Magazinrundschau - Archiv

Le Monde

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Magazinrundschau vom 15.05.2012 - Le Monde

Der Bühnenautor Driss Ksikes macht sich Sorgen über die Entwicklung des Königreichs Marokko nach der Demokratisierung. Islamisten reißen die Initiative an sich, während sich die säkularen Parteien gerade in religiösen Fragen kaum trauen, abweichende Positionen zu artikulieren: "Da wird feierlich eine Halal-Charta für Rundfunk und Fernsehen verkündet. Es gibt eine implizite Entscheidung, wieder Koranschulen zu eröffnen, über die offiziell kaum gesprochen wird. In den Stadtvierteln entsteht eine populistische Sittenpolizei. Marrakesch wird als Ort der Lasterhaftigkeit auf den Index gesetzt, der Fall eines vergewaltigten Mädchens, das sich umbrachte, nachdem es seinen Vergewaltiger heiraten sollte, verharmlost. Seit kurzem treten Widersprüche über den Status des Individuums, der Frau, des öffentlichen Dienstes, der Minderheiten an die Oberfläche, die bisher kaum wahrnehmbar waren und in der kaum vorhandenen öffentlichen Debatte verdrängt wurden."

Magazinrundschau vom 08.05.2012 - Le Monde

Noch vor den Wahlen haben sich der Soziologe Edgar Morin und der inzwischen zum Präsidenten gewählte sozialistische Kandidat Francois Hollande zu einem Gespräch über ihre Aufassungen von der Linken, den Fortschritt des Sozialpakts und die globale soziale Schieflage unterhalten. Es stellte sich heraus, dass der Philosoph "der Komplexität" und der Sozialist "der Synthese" etliche Übereinstimmungen finden. Morin schlägt vor, der künftige Präsident solle in die französische Verfassung aufnehmen, dass Frankreich unsichtbar eine Republik sei, aber auch multikulturell: "Sollte man nach dem Drama von Montauban und Toulouse nicht eine gewaltige Veranstaltung mit Franzosen jeglicher Herkunft durchführen, also mit Kreolen, Aschkenasen, Sefarden, Arabern und Berbern, Maghrebinern, Franko-Afrikanern, was die Wiederholung des 14. Juli 1790 im Jahr 2012 wäre, auf der die aus allen Provinzen angereisten Delegationen (echte kulturelle Ethnien also) zusammenkommen, um zu erklären: 'Wir gehören zur Grande Nation'?" Hollande meint dazu: "Nichtsdestotrotz hat der Begriff Multikulturalismus Mehrdeutigkeiten geschaffen und nahegelegt, wir seinen eine Gesellschaft, in der es keine gemeinsamen Bezüge mehr gibt. Es geht nicht um das Ausradieren oder Gleichgültgkeit gegenüber der unterschiedlichen Herkunft, sondern gewissermaßen darum, dass die Franzosen sich in der Republik wiedererkennen. Ich ziehe es vor, in der Verfassung den Laizismus zu stärken, weil er ein großes Prinzip der Freiheit - alle Bürger, alle Religionen werden gleich behandelt - und der Brüderlichkeit ist - der Laizismus erlaubt uns alle mit den gleichen Rechten und Pflichten zusammenzuleben."

Zu lesen ist außerdem ein Appell von Stephane Hessel, sich wieder zu mehr Werten im Leben und Handeln zu bekennen.

Magazinrundschau vom 17.04.2012 - Le Monde

Frankreich, meint der französische Schriftsteller Frederic Beigbeder, ist mit Sicherheit das einzige Land, dessen Literaten imstande seien, mitten in einem Präsidentschaftswahlkampf in einer Tageszeitung darüber zu streiten, ob der realistische Roman nun zum Populismus oder zum Puritanismus neige. Er mischt sich damit in eine Debatte ein, die Charles Dantzig mit einer Polemik am 17. März begonnen hatte, auf die am 9. April Michel Crepu, Chefredakteur der Zeitschrift Revue des deux mondes, reagierte. Beigbeder setzt sich vor allem mit den Thesen von Dantzig auseinander und verteidigt den Realismus: "Vielleicht sollte man sich einmal fragen, weshalb fiktionale Bücher immer noch gelesen werden. Suchen die Leute darin einen Sinn für ihr Leben? Da riskieren sie enttäuscht zu werden. Vielleicht möchten sie, dass der Roman Ähnlichkeit mit ihnen hat, ihnen etwas über sie erzählt. Sie fühlen sich bestätigt durch historische Bezüge. Und sie sind neugierig, wie die Leser von Zeitschriften oder Schaulustige auf der Straße, bei gewalttätigen, miesen oder auch grausamen Irren. Das ist bedauerlich und ein wenig erbärmlich, aber menschlich."

