einigen Jahren noch wurde die Bewegung "als marginal betrachtet. 'Es war ein Witz, wie klein sie war', sagte Kariv, der ehemalige Shin Bet-Beamte. Inzwischen hat sie sich zu einer politischen Partei (Jewish Power), einem finanziellen Arm (Fund to Save the People of Israel) und einer militanten Anti-Assimilationsgruppe (Lehava, oder Flamme) entwickelt. Bei der letzten Wahl stimmte nach einer Schätzung ein Drittel aller israelischen Soldaten für Ben-Gvir. Als er in die Regierung eintrat, betonte er, dass er gemäßigter geworden sei, und versicherte einem Publikum, dass er nicht mehr der Meinung sei, dass 'Araber getötet werden sollten'. Zwei seiner Mentoren von der extremen Rechten brachen sogar mit ihm, weil sie das als inakzeptable Zugeständnisse ansahen. ... Ein Insider sagte mir, dass die Kluft real sei: Marzel ist eine mürrische Figur, ein 'Kahanist der ersten Generation'. Ben-Gvir ist ein 'Kahanist der zweiten Generation', der seine Bigotterie mit einem internetfreundlichen Sinn für Humor abmildert. Einige seiner Aktivisten tragen T-Shirts mit dem Aufdruck 'Notorious I.B.G.'. (In einem seiner TikTok-Videos, das 1,3 Millionen Mal angesehen wurde, tritt er einen Fußball, der seiner Meinung nach arabische Politiker repräsentiert. 'Ich übe gerade, Odeh, Tibi und Abbas nach Syrien zu kicken', sagt er.) Aber die Spaltung half Ben-Gvir auch bei den Wahlen. Er konnte nun plausibel behaupten, dass er nicht mehr das äußerste Ende der israelischen Rechten vertritt."

Kimon de Greef begab sich für den New Yorker in die Hölle von Südafrikas illegalen Minen: "Als der Bergbau in Welkom in den neunziger Jahren zusammenbrach, entstand an seiner Stelle eine dystopische kriminelle Wirtschaft mit Tausenden von Männern, die in die verlassenen Stollen eindrangen und mit rudimentären Werkzeugen nach dem verbliebenen Erz gruben. Da es kaum Kosten oder Sicherheitsstandards gab, konnten diese illegalen Bergleute in einigen Fällen reich werden. Viele andere blieben in Armut oder starben unter Tage. Die Bergleute wurden als Zama-Zamas bekannt, ein Begriff aus der Zulu-Sprache, der frei übersetzt so viel wie 'ein Risiko eingehen' bedeutet. ... Da es schwierig ist, in die Minen einzudringen, bleiben die Zama-Zamas oft monatelang unter der Erde, wo sie von Scheinwerfern beleuchtet werden. Unter Tage können die Temperaturen auf über hundert Grad ansteigen, und die Luftfeuchtigkeit ist erdrückend. Steinschläge sind keine Seltenheit, und die Retter haben schon Leichen gefunden, die von Felsbrocken von der Größe eines Autos erdrückt wurden. 'Ich glaube, sie gehen alle durch die Hölle', sagte mir ein Arzt in Welkom, der Dutzende von Zama-Zamas behandelt hat. Die Männer, die er sah, waren grau geworden, weil ihnen das Sonnenlicht fehlte, ihre Körper waren abgemagert, und die meisten von ihnen hatten Tuberkulose, weil sie den Staub in den unbelüfteten Tunneln eingeatmet hatten. Nach der Rückkehr an die Oberfläche waren sie stundenlang geblendet. ... In keinem anderen Land der Welt findet der illegale Bergbau in so riesigen Industrieschächten statt. Analysten schätzen, dass etwa ein Zehntel der jährlichen Goldproduktion Südafrikas auf den illegalen Bergbau entfällt, obwohl die Bergbauunternehmen, um die Investoren nicht zu beunruhigen, das Ausmaß des kriminellen Handels eher herunterspielen. Die Aktivitäten im Untergrund werden von mächtigen Syndikaten kontrolliert, die das Gold dann in legale Lieferketten einschleusen."

