Magazinrundschau - Archiv

Gazeta Wyborcza

171 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 18

Magazinrundschau vom 09.09.2008 - Gazeta Wyborcza

"Amerikaner sind vom Mars, aber Russen auch. Die Angst, als Schwächlinge zu erscheinen, dominiert den Umgang beider Seiten in der Kaukasuskrise. Die harte Rivalität der früheren Supermächte des Kalten Krieges wird zur banalen Konfrontation", schreibt der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Demgegenüber habe der vermeintliche Papiertiger Europa seine "soft power" richtig eingesetzt: "Kaufen Sie doch mal einen aktuellen Kinderfilm, zum Beispiel 'Shrek III', und lassen Sie sich davon überzeugen, dass in der heutigen Welt Papiertiger effektiver sind als richtige Tiger, oder gar böse Bären. Papiertiger sind freundlich, clever und haben weder Minder- noch Höherwertigkeitskomplexe. In der postmodernen Populärkultur sind sie es, die zu Helden werden, die Prinzessin retten, und zu Königen aufsteigen."

In einen Eklat mündete das Filmprojekt über die Verteidigung der Westerplatte durch polnische Soldaten im September 1939. Nachdem anstößige Szenen bekannt geworden waren, zog das Kulturministerium die Fördermittel zurück. Roman Pawlowski sieht den Fehler im System der öffentlichen Filmfinanzierung: "Die Mobilisierung der Branche und die Ankündigung großzügiger öffentlicher Förderung haben dem historischen Kino bisher nicht zum Durchbruch verholfen. Statt guter Filme haben wir jetzt eine Diskussion, ob die Soldaten Heiligenbilder oder Nacktfotos in der Uniform trugen. Trotz aller Stasi-Diskussionen entstand kein Film, der dem deutschen 'Das Leben der Anderen' nahe käme... Nach dem neuerlichen Streit wird sich jeder Drehbuchschreiber fünf Mal überlegen, bevor er eine Szene schreibt, die auch nur einen Millimeter vom traditionellen Geschichtsbild abweicht", so Pawlowski."

Außerdem wird daran erinnert, wie sich Ryszard Siwiec vor vierzig Jahren im Protest gegen die Invasion in die Tschechoslowakei vor 100.000 Menschen und laufenden Kameras im Warschauer 10-Jahres-Stadion verbrannte.

Magazinrundschau vom 02.09.2008 - Gazeta Wyborcza

Alina Kilian erinnert an das Schicksal der polnischen Danziger, die auch auf Polnisch so heißen: Vor 1945 diskriminiert und von den Nazis offen verfolgt, wurden sie danach von vielen polnischen Neuankömmlingen als "Volksdeutsche" verachtet, und suchten nicht selten die Flucht - nach Deutschland: "Ihre gedruckten Erlebnisberichte wurden in Polen kaum wahrgenommen. Das heutige Wissen über Vorkriegsdanzig stammt zum größten Teil aus Günter Grass' Büchern. Dieser hat in seinen Danziger Werken nie sein kleinbürgerliches Milieu verlassen, und die polnischen Bewohner in keinem Interview erwähnt. Die 'Danziger' wurden aus der Erinnerung getilgt".

Der Politologe Pawel Swieboda gewinnt dem herrischen Auftreten Russlands im Georgien-Konflikt auch etwas Positives ab: "Europa brauchte immer eine Krise, um über seinen Schatten zu springen. Jetzt kann es seine Mission und sein Selbstbewusstsein wiederfinden", schreibt der Autor im Hinblick auf den EU-Gipfel. "Jetzt hat die EU die Chance, geschlossen gegenüber Moskau aufzutreten, und sie - und nicht etwa die USA - kann auch Russland dabei helfen, von dem hohen Ross runterzukommen, auf das es sich begeben hat."
Stichwörter: Danzig, Georgien, Grass, Günter

