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Keine deutsche Zeitung hat vermerkt, dass
Alain Touraine am 9. Juni im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Er galt neben Pierre Bourdieu als einer der wichtigsten französischen Soziologen der Nachkriegszeit, hat eine ganze Schule begründet und an allen großen Kontroversen seit 1968 teilgenommen. François Dubet und Michel Wieviorka, zwei Schüler Touraines,
widmen ihm einen sehr freundschaftlichen und ausführlichen Nachruf. In einem nur auf den ersten Blick abstrakt wirkenden Absatz skizzieren sie seine differenzierten, sowohl durch Studien vor Ort als auch durch Reflexion gewonnen Einsichten: "In 'Critique de la modernité' zeigt Touraine, dass die Moderne
trotz des Siegs der Vernunft immer wieder von Nationen, vom Markt, von Identitäten und von inneren, subjektiven Brüchen unterminiert wird, die eine unüberwindliche Distanz zwischen 'wir' und 'ich' und mehr noch mehr innerhalb des 'ich' oder zwischen Moral und Ethik herstellen. Auch darum gelingt es demokratischen Systemen nie, soziale Bewegungen vollständig zu institutionalisieren. Nie ist der Akteur dem System adäquat. Die Moderne hat
das Subjekt hervorgebracht. Aber Touraine macht sich Sorgen, weil es ihm heute durch die Herrschaft des Marktes, den Narzissmus, den Drang nach Identitäten und den Niedergang des
demokratischen Universalismus, der doch die notwendige Voraussetzung für die Bildung des Subjekts ist, bedroht erscheint." Die beiden Nachrufautoren betonen Touraines in Frankreich so seltene
sozialdemokratische Orientierung: Touraine war viel mehr ein Mann Michel Rocards als François Mitterrands, und er war in den sozialen Konvulsionen, die Frankreich sei Jahrzehnten mit deprimierender Regelmäßigkeit heimsuchen, der Antipode Bourdieus. In der großen Krise des Streiks von 1995 predigte Bourdieu wie Sartre auf der Tonne, aber Touraine sah klarer.
Perlentaucher Thierry Chervel, damals Kulturkorrespondent der
SZ in Paris, zitierte Touraine mit der Diagnose von der "permanenten Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, den Wandel anders als in einem
dramatischen Klima des Kampfes zu verwirklichen". Aber viel Wandel war dann nicht mehr: Statt dessen eine immer giftigere Polarisierung im Zeichen des Front national und einer "linken Linken", die dem Rechtspopulismus alles zuordnet, was ihr nicht passt. Touraine zählte zu den ersten Seismografen dieser Entwicklung.