Die erste englische Übersetzung des Berichts von Jacques Besse über seine Schizophrenie und einen höchst imaginativen Spaziergang, der ihm die Musikalität des Straßenlärms offenbart, nimmt Marco Roth zum Anlass, sich diesem schwebenden Text zu widmen, der den Psychoanalytiker Félix Guattari und den Philosophen Gilles Deleuze zu ihrer großen Abrechnung mit der Institution der Psychiatrie und der freudianischen Psychoanalyse inspiriert hat. Nicht nur über die ganz anders strukturierten Denkweisen des Schizophrenen denkt Roth nach, auch darüber, was es bedeutet, sich als Resultat einer krankheitsbedingten Vereinsamung viel auf den Straßen zu bewegen und ständig mit Ordnungsmächten wie Polizei und Psychiatrie konfrontiert zu sein. Aus den von Besse beschriebenen Ereignissen der 1960er Jahre zieht er Parallelen zur heutigen Zeit: "Der New Yorker Bürgermeister, Eric Adams, hat eine aggressivere Durchsetzung des bestehenden Rechts angekündigt, insbesondere durch das New York Police Department, das psychisch Kranken - um in der Bürokratensprache zu bleiben - 'unfreiwillige Unterstützung' leisten soll, auch wenn gar keine direkte Gefahr besteht, dass sie gegen sich oder andere gewalttätig werden. Konkret bedeutet diese 'Unterstützung', dass Menschen, denen das Label 'verrückt' verpasst wird - so wie Jacques Besse - aus dem öffentlichen Raum entfernt und in überfüllten, finanziell unterversorgten und inadäquat ausgestatteten Psychiatrien, Obdachlosenunterkünften oder Gefängnissen verwahrt werden."

Weitere Artikel: Rebecca Mead besucht die Vermeer-Schau im Rijksmuseum. Und Adam Gopnik liest ein Buch über die Gefahren der Lichtverschmutzung.

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - New Yorker

David Remnick erzählt noch einmal die Geschichte des indisch-britischen Schriftstellers Salman Rushdie, der sich nach der Messerattacke am 11. August langsam erholt hat. Rushdie war 1989 vom Ayatollah Khomeini mit einer Fatwa für sein Buch "Die satanischen Verse" belegt worden, das Khomenei nach Aussage seines eigenen Sohnes nie gelesen hat. Seitdem ist ein Preisgeld auf seinen Kopf ausgesetzt. Nach elf Jahre des Versteckspiels ging Rushdie nach New York und lebte sein Leben: Er ist gerade zum fünften Mal verheiratet, schrieb Buch auf Buch, unterrichtete, reiste, traf Leser und tanzte die Nacht durch im Moomba. Klingt gut, aber einfach war das nicht. Die Fatwa mit ihrem Todesurteil schwebte über seinem Kopf und mehrere seiner Übersetzer wurden attackiert, einer sogar getötet: "Seit 1989 musste Rushdie nicht nur die Drohungen gegen seine Person abwehren, sondern auch die ständigen Verunglimpfungen seiner Person in der Presse und darüber hinaus. 'Es gab einen Moment, in dem ein 'Ich' im Umlauf war, das erfunden wurde, um zu zeigen, was für ein schlechter Mensch ich war', sagte er. 'Böse. Arrogant. Schrecklicher Schriftsteller. Niemand hätte ihn gelesen, wenn es nicht einen Angriff auf sein Buch gegeben hätte. Et cetera. Ich musste mich gegen dieses falsche Selbst wehren. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass ihre Art, mit Unglücklichsein umzugehen, darin bestand, es zu vergessen. Sie sagte: Manche Leute haben ein Gedächtnis. Ich habe ein Vergessnis.' Rushdie fuhr fort: 'Ich dachte nur: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie dieses Ereignis mich als Künstler zerstören kann.' Er könnte sich ganz vom Schreiben zurückziehen. Er könnte 'Rachebücher' schreiben, die ihn zu einem Geschöpf der Umstände machen würden. Oder er könnte 'Angstbücher' schreiben, Romane, die 'vor Dingen zurückschrecken, weil man sich Sorgen macht, wie die Leute darauf reagieren werden'. Aber er wollte nicht, dass die Fatwa zu einem entscheidenden Ereignis in seinem literarischen Werdegang wird: 'Wenn jemand von einem anderen Planeten kommt, der noch nie etwas von dem gehört hat, was mir passiert ist, und einfach die Bücher im Regal stehen hat und sie chronologisch liest, dieser Außerirdische würde glaube ich nicht denken: Diesem Schriftsteller ist 1989 etwas Schreckliches passiert. Die Bücher gehen auf ihre eigene Reise. Und das war wirklich ein Akt des Willens'. Einige Menschen in Rushdies Umfeld und darüber hinaus sind überzeugt, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Selbstzensur, die Angst, Anstoß zu erregen, zu oft zur Tagesordnung geworden ist. Sein Freund Hanif Kureishi sagte: 'Niemand hätte heute den Mut, 'Die Satanischen Verse' zu schreiben, geschweige denn, sie zu veröffentlichen.'" Die Schwedische Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, erinnert Remnick, "lehnte es ab, eine Erklärung zur Unterstützung von Rushdie abzugeben. Dieses Schweigen wurde jahrzehntelang nicht gebrochen".