Magazinrundschau vom 26.08.2008 - Gazeta Wyborcza

Das Buch "Obyczaje polskie. Wiek XX w krotkich haslach" (etwa: Polnische Sitten und Bräuche. Das 20. Jahrhundert in Schlagwörtern) ist aus zwei Gründen außergewöhnlich: Erstens sind die Autoren ausschließlich Frauen, nämlich Mitarbeiterinnen des Instituts für Polnische Kultur an der Universität Warschau, zweitens beschreibt es die letzten hundert Jahre Polens aus der Alltagsperspektive, das heißt, es handelt von Kochbüchern, Damenbinden und Frisuren. "Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass von oben verordnete Veränderungen der Realität meistens eine begrenzte Wirkung hatten. Wenn etwas die Sitten und Bräuche tatsächlich veränderte, dann waren es materielle Faktoren, die mit technischem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung verbunden waren, und nicht mit Politik", schlussfolgert Wojciech Orlinski.

Magazinrundschau vom 05.08.2008 - Gazeta Wyborcza

Auf der Suche nach der verlorenen Linken in Polen (mehr dazu hier) spricht Joanna Derkaczew mit den jungen Theaterregisseuren Monika Strzepka und Pawel Demirski. Die beiden zeigen sich wenig begeistert von den Realitäten ihrer Generation: "Mein Vater, ein Intellektueller, gründete nach 1989 eine Firma, aus der dann nichts wurde. Er verstand es nicht: Ich habe doch alles so gemacht, wie man mir gesagt hat. Das macht auch ein Großteil unserer Altersgenossen - sie tun, was man tun sollte: Schulungen, Kurse, Praktika. Und wenn sie nach ein paar Jahren feststellen, dass sich nichts ändert, geraten sie in Panik. Denn sie werden in dem illusionären Glauben gehalten, dass sie sich nur noch ein bisschen mehr anstrengen müssen, dann klappt es. Aber selbst wenn alle gleich begabt wären, und sich gleich anstrengen würden, es reicht nicht für alle. Das ist eine der größten Fallen des Neoliberalismus", konstatiert Demirski.

Anna Bikont lobt Joanna Wiszniewicz' Buch über die "März-Emigranten" - polnische Juden, die nach der antisemitischen Kampagne 1968 Polen verlassen mussten (mehr zum Hintergrund hier). Viele sind in ihrer neuen Heimat nie richtig angekommen, und hadern mit ihrer polnisch-jüdischen Identität. "Wiszniewicz kommentiert nichts, versucht nicht zu verallgemeinern. Sie gibt ihren Helden das Wort. Es ist ein exzellentes Stück 'oral history' - erzählte Geschichte, die von vielen Historikern in Polen immer noch misstrauisch beäugt wird, da sie Dokumenten - u.a. des kommunistischen Geheimdienstes - mehr glauben als dem gesprochenen Wort. Das Buch ist außerdem einfach exzellente Literatur."

Magazinrundschau vom 15.07.2008 - Gazeta Wyborcza

65 Jahren nach den Massakern von Wolhynien ist die Wunde zwischen Ukrainern und Polen noch längst nicht verheilt. Zur Vorgeschichte: Polen hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Friedensvertrag von Riga mit der Sowjetunion eine neue Ostgrenze ausgehandelt. Dabei wurden dem polnischen Staat auch Gebiete einverleibt, die mehrheitlich von Ukrainern bewohnt waren, deren Unabhängigkeitsbestrebungen die Polen unterdrückten. Als die Deutschen Mitte 1941 auch Ostpolen besetzten, gab es von 1943-44 entsetzliche Massaker - vor allem in Wolhynien - von ukrainischen Nationalisten an der polnischen Zivilbevölkerung mit bis zu 50.000 Toten. Auch die Vergeltungsaktionen der polnischen Heimatarmee forderten tausende von Opfern. (Mehr hier und hier) Das ist bis heute nicht vergessen. Der Lemberger Historiker Taras Wozniak sagt dazu: "Die ukrainischen Eliten haben die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ernst genommen". In Polen dagegen habe "die Erinnerung an die Ereignisse in Wolhynien die Gestalt eines bestimmten Rituals: Man vergisst den historischen Kontext, die damalige Realität, man sucht nicht nach Ursachen, will nicht verstehen. Es bleibt nur das ukrainische Verbrechen."