Magazinrundschau vom 10.04.2012 - Le Monde

Der Puritanismus ist der wahre Feind der Literatur, meint Michel Crepu, Chefredakteur der Zeitschrift Revue des deux mondes in einer Replik auf den Schriftsteller Charles Dantzig. Dieser hatte am 17. März in Le Monde den neuen Hang zum Realismus angeprangert, mit dem Schriftsteller gegenwärtig die Welt beschrieben - wie Journalisten, worin Dantzig ein Symptom des Populismus sieht. Crepu meint dagegen: "In Wirklichkeit ist es streng genommen nicht so sehr der 'Populismus', der die Literatur bedroht, sondern eine Form des preziösen Puritanismus, an den die französische Literatur von de Sade bis Bataille nicht gewöhnt war." Er führt das auf einen Selbsthass zurück, der auf einenn "gewissen Juni 1940" zurückgehe. "Seitdem ist die französische Literatur von einer tödlichen Krankheit heimgesucht und stellt sich unter die Aufsicht eines stählernen Über-Ichs: Man würde fast sagen, sie braucht permanent Schuldige als Krücke um gehen zu können. sie braucht Thesen, Anliegen, sonst fühlt sie sich verloren. Sie hat Angst vor der Leere, panische Furcht vor Leichtigkeit wie Tiefe."

Zu lesen ist außerdem eine Antwort der Anthropologin und Schriftstellerin Chahdortt Djavann auf das Gedicht von Günter Grass. Djavann glaubt, der Iran habe Besseres und Intelligenteres mit einer Atombombe vor, als sie auf Israel zu werfen: nämlich damit wirkungsvoller die Hamas und die Hisbollah sowie andere fundamentalistische und terroristische Bewegungen weltweit unterstützen zu können.

Magazinrundschau vom 27.03.2012 - Le Monde

So sehr der Philosoph Abdennour Bidar islamischen Würdenträgern zustimmt, die nach den Attentaten Mohammed Merahs die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus betonen, so wenig möchte er dem Islam in Le Monde unbequeme Fragen ersparen: "Kann die islamische Religion als Ganzes von dieser Art radikaler Tat rehabilitiert werden? Anders gefragt: Ganz gleich, wie beträchtlich und unüberbrückbar die Distanz ist, die diesen irren Mörder von der Masse der friedlichen und toleranten Muslime trennt, liegt in dieser Tat nicht dennoch der extreme Ausdruck einer Krankheit des Islam selbst?"

"Die Republik geht nicht in die Knie", ruft Caroline Fourest und fordert, die eigenen Vorstellung zu dekontaminieren. Sie zieht eine Verbindung von Mohammed Mehra zu Anders Breivik: "Das ist es, was die Fanatiker wollen: Zorn säen und spalten. Wenn ein Wahnsinniger ins Herz eines pluralen Landes zielt und sich dabei auf eine Religion beruft, dann verhärten sich die Gemüter. Diejenigen, die sich mit den Opfern identifizieren, befürchten, selbst Zielscheiben zu werden. Diejenigen, die die gleiche Herkunft oder Religion wie der Täter haben, befürchten, für Terroristen gehalten zu werden. Jeder betrachtet den anderen mit diesem Zweifel in den Augen, der zu einem tiefen Graben im Inneren eines Landes führt. Wir leben nicht mehr auf dem gleichen Planeten, nicht mehr zusammen."

Magazinrundschau vom 06.03.2012 - Le Monde

Die rituelle Schlachtung von Tieren nach dem islamischen (oder auch jüdischen) Ritus ist eines der unheimlicheren Wahlkampfthemen in Frankreich, seit Martine Le Pen versuchte, das Thema für ihre Zwecke umzumünzen. Le Monde hat zu dem Thema recherchiert - und findet manches problematisch, etwa, dass es keine klare Definition der "Halal"-Schlachtung gibt. Hinzukommt, so Stéphanie Le Bars, dass heute "einige Schlachthöfe auf eine doppelte Schlachtungkette verzichten und deshalb mehr rituell geschlachtetes Fleisch auf den Markt bringen als gebraucht wird (14 Prozent des Fleisches kommen in Frankreich laut Landwirtschaftsministerium aus ritueller Schlachtung, während nur zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch oder muslimisch ist). Das Landwirtschaftsministerium schätzt, dass 50 Prozent des Lammfleischs und 12 Prozent des Rindfleischs aus ritueller Schlachtung kommen."
Stichwörter: Schlachthöfe

Magazinrundschau vom 21.02.2012 - Le Monde

Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun unternimmt einen - literarischen - Versuch, sich in den Kopf des syrischen Präsidenten Bachar Al-Assad zu versetzen. Nach Überwindung von „mindestens sieben Absperrungen“ ist er drin: „Sein Kopf ist nicht besonders groß. Er ist voller Stroh, Stecknadeln und Rasierklingen. Warum, weiß ich nicht. Sein Gehirn ist ruhig. Kein Stress, keine Nervosität. Ich weiß nicht,woher er diese Ruhe nimmt.“ Eine Erklärung liefert Jelloun, indem der Assad Folgendes denken lässt: „Mein Vater hat mich gelehrt, dass man in der Politik ein Herz aus Bronze haben muss. Ich habe meinem angewöhnt, niemals zu brechen. Keine Gefühle, keine Schwäche. Denn ich riskiere meinen Kopf und das Leben meiner gesamten Familie. Die Gauner, die Syrien verwüsten bekommen nur, was sie verdienen. Man redet vom ,arabischen Frühling’! Was soll das? Wo ist ein Frühling in Sicht? Es ist doch nicht so, dass nur weil ahnungslose Hetzer öffentliche Plätze besetzen, die Jahreszeiten Rhythmus und Richtung gewechselt haben. Bei mir wird das, was sie ,den Frühling’ nennen, nicht stattfinden.“