Weiteres: Joan Acocella würdigt den Monolog der Frau von Bath, die in Chaucers "Canterbury Tales" ihre höchst fortschrittlichen Ansichten über die Ehe darlegt. Rebecca Mead besucht die britische Aristokratin Lady Glenconner. Leslie Jamison analysiert das plötzlich so populäre Hochstaplersyndrom. Lawrence Wright macht sich in einem Brief aus Texas Gedanken über die plötzliche Popularität Austins, das sich zu einer Tech-Megalopolis entwickle. James Wood liest Gwendoline Riley. Carrie Battan hört The Fierce. Und Anthony Lane sah im Kino M. Night Shyamalans Thriller "Knock at the Cabin".

Magazinrundschau vom 24.01.2023 - New Yorker

Auf Jair Bolsonaro gibt in Brasilien niemand mehr viel, der Angriff auf die Regierungsgebäude war kaum mehr als ein Instagram-Coup, erzählt John Lee Anderson in einer ellenlangen Reportage aus Brasilien. Und dass Bolsonaro nach Florida Reißaus genommen hat, werde weithin mit Verachtung quittiert: Es kursieren schon Fotos, auf denen Bolsonaro allein beim KFC hockt und sein Hühnchen aus der Pappschachtel mampft. Aber natürlich dröselt Anderson vor allem ausführlich Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg von Luis Lula da Silva auf, den er nicht unbedingt rückhaltlos zu bewundern scheint: "Als wir uns 2019 trafen, sprach er ausführlich über den Hunger, und bei seinen Wahlkampfauftritten im vergangenen Jahr wurde er immer emotionaler. In unserem Interview nach seinem jüngsten Sieg kam das Thema zur Sprache, als ich ihn zur Ukraine befragte. Einige Monate zuvor hatte er sich bissig über Wolodimir Selenski geäußert und wie Wladimir Putin angedeutet, dass die Vereinigten Staaten für den Konflikt mitverantwortlich sind. Offensichtlich wollte Lula das Thema beiseite schieben und sagte mir, er wolle mit Selenski und Putin und auch mit Biden sprechen, ihm gehe es nur um den 'Weltfrieden'. Bald darauf kam er auf das Thema Hunger zurück. 'Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann diese Menschen nicht verraten', sagte er mit Tränen in den Augen. 'Ich werde mit den Märkten kämpfen müssen, aber die Menschen müssen wieder essen können. Ich will nicht viel, aber die Menschen müssen wieder Hoffnung haben und einen vollen Bauch, Kaffee am Morgen, Mittag- und Abendessen.' Lula ist nach wie vor ein überzeugter Linker Lateinamerikas. Aber, wie José Eduardo Cardozo, Justizminister unter Dilma Rousseff, mir sagte: 'Lula ist kein Mann, der über Politik theoretisiert wie Lenin oder Trotzki. Er ist ein Pragmatiker, ein Gewerkschafter.' Er fügte hinzu: 'Er ist auch ein politisches Genie und ein charismatischer Mann. Unter Lula kämpft in der Partei jeder gegen jeden, aber nicht gegen ihn. So sichert er seine Macht.'"