Und: Die Wyborcza trauert um den am Sonntag gestorbenen ehemaligen Außenminister Bronislaw Geremek. "Wir fühlen uns verwaist. Er war unser Rückhalt, unsere Autorität, unser Anführer, als die wichtigsten Fragen für Polen entschieden wurden."

Magazinrundschau vom 08.07.2008 - Gazeta Wyborcza

Lange hat Adam Michnik zu den neuerlichen Vorwürfen, Lech Walesa habe für den polnischen Geheimdienst gespitzelt, geschwiegen. Jetzt reicht es dem Weggefährten des "Solidarnosc"-Anführer: "Finger weg von Lech Walesa!" Trotz seiner eigenen Kritik an dem früheren Präsidenten kann Michnik nicht akzeptieren, dass mit Walesa die polnische Transformation - für die auch Michnik und die Gazeta Wyborcza stehen - in den Dreck gezogen wird. "Ich kann darüber nicht aus einem nur politischem Blickwinkel schreiben. Ich bin einfach entsetzt, ich empfinde Bitterkeit und Widerwillen. Ich hätte nie gedacht, dass Polen den 25. Jahrestag des Friedensnobelpreises für seinen Nationalhelden auf diese Weise begehen würde. Sagt nicht, ihr Enthüller, dass ihr die Wahrheit offenlegen wollt, die Andere (das Establishment?) verbergen wollen. Ihr lügt."

Außerdem freut sich Dawid Warszawski mal über ein positives Zeichen aus dem IPN, dem polnischen Institut der nationalen Erinnerung: Dort ist Bozena Szaynoks Buch über die polnisch-israelischen Beziehungen 1944-1968 erschienen. "Es ist nicht nur unentbehrlich für diejenigen, die sich für die Diplomatie der Volksrepublik Polen interessieren. Es ist auch ein Register der verspielten Chancen. Nicht nur aus historischen Gründen war Polen bis 1967 wichtig für Israel - der israelische Staat wurde zum großen Teil von polnischen Juden erbaut, die Eliten waren polnischssprachig. Für Polen, das im Ostblock gefangen war, hätte Israel wiederum ein Fenster zur Welt sein können. Der von den kommunistischen Machthabern nach dem Sechstagekrieg angestachelte Mob begleitete die des Landes verwiesenen israelischen Diplomaten mit Schlägen und Anfeindungen und schlug dieses Fenster damit endgültig zu."

Magazinrundschau vom 17.06.2008 - Gazeta Wyborcza

Michel Houellebecq hat sich inmitten einer Schaffenskrise auf Lesetour in Polen begeben! Er habe "wirklich keine Idee" für ein neues Buch, gesteht er im Interview . Ein Grund dafür liegt vielleicht in seiner Einstellung zur Realität: "Der Kapitalismus ist weder Hölle, noch Paradies. Er ist einfach die Welt, in der ich lebe. Man kann sagen, dass er mein Inneres ersetzt. In unserem Alltagsleben freuen wir uns über Einkäufe im Supermarkt oder die Vielfalt an Fernsehprogrammen. Dass die Welt so aussieht, wie sie aussieht, hat gewisse Vorzüge. Die Menschen sind zufrieden damit. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich unzufrieden, weil ich so von Natur aus bin." Außerdem meint er, dass es heute leichter sei, originell zu sein, als früher.

Der Historiker Janos Tischler erinnert außerdem an den 50. Jahrestag der Erhängung Imre Nagys, des ungarischen Premierministers, der den antisowjetischen Aufstand 1956 angeführt hat. Der "Reformer" ließ sich dabei von den Ereignissen eher mittragen, aber "die Entscheidung, aus dem Warschauer Pakt auszutreten, war eine historische - der Kommunist Imre Nagy identifizierte sich mit der Nation, gegen die Interessen und Dogmen der Partei und der internationalen kommunistischen Bewegung."

Magazinrundschau vom 03.06.2008 - Gazeta Wyborcza

Viele "traumatisierte Ex-Jugoslawen" prophezeien der EU ein ähnliches Ende wie dem Tito-Staat, konstatiert der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Fehlende Solidarität und wachsender Nationalismus gefährden die EU, Demokratie und Wohlstand sind keine Garantie für ihren Fortbestand: "Der Wohlstand geht irgendwann zu Ende und die Demokratie wird vom Volk benutzt, um den Staat kaputt zu machen", warnen sie. "Der Vergleich hinkt", kommentiert Krastev, "aber solche Gedanken sind in Krisenzeiten nützlich. Die Intuition meiner Gesprächspartner ist richtig - man darf die EU nicht als selbstverständlich ansehen, sonst wird es niemanden mehr geben, der sie verteidigen wird. Das war auch der tragische Fehler der jugoslawischen Eliten."
Stichwörter: Krastev, Ivan, Tito, Jugoslawen

Magazinrundschau vom 22.04.2008 - Gazeta Wyborcza

Feierlich wurde in Polen des 65. Jahrestags des Aufstandes im Warschauer Ghetto gedacht. In einem bewegenden Gespräch erzählt Marek Edelman, einer der Anführer des Aufstandes, von den (fast) vergessenen stillen Helden des Ghettos. "Janusz Korczak ist eine große Gestalt, ein Symbol all jener, die die Kinder nicht allein gelassen haben. Aber eine Hendusia Himelfarb - 21 Jahre alt und arisches Aussehen - konnte sich retten, und ging stattdessen mit den Kindern in den Transport. Das ist erst ein wahrer Mensch!"

Zu den spannendsten Projekten des Polnischen Kulturjahres in Israel gehörte ein Chopin-Konzert in Bethlehem. "Vor sechs Jahren belagerten israelische Truppen hier in der Geburtskirche versteckte Palästinenser, seit zwei Jahren ist die Stadt durch die Sicherheitsmauer abgeriegelt - wer wird da Chopins Mazurkas hören wollen?" schreibt Roman Pawlowski. Doch als nach dem Ausklingen eines traditionellen Weihnachtsliedes aus dem 16. Jahrhundert plötzlich der Muezzin zum Abendgebet ruft, "bleibt die Zeit stehen, die Kulturen kreuzen sich, und in die Musik vertieft merken wir nicht, wie eine ganze Stunde vergeht".

Außerdem: Der Historiker Andrzej Garlicki erinnert an das Internierungslager in Bereza Kartuska aus den Jahren 1934-1939, das er selbst als "polnisches Konzentrationslager" bezeichnet. Dort wurden vor allem politische Gegner des Pilsudski-Regimes bei "Verdacht auf Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit" ohne Prozess festgehalten und durch schwere Haftbedingungen eingeschüchtert.

Magazinrundschau vom 15.04.2008 - Gazeta Wyborcza

Was, wenn die polnische Regierung vorschreiben würde, welche Automarke die Polen fahren dürfen, fragt Dariusz Cwiklak angesichts der Tatsache, dass Polen fast reines Microsoft-Land ist. "Nutzer anderer Betriebssysteme als Windows sind in Polen Paria. Sie werden als notwendiges Übel oder gar wie Luft behandelt. Vertretern verschiedener Institutionen sagen Namen wie Mac OS X oder Linux gar nichts oder sie rufen Reaktionen hervor wie: 'Können Sie nicht einfach Windows benutzen?'". Als Beispiel sei die staatliche Sozialversicherungsagentur "ZUS" genannt, deren elektronisches Zahlungssystem sich nur mit dem Microsoftprogramm bedienen lässt. "Viele öffentliche Institutionen sind in Polen technisch unterentwickelt. Für Windowsverweigerer wie mich ist das vielleicht besser. Denn die echten Probleme werden dann auftauchen, wenn elektronische Kommunikation mit Behörden oder Steuererklärungen zur Pflicht werden, und die entsprechenden Programme nur unter Windows verfügbar sind", prophezeit Ciwklak.
Stichwörter: Linux, Microsoft