Magazinrundschau

Die Form bedeutet: Knusper

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.04.2020. Jeden Tag ein Werk von Beethoven stellt Slipped Disc vor. Bill Buford schwingt für den New Yorker die Rasierklinge zwecks Scarification eines Baguettes. Lidove noviny erinnert an die einst weltberühmten böhmischen Gitarren. In der London Review lernt Neal Ascherson: Informationen sind königliches Eigentum. Der Guardian sieht eine Rückkehr der Konzentrationslager auf der ganzen Welt. Dem Rolling Stone wird heiß im Meer. Die New York Times sucht das Cannabis für den besten Trip.

Slipped Disc (USA), 06.04.2020

Zeit, auf ein fast verrücktes Projekt hinzuweisen. Der New Yorker Musikkritiker Norman Lebrecht hat in seinem Blog Slipped Disc Ende letzten Jahres versprochen, jeden Tag ein Werk Beethovens in verschiedenen Aufnahmen vorzustellen, und was soll man sagen - er ist seinem Vorsatz treu und hat fast täglich auf die besten Aufnehmen etwa der "Eroica" (hier), der Fünften Sinfonie (in drei Teilen, hier, hier und hier), der "Missa Solemnis (hier und hier), aber auch abseitigerer Werke wie der witzigen kleinen Hornsonate (hier) hingewiesen. Immer redet er extrem kenntnisreich und sehr gerecht über die Aufnahmen und die Musiker. Definitive Aufnahmen gibt es für ihn von Beethoven-Werken fast nie, immer eher verschieden legitime und auch von ihrer Zeit geprägte Ansätze. Nebenbei erfährt man eine Menge über die Geschichte der Musiker und Ensembles, etwa wenn Lebrecht bei Gelegenheit des Streichquartetts opus 95 die Geschichte des Amadeus-Quartets erzählt: "Drei von ihnen -  Peter Schidlof, Siggi Nissel und Norbert Brainin - hatten sich als österreichische Juden in britischen Lagern für feindliche Ausländer kennengelernt. Den vierten, Martin Lovett, lernten sie durch Max Rostal, ihren Lehrer in London kennen. Sie gründeten das Quartett im Jahr 1947… Sie fingen gerade auf der britischen Decca an, als Elsa Schiller, die Produktionschefin der Deutschen Grammophon, sie in Berlin hörte und verpflichtete. Elsa war eine Überlebende des Lagers Theresienstadt. Sie suchte nach einem Gegengewicht zu etablierten deutschen Quartetten mit unschöner Nazivergangenheit. Da passte das Amadeus." Gibt es eigentlich irgendwo in Berlin eine Elsa-Schiller-Straße?

Lebrecht verlinkt in seinen Erläuterungen stets auf den Berliner Musikstreamingdienst Idagio. Da die Auszüge dort immerhin eine Minute dauern, bekommt man auch als Nicht-Abonnent schon mal einen Eindruck (bei rechtefreien Aufnahmen könnten sie aber auch auf das gesamte Werk verlinken, finden wir). Die Amadeus-Aufnahme von opus 95 (beeindruckender Anfang!) findet sich auch auf Youtube:



Hier der zweite Satz, der dritte Satz, der vierte Satz.
Archiv: Slipped Disc

New Yorker (USA), 13.04.2020

Seit er nicht mehr Herausgeber der Literaturzeitschrift Granta ist, widmet sich Bill Buford mit Hingabe dem Kochen: Er hat als Küchensklave, Sous-Chef, Pastamacher und Metzgerlehrling gearbeitet. Und sich dann als als Brotbäcker-Lehrling in einer französischen Boulangerie verdingt. Davon erzählt er in der aktuellen Ausgabe des New Yorker: "Das Wort Baguette bedeutet 'Stock' oder auch 'Taktstock' und wurde zur Benennung des Brotes wahrscheinlich erst seit dem Zweiten Weltkrieg benutzt. Über die Definition des Baguettes gibt es lange Auseinandersetzungen. In meinem 'Larousse Gastronomique', einem Handbuch der Französischen Küche, von 1938 findet sich das Wort jedenfalls nicht. Davor gab es andere Bezeichnungen wie 'ficelle' (Schnur), 'flute' (Flöte) oder 'batard' (der Dicke, der Bastard). Es spielt keine Rolle: Es ist nicht der Name, der französisch ist, sondern die Form. Ein langes Brot hat mehr Rinde als ein rundes. Die Form bedeutet: Knusper. Als ich Baquettes machte, war ich erstaunt über die Mühe und die Ökonomie des Ganzen. Du ziehst ein kleines Stück Teig heraus, wiegst es auf einer alten Metallwaage, rollst es aus, gibst es zum Aufgehen in eine Form, schlitzt es, bäckst es und kassierst 1 Euro für deine Mühen. Der Schlitz wird mit einer Art Rasierklinge ausgeführt, eine Skarifikation, so leicht, dass es den Laib nicht zerdrückt. Ich hatte Schwierigkeiten, den Schlitz ohne Druck ausführen, ebenso beim Ausrollen des Teigs. Bob (der Bäcker, d. Red.) hatte so eine Art der Berührung drauf, leichter als Luft, er hinterließ nie einen einzigen Fingerabdruck."

Außerdem: Ariel Levy berichtet von einer Frau aus Virginia, die in Uganda unterernährten Kindern helfen wollte und jetzt wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht steht. Der Wissenschaftsjournalist Matthew Hutson schreibt über die Suche nach Virostatika, antiviralen Wirkstoffen. In einem Pandemie-Dossier vermutet Gary Shteyngart, dass wir uns schon recht lange auf das Leben in der häuslichen Isolation eingestimmt haben (weitere AutorInnen sind u.a. Edwidge Danticat, Rebecca Mead, Donald Antrim und Maggie Nelson). Peter Schjeldahl vermisst die alten Meister im Museum. Dan Chiasson liest Gedichte von Joyelle McSweeney. Und Dorothy St. Félix guckt auf Netflix "Tiger King".
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 05.03.2020

Der Musiker, Autor und Romologe an der Universität Pécs, Zoltán Beck, spricht im Interview mit Tamás Sodos unter adnerem über die Stellung von Roma-Intellektuellen in der ungarischen Öffentlichkeit und eine fehlende kritische Selbstreflexion sowohl in der Minderheiten- als auch in der Mehrheitsgesellschaft. "Die Roma-Intellektuellen melden sich glücklicherweise in vielen Fällen im Diskurs um Sinti und Roma zu Wort. Doch mit der bequemen Delegierung der Verantwortung kann diese Frage nicht abgehakt werden. Es wäre eine joviale Geste zu sagen, dass die Roma jetzt über sich sprechen dürften, denn Freiheit bedeutet nicht, dass ich über mich selbst sprechen kann; Freiheit bedeutet, dass ich, dass wir über alles sprechen können. Und die Gesellschaft ist jene Gemeinschaft von Menschen, die ihre Angelegenheiten zusammen und verantwortungsbewusst besprechen. Die Roma-Intellektuellen äußern sich zu vielen Themen. Man kann damit übereinstimmen oder darüber diskutieren, was großartig ist oder ermutigend oder nicht wirklich relevant. Doch wenn die Nicht-Roma nur jene Stimmen hören möchten, die Echos ihrer eigenen Vorurteile sind, dann werden dadurch andere aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt. Damit gehen sie der Selbstkonfrontation mit den eigenen Vorurteilen und Machtpraktiken aus dem Wege. Im Endeffekt ist es so für sie sicherer: denn ansonsten würde es sich noch herausstellen, dass die Roma anders sind, als sie es sich vorgestellt haben und dann wären sie selbst nicht, was sie bis dahin glaubten zu sein."
Archiv: Magyar Narancs