Außerdem: Männer fallen immer weiter zurück, in Schule und Universitäten und am Arbeitsplatz. Sie werden früher arbeitslos, schneller süchtig und sterben früher. Woran liegt's, fragt Idrees Kahloon und sucht Antworten in Richard V. Reeves' Buch "Of Boys and Men: Why the Modern Male Is Struggling, Why It Matters, and What to Do About It". Elif Batuman liest russische Klassiker. Anthony Lane sah im Kino Jesse Eisenbergs Regiedebüt "When you finish saving the world".

Magazinrundschau vom 17.01.2023 - New Yorker

Mit seinem Essayband "Professing Criticism" legt John Guillory eine wahre Soziologie der Literaturkritik vor, freut sich Merve Emre, auch wenn die Professionalisierung der Kritik eigentlich kein Anlass zur Freude sei, wie sie feststellt. Denn jede professionelle Formierung gehe einher mit einer Deformation. Mit jeder Ausbildung gehe das Wissen um die eigene Könnerschaft einher, verloren aber gehe der Sinn dafür, dass man die Welt auch auf andere Weise wahrnehmen könne. Die Akademisierung der Kritik sei besonders fatal: "Close Reading hat sich in viele Lesemethoden verzweigt - rhetorisches Lesen für die Dekonstruktivisten, symptomatisches Lesen für die Marxisten, reparatives Lesen für die Queer-Theoretiker - und gipfelte in dem, was als 'Methodenkrieg' bezeichnet wurde. Aber die Methodenkriege, so Guillory, bedeuteten in Wirklichkeit die Bereitschaft, sich mit 'überhaupt keiner Methode' zufrieden zu geben. Keine dieser Praktiken war in einem wissenschaftlichen Sinne reproduzierbar; kein Literaturwissenschaftler konnte versuchen, die Ergebnisse einer feministischen Kritik von 'Jane Eyre' zu bestätigen. Darüber hinaus interessierte sich die Kritik mehr für ihr eigenes Protokoll als für das, was Guillory 'das verbale Kunstwerk' nennt. Diskussionen darüber, wie ein Roman oder ein Gedicht funktionierte, waren weniger wertvoll als die historischen oder politischen Ereignisse, die sich darin manifestierten. Die Ziele der Kritik und der Wissenschaft gingen auseinander. Die letzte Phase in der Entwicklung der Kritik begann mit dem Aufstieg einer Figur, die Roger Kimball denkwürdig als 'Radikalen in Festanstellung' bezeichnete und die wir uns als 'akademischen Aktivisten' vorstellen könnten. Für sie bestand die eigentliche Aufgabe der Kritik darin, sich an sozialen Veränderungen außerhalb der Universität zu beteiligen. Der Kampf gegen die Ausbeutung könne geführt werden, indem man über Rassismus, Sexismus, Homophobie und Kolonialismus schreibe und dabei eine zunehmend verfeinerte Sprache des historischen Kontextes, der Identität und der Macht verwende. Literarische Artefakte (Gedichte, Romane und andere Spielereien der Eliten) könnten als Studienobjekte durch solche der Popkultur (Taylor Swift, Selfies und andere Spielereien der Massen) ersetzt werden."

Weiteres: Calvin Tomkins porträtiert die Künstlerin Tala Madani. Rebecca Mead liest Harry Windsors Erinnerungen.

Magazinrundschau vom 10.01.2023 - New Yorker

Ausgesprochen unbefriedigt liest die Historikerin Jill Lepore den Kongress-Bericht zur Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021. Warum zum Beispiel spricht der Bericht an Dutzenden Stellen von einer Verschwörung, gibt dann aber allein Donald Trump die Schuld? Noch fataler findet sie, dass er nicht der entscheidenden Frage nachgeht: Warum glauben so viele Menschen nach wie vor Trumps Märchen von der gestohlenen Wahl? "In den letzten zwei Jahrzehnten ist die allgemeine Zustimmung zum Kongress von achtzig Prozent auf zwanzig Prozent gesunken. Könnte es sein, dass der Kongress keinen wirklichen Einfluss mehr auf die amerikanische Erfahrung hat und nicht mehr für eine Nation und ein Volk spricht, das Richard Hofstadter einmal ein 'riesiges, unverständliches Biest' nannte? Dem Bericht fehlt nicht nur der Sinn für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart … Nirgendwo wird die Tatsache anerkannt, dass der 3. November 2020 wirklich ein seltsamer Wahltag war. Mitten in einer Pandemie wählten so viele Menschen wie nie zuvor per Briefwahl. Und selbst wenn man sich zu den Wahllokalen schleppte, wurde man mit dem allgemeinen Elend von Masken und Einsamkeit und Verlust und, so empfanden es viele Menschen, einem Gefühl des drohenden Untergangs konfrontiert. Während des gesamten Zeitraums, über den in diesem Papier berichtet wird, hatten viele Amerikaner das Gefühl, dass ihnen vieles gestohlen wurde: ihre Arbeitsplätze, ihre Mitarbeiter, das Gefühl von Gerechtigkeit und Fairness in der Welt, vorhersehbares Wetter, die Idee von Amerika, die Menschen, die sie lieben, menschliche Nähe. Der Bericht vom 6. Januar lässt in keiner Weise die nationale Stimmung von Verwundbarkeit, Angst und Trauer erahnen, nicht einmal einen kleinen Schauer."

Außerdem: Alexis Okeowo forscht dem Schicksal von Migranten nach, die auf dem Weg nach Europa verschwanden. Joshua Rothman geht den verschiedenen Wegen des Denkens nach. Jennifer Gonnerman fragt nach, warum UPS-Mitarbeiter streiken wollen, obwohl es der Firma gut geht und sie Mittelklassejobs wie früher anbietet. Becca Rothfield liest eine ungekürzte Ausgabe der Tagebücher Franz Kafkas. Und Anthony Lane sah Alice Diops Film "Saint Omer" im Kino.

Magazinrundschau vom 13.12.2022 - New Yorker

Wer bringt den ersten Quantencomputer zum laufen? Die USA, Russland oder China? Und wozu brauchen wir den überhaupt? Stephen Witt gibt sich in seiner Reportage alle Mühe, das auch einem Laien zu erklären. Ein Quantencomputer kann unglaublich schnell rechnen und so "die militärischen Fähigkeiten des Verlierers nahezu irrelevant machen und seine Wirtschaft zum Erliegen bringen". Das heißt, da steckt ein Haufen Geld drin. Interessanter ist die Forschung selbst: Die Grundlage der Quantencomputerforschung ist ein wissenschaftliches Konzept, das als "Quantenverschränkung" bekannt ist. Sie ist gewissermaßen das, was die Kernspaltung für Bombenmaterial war, so Witt. "Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat fast ein Jahrhundert gebraucht, um ihre Auswirkungen zu verstehen. Wie so viele Konzepte in der Physik wurde auch die Verschränkung erstmals in einem von Einsteins Gedankenexperimenten beschrieben. Die Quantenmechanik besagt, dass die Eigenschaften von Teilchen erst dann feste Werte annehmen, wenn sie gemessen werden. Davor existiert ein Teilchen in einer 'Superposition' von vielen Zuständen gleichzeitig, die durch Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden." Einstein war die Sache so ungeheuer, dass er sie zu widerlegen suchte. Doch John Clauser, gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, fand Ende der Sechziger in einem Experiment heraus, "dass verschränkte Teilchen mehr als nur ein Gedankenexperiment waren. Sie waren real, und sie waren noch seltsamer, als Einstein gedacht hatte. Ihre Seltsamkeit erregte die Aufmerksamkeit des Physikers Nick Herbert, einem Doktoranden und LSD-Enthusiasten aus Stanford, zu dessen Forschungsinteressen mentale Telepathie und die Kommunikation mit dem Jenseits gehörten. Clauser zeigte Herbert sein Experiment, und Herbert schlug eine Maschine vor, die mit Hilfe der Verschränkung schneller als mit Lichtgeschwindigkeit kommunizieren und dem Benutzer ermöglichen würde, Nachrichten rückwärts durch die Zeit zu senden. Herberts Entwurf für eine Zeitmaschine wurde letztendlich als undurchführbar erachtet, aber er zwang die Physiker, die Verschränkung ernst zu nehmen."

Weitere Artikel: Die Schauspielerin Molly Ringwald erzählt, wie sie als Teenager mit Jean-Luc Godard "King Lear" filmte. Sheelah Kolhatkar porträtiert Weihwasser verspritzend den Biotech-Gründer Vivek Ramaswamy, der affirmative action für Rassismus hält. James Wood liest Cormac McCarthys jüngsten Roman.

Magazinrundschau vom 06.12.2022 - New Yorker

Kein soziales Netzwerk ist in den letzten Jahren so rasant gewachsen wie TikTok. Und kein soziales Netzwerk ist derart jung. Während die Generation unter 30 dem (aus ihrer Sicht) Seniorenheim Facebook mehr oder weniger geschlossen den Rücken gekehrt hat, feiern sie auf TikTok ihr Jungsein, ihre Popkultur, ihre Codes, ihre Musik - und das oft im Sekundentakt schneller Videos und Remixes. Das macht die Plattform auch für die Musikindustrie interessant, schreibt John Seabrook. Nicht nur, um gerade in den konzertelosen Pandemiejahren neue Talente zu rekrutieren, sondern auch als Durchlauferhitzer: Jene Musik, die unter tausendfach remixten und aufgegriffenen Videos liegt, geht in der Regel auch auf anderen Plattformen wie Spotify und in den Charts steil, wo sich der virale Erfolg in bare Münze übersetzt - völlig gleich, ob es sich dabei um alte Songs wie "Dreams" von Fleetwood Mac und (als Kuriosität) der Deutschpunk-Song "Fahrradsattel" von Pisse handelt, oder um frische Neuware. Die Folge? Ging es früher beim Youtube-Streit noch darum, wieviel Geld Youtube Musikern dafür bezahlt, wenn deren Musik in Videos auftaucht, hat sich die Dynamik nun ins glatte Gegenteil verkehrt - längst haben sich Agenturen gebildet, die Kreative auf TikTok managen, auffällig oft gegründet von Überläufern aus der Musikbranche. Eine davon ist Barbara Jones. "Sie führt mich durch die Preise, die Kreative dafür veranschlagen, um Songs zu boosten. Unterschieden wird dabei zwischen 'Initiatoren', die unter einem Lied gut Feuer legen können, und 'Akzeleratoren', die dann noch ordentlich Öl hineinspritzen. Kreative mit überschaubarerer Reichweite, also einer Gefolgschaft im Bereich von 20.000 bis zu einer Million, können 250 bis 1000 Dollar pro Video berechnen. Im mittleren Bereich mit Followerzahlen von einigen Millionen liegt der Preis zwischen 1000 und 3000 Dollar. Im oberen Segment, wo sich die TikTok-Elite wie D'Amelio aufhält, werden bis zu 75.000 Dollar pro Video fällig. Doch Jones warnt: 'Es ist immer noch alles riskant. Man kann nichts einfach so viral gehen lassen.'" Denn Glaubhaftigkeit ist das A und O in dieser Welt. "Wäre Nathan Apodacas Video 'Dreams' viral gegangen, wenn er ein bezahlter Influencer gewesen wäre? Alles, was ein digitaler Vermarkter tun kann, ist, einen genauen Blick darauf zu haben, was auf TikTok gerade organisch geschieht, um dann Kreative anzuwerben, die den Trend melken."

Weiteres: Eren Orbey stellt in einem Brief aus Michigan die Aktivistin Rebecca Kiessling vor, die Vergewaltigung als Abtreibungsgrund abschaffen möchte. Thomas Mallon erzählt, wie er im aidsgeplagten Manhattan der Achtziger lebte. Sam Knight schreibt über die Fußball-WM in Katar. Jerome Groopman liest ein Buch, das ihm die Nützlichkeit vom Parasiten erklärt. versucht zu verstehen, warum Parasiten nützlich sein können. Alex Ross hörte Kevin Puts' neue Oper "The Hours" in der Met. Anthony Lane sah im Kino Darren Aronofskys "The Whale".

Magazinrundschau vom 29.11.2022 - New Yorker

Gesundheit ist teuer in den USA. Aber erst sterben! Private Hospize kassieren jährlich zweiundzwanzig Milliarden Dollar für ihre Leistungen, der Steuerzahler in Form der Regierung zahlt brav, ohne zu kontrollieren. Der Zynismus dieses Systems, das Ava Kofman in ihrer Reportage beschreibt, ist brutal. Marsha Farmer, die lange Sterbebegleitung für einen Konzern verkauft hat, bevor sie ihn verklagte, erzählt ihr, wie das lief: Sie suchte die Ärmsten der Armen auf, "ungebildete Menschen, wenn man so will, weil man ihnen etwas bieten und einen Bedarf decken kann. Farmer, die Rehaugen und ein nonchalantes Lächeln hat, trug auf ihren Verkaufstouren oft einen Kittel, obwohl sie keinen medizinischen Hintergrund hat. Auf diese Weise, sagt sie, 'wurde ich automatisch als Hilfe angesehen werden'. Sie bemühte sich, nicht den Tod zu erwähnen, auch nicht das Hospiz, wenn es sich vermeiden ließ. Stattdessen beschrieb sie eine erstaunliche staatliche Leistung, die Medikamente, Krankenbesuche, Nahrungsergänzungsmittel und eine leichte Haushaltshilfe bot - alles kostenlos." Sobald ein potenzieller Patient sein Interesse bekundet hatte, wird seine Prognose überprüft, die nicht länger als sechs Monate Lebenszeit betragen darf - allerdings kann die Prognose nach Ablauf von sechs Monaten bei jedem Patienten immer wieder neu aufgestellt werden. "Es mag kontraintuitiv sein, ein Unternehmen zu führen, das vollständig von Kunden abhängt, die nicht mehr lange leben werden, aber Unternehmen in der Hospizbranche können mit den größten Erträgen für den geringsten Aufwand in irgendeinem Sektor des amerikanischen Gesundheitswesens rechnen. Medicare zahlt den Anbietern einen festen Satz pro Patient und Tag, unabhängig davon, wie viel Hilfe sie leisten. Da die meiste Hospizpflege zu Hause stattfindet und die Krankenschwestern nicht öfter als zweimal im Monat zu Besuch kommen müssen, ist es nicht schwierig, die Kosten niedrig zu halten und den Großteil der Arbeit an unbezahlte Familienmitglieder auszulagern - vorausgesetzt, es sind willige Familienmitglieder vorhanden. Bis zu einem gewissen Grad belohnt die Art und Weise, wie Medicare die Hospizleistung konzipiert hat, Anbieter dafür, dass sie Patienten rekrutieren, die nicht unmittelbar im Sterben liegen. Lange Hospizaufenthalte führen zu größeren Gewinnspannen, und stabile Patienten benötigen weniger teure Medikamente und Hilfsmittel als Patienten im Endstadium ihrer Krankheit. Obwohl zwei Ärzte zunächst bescheinigen müssen, dass die Krankheit eines Patient unheilbar ist, kann sie immer wieder neu als solche bescheinigt werden."

Weiteres: Jill Lepore schreibt über Mick Herron, Autor von Spionageromanen. Amanda Petrusich begleitet Metallica auf Tour. Maggie Doherty liest Kathy Acker.