Zu lesen ist außerdem die Sammelbesprechung einer Biografie, eines Essays und eines Romans über Sir Arthur Conan Doyle, dessen Held Sherlock Holmes Rezensentin Elisabeth Roudinesco als „freudianischen Ermittler“ feiert.

Magazinrundschau vom 14.02.2012 - Le Monde

Ungarn könne man nur mit einem Bonmot des Malers Marcel Duchamp wirklich verstehen, meint Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz in einem Interview zur politischen Lage des Landes: Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt. Viktor Orban habe das Volk verhext wie der Rattenfänger von Hameln. "Die Frage, die ich mir stelle ist: Weshalb hat Ungarn sich immerzu getäuscht? Als in Europa die Revolution tobte, hat es Maria-Theresia unterstützt! Seit dem 16. Jahrhundert gehörte das Land nacheinander zum ottomanischen Block, zum habsburgischen und schließlich zum sowjetischen. Jedesmal hat es versucht, ein Spiel innerhalb des Blocks zu spielen, der es sich einverleibt hat. Scheinbar ist man damit gut gefahren. Aber eben nur scheinbar." Kertesz' Urteil ist am Ende ziemlich vernichtend: "Ich bin kein Historiker, aber in Ungarn hat es niemals Demokratie gegeben, nicht im Sinne eines politischen Systems, sondern eines organischen Prozesses, der die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Im Fall Ungarns wurde diese Entwicklung durch den Aufstieg des ottomanischen Reichs im 16. Jahrhundert blockiert. Und dieser Rückstand wurde nie aufgeholt. Historisch gesehen hat es praktisch keinen Sinn, in diesem Land Demokratie zu erwarten."

Magazinrundschau vom 07.02.2012 - Le Monde

Er habe sich niemals wacher gefühlt als derzeit, erklärt der ägyptische Regisseur Yousry Nasrallah in einem Gespräch über seinen Film "Apres la bataille", den er gerade in Paris fertigstellt. Es handelt sich dabei um einen der ersten Filme überhaupt, der die Ereignisse am Tahrir-Platz vor einem Jahr fiktionalisiert erzählt: eine Demonstrantin verliebt sich in einen der Reiter, die die Aufgabe hatten, die Demonstranten anzugreifen. Exakt diese Figur gelte es, in ihrer Ambivalenz zu verstehen. "Ich habe gesehen, dass diese Reiter zunächst überhaupt nicht bewaffnet waren und dass sie darauf am heftigsten von den Demonstranten verprügelt wurden. Ich habe mich für ihren Hintergrund interessiert und mir wurde klar, dass sie keine Handlanger der Macht waren, sondern arme Teufel, die total instrumentalisiert wurden ... Ich glaube, dass man nichts von der ägyptischen Revolution begreift, wenn man nicht damit beginnt, diesen Menschen zu verstehen, vielleicht sogar zu mögen."

Zu lesen ist außerdem ein Bericht über das Filmfestival in Rotterdam, dessen Schwerpunkt in diesem Jahr auf den arabischen Revolutionen lag.
Stichwörter: Rotterdam, Tahrir, Tahrir-Platz

Magazinrundschau vom 31.01.2012 - Le Monde

Auf dem Feld akademischer Texte sieht der Philosoph Peter Sloterdijk einen "Pakt des Nicht-Lesens" wirken, der seinerseits für die Anfälligkeit und Neigung zum Plagiat konstitutiv wird. Man müsse davon ausgehen, argumentiert er, dass zwischen 98 und 99 Prozent der im universitären Kontext veröffentlichten Texte in der Erwartung geschrieben wurden, gar nicht gelesen zu werden. "In diesem System führt die unerwartete tatsächliche Lektüre zur Katastrophe. Das Interessant daran ist, dass das, was man tatsächliche Lektüre nennt, angesichts der ungeheuerlichen Lawine der akademischen Textproduktion gar nicht mehr stattfinden kann. Heutzutage sind nur noch digitale Lesegeräte und spezialisierte Suchprogramme in der Lage, als Vertreter des ursprünglichen Lesers mit einem Text ins Gespräch oder ins Nicht-Gespräch zu treten. Der menschliche Leser - nennen wir ihn Professor - schwindet im Gegenzug. Und dies exakt auch insofern, als der Akademiker wie der Experte seit langem dazu verdammt ist, eher Nicht-Leser als Leser zu sein."