London Review of Books (UK), 06.04.2020

Richard Norton-Taylor war als Reporter vierzig Jahre lang beim Guardian zuständig für Sicherheit und Verteidigung, in seinem Buch "The State of Secrecy: Spies and the Media in Britain" blickt er auf all die Affären und Skandale zurück, die die britische Regierung geheim halten wollte: während des Nordirland-Konflikts, im Irakkrieg, zu Beginn der Massenüberwachung durch das GCHQ. Der Historiker Neal Ascherson sieht von Norton-Taylor sehr deutlich vor Augen geführt, dass der britische Staat noch immer in seinem Wesen eine Monarchie ist, und Informationen scheinen, wie einst Schwäne und Störe, noch immer königliches Eigentum zu sein. Der Souverän ist hier nicht das Volk: "Wir haben keine unveräußerliche Rechte, es ist uns nur erlaubt, zu wählen und frei zu sprechen, weil die Regierung durch das Parlament großzügiger Weise einen Teil ihrer Macht an ihre Untertanen abgibt. Dieses Monopol umfasst natürlich auch die Information. Grob gesagt sind nach Ansicht der britischen Regierung alle amtlichen Informationen geheim, aber die Behörden können entscheiden, Menschen, die dazu eigentlich nicht befugt sind, Zugang zu gewähren. In den vergangenen Jahrhunderten bezog sich das im Prinzip auf die Presse und die Medien, aber der Staat wusste sehr wohl, dass ein solcher Zugang gegen politische Unterstützung verkauft werden kann. Dass alle öffentlichen Informationen frei und offen sein sollen, solange sie nicht anderweitig spezifiziert werden, bleibt eine fremde Vorstellung, trotz des Freedom of Information Acts."

Lidove noviny (Tschechien), 03.04.2020

Mit der tschechisch-englischen Publikation (Buch +CD) "Bohemian Jazz Guitars Tribute" erinnern Tomáš Dvořák und Marek Rejhon an ein völlig vergessenes Kapitel böhmischer Geschichte: In den deutschsprachigen Sudetengebieten wurden einst Gitarren von Weltrang hergestellt. In Schönbach (Luby) gab es schon 1723 die Werkstatt eines Geigenbauers, die im folgenden Jahrhundert zur Blüte gelangte, wie Ondřej Bezr zusammenfasst. In den 1930er Jahren "begannen im Produktkatalog sogenannte Archtop- oder Jazzgitarren aufzutauchen, für die eine gewölbte Decke und Schalllöcher in f-Form charakteristisch waren." Sie wurden - nach dem Vorbild der amerikanischen Firma Gibson - böhmische Gibsons genannt. Schönbach wurde zu einem wahren Musikzentrum, aus dem mehrere Firmen hervorgingen: Die Bassgitarre der Firma Höfner zum Beispiel erlangte durch Paul McCartney Berühmtheit. Der Schönbacher Fred Wilfer gründete nach der Vertreibung in Deutschland die Firma Framus. Besonderes Augenmerk legen die Autoren auf die Geschichte der Familie Bräuer: Zur Wehrmacht eingezogen, gelang es dem Deutschböhmen Alfred Bräuer nach dem Krieg dennoch, sich mit seiner Familie erneut in Schönbach/Luby anzusiedeln. Er konnte natürlich nicht mehr selbstständig arbeiten, "die Produktion erfolgte jetzt unter dem Dach der Genossenschaft und anschließend des Volksunternehmens Cremona; er arbeitete in seiner alten Werkstätte als Angestellter und musste in seiner früheren Villa nun Miete für eine Wohnung zahlen. Trotzdem entstanden aus seiner Hand immer noch meisterhafte Instrumente. Bis zum Jahr 1965, als Cremona die Produktion aus den kleinen Werkstätten in eine große Fabrik überführte, wodurch die Qualität der Instrumente um einige Klassen herabsank. Bräuer ging in Rente und zog zu seinem Sohn nach Deutschland. Und damit endete die ruhmvolle Ära der großartigen Gitarrenexperten aus den böhmischen Sudeten." Und hier eine musikalische Kostprobe:


Archiv: Lidove noviny

Rolling Stone (USA), 02.04.2020

Hitzewellen machen nicht nur auf dem Land zu schaffen, sie haben insbesondere auf den Ozeanen teils erhebliche Auswirkungen - dass sie sich dort quasi im Verborgenen abspielen, macht die Sache nur noch vertrackter, wie Jeff Goddells großer Reportage zu entnehmen ist. Was sich hier rächt: Ozeane absorbieren eine gewaltige Menge jener Wärme, die der Mensch durch seinen Ressourcenverbrauch hervorbringt - diese Wärme verschwindet aber nicht, sondern wird gespeichert, neu verteilt und langsam wieder abgegeben. "'Würde ein 200 Meilen langes Waldgebiet in den Bergen Kaliforniens mit einem Mal absterben, gäbe es einen Aufschrei in der Bevölkerung', sagt Laura Rogers-Bennett, eine Meereswissenschaftlerin am California Department of Fish and Wildlife, die an der Küste im Bodega Marine Lab arbeitet. 'Wir sprechen hier von dem Kollaps eines ganzen Ökosystems.' ... Hitzewellen in den Ozeanen führen dazu, dass sich das Leben unter Wasser massiv neu organisiert. Viele Tiere migrieren in kühlere Gewässer. 'Genau in diesem Moment könnte man vom Monterey-Steg springen und stachelige Hummer sehen', sagt Kyle Van Houtan, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung im Monterey Bay Aquarium. 'Das ist eine subtropische Spezies, die man normalerweise unten in Baja findet. Die hier so weit oben anzutreffen, ist absurd.' ... Diese Wanderbewegungen verändern das Ökosystem unter Wasser radikal, aber auch das Leben jener Leute, die auf Fischerei angewiesen sind. Wissenschaftler der University of California in Santa Barbara haben vor kurzem in einer Studie herausgefunden, dass tropische Nationen von der Fischmigration am härtesten betroffen sein werden. Bis zum Jahr 2100 könnten manche Länder in Nordwestafrika die Hälfte ihres Fischbestands verlieren. 'Wenn man weiß, dass die Bestände schwinden, besteht ein kurzfristiger Anreiz zur Überfischung', erklärt James Salzman, Professor für Umweltrecht an der Universität Santa Barbara, der an der Studie mitgearbeitet hat. 'Was hat man schon zu verlieren?'"

Archiv: Rolling Stone

Guardian (UK), 02.04.2020

Erleben wir eine Rückkehr der Konzentrationslager? Daniel Trilling, absolut kein Freund von Giorgio Agamben, blickt auf die Umerziehungslager in China, Gefängniskomplexe in Syrien und Internierungslager in Myanmar, aber auch auf die Flüchtlingslager der griechischen Inseln, in der Negev-Wüste und im Pazifischen Ozean und erkennt viele Unterschiede - in der Härte, im System, in der Absicht -, aber auch einige Gemeinsamkeiten: Als vorübergehende Maßnahme eingerichtet wurden sie zu permanenten Institutionen; sie existieren in einem Bereich rechtlicher Uneindeutigkeit; und sie zerstören die individuelle Persönlichkeit des Menschen: "Als Zygmunt Bauman in den neunziger Jahren begann, sich mit Lagern zu beschäftigen, stellte er fest, dass die Gewalt in unseren Zeiten durch Distanz gekennzeichnet ist - nicht nur die physische oder geografische Distanz, die durch Technologie ermöglicht wird, sondern soziale und psychologische Distanz, die durch komplexe Systeme hergestellt wird, in die jeder und keiner verwickelt zu sein scheint. Das funktioniert Bauman zufolge auf drei Ebenen. Erstens werden Taten in einer langen Kette von Zuständigkeiten ausgeführt, in der die Menschen Anweisungen geben und nehmen. Zweitens haben alle Beteiligten eine abgegrenzte Aufgabe zu erfüllen. Und drittens erscheinen die Betroffenen denen im System selten als völlig menschlich: 'Die Moderne machte die Menschen nicht grausamer', schrieb Bauman, 'sie erfand nur einen Weg, auf dem grausame Dinge von nicht-grausamen Menschen erledigt werden konnten'."
Archiv: Guardian

New York Review of Books (USA), 23.04.2020

Ed Park bespricht einen Roman des amerikanisch-koreanischen Autors Younghill Kang mit dem langweiligsten Titel der Welt: "East Goes West", aber dahinter verbirgt sich laut Park ein Spaßfeuerwerk, Erscheinungsjahr 1937: "Der jugendliche Chungpa Han kommt allein von Korea nach New York City, zwei Empfehlungsschreiben, vier Dollar und das Gefühl neu zu beginnen in der Tasche (er stellt fest, dass das koreanische Wort für Boot und Schoß das gleiche ist). Er preist Manhattan als 'magische Stadt auf dem Fels, aber ohne Bodenhaftung, nervös, voll mit jungen, dürren, prächtigen Dingen, hoch wie tausend Häuser, abseits von Natur, geschmückt mit Diamanten aus gefrorenen elektrischen Phänomenen, mechanischer Brutkasten, aus dem er selbst steigen wird.' Die Beschreibung geht praktisch in Flammen auf und erinnert an Kerouac. Der bloße Anblick der Stadt bewegt seine Seele, weil sie die Apotheose des Maschinenzeitalters darstellt, das Gegenteil seiner Heimat , die sich gegen den Wandel stellte."

Außerdem: Jason Farago stellt Caleb Crains zweiten Roman "Overthrow" vor, der junge Idealisten von Occupy-Wallstreet ins Zentrum rückt. Nadja Spiegelman liest Virginie Despentes' "Vernon Subutex". Und Rae Armantrout steuert das Gedicht "The Steps" bei.

New Statesman (UK), 03.04.2020

Im New Statesman sagt John Gray das Ende der Globalisierung voraus. Die EU habe ja schon ihre Schwäche gezeigt und werde bald ganz von China und Russland abhängig sein. Britannien dagegen sieht er für die Zukunft bestens gewappnet: "Der einstmals beeindruckende britische Staat wird rasch neu erfunden, und zwar in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Mit den vom Parlament genehmigten Notstandsbefugnissen hat die Regierung die wirtschaftliche Orthodoxie aus dem Feld geschlagen. Der durch jahrelange schwachsinnige Sparmaßnahmen zerrissene NHS - wie auch die Streitkräfte, die Polizei, die Gefängnisse, die Feuerwehr, die Pflege- und Reinigungsdienste - steht mit dem Rücken zur Wand. Aber durch den edlen Einsatz seiner Mitarbeiter wird das Virus in Schach gehalten werden. Unser politisches System wird intakt überleben. Nicht viele Länder werden so viel Glück haben. Überall kämpfen sich die Regierungen durch die schmale Passage zwischen der Unterdrückung des Virus und dem Zusammenbruch der Wirtschaft. Viele werden stolpern und fallen." Und dann wird die Welt beherrscht von Amerikanern, Chinesen, Russen und - natürlich - Briten!
Archiv: New Statesman

The Nation (USA), 13.04.2020

Nicht nur in Deutschland, auch in den USA hat die Katholische Kirche ein eigenes Arbeitsrecht, was oft genug bedeutet, dass ihre Mitarbeiter schlechter behandelt werden als Leute in gleichwertigen Jobs bei anderen Arbeitgebern und damit gegen die eigene Soziallehre verstoßen wird, berichtet Amy Littlefield. Das betrifft zum Beispiel studentische Hilfskräfte am Boston College: "Während die Universität mit Gewerkschaften verhandelt hat, die die Polizei und die Angestellten der Einrichtungen vertreten, bestehen die Verwaltungsbeamten darauf, dass Pingree und ihre Kollegen Studenten und keine Arbeiter sind. Und indem sie sich deren Recht auf die Gründung einer Gewerkschaft widersetzt, hat sich die Schule auf ein juristisches Argument berufen, das bei den Bundesbehörden und Gerichten zunehmend Anklang findet: Die katholische Mission des Boston College stelle die Arbeiter außerhalb des Schutzes des Gesetzes - in diesem Fall außerhalb der Zuständigkeit der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde (NLRB), die das Recht der Arbeiter im Privatsektor auf gewerkschaftliche Organisierung durchsetzt."

Die Behandlung von Woody Allens Memoiren - Verleger Hachette ließ sie fallen wie eine heiße Kartoffel nach ein bisschen öffentlich Druck - in den USA lässt sich nicht schön reden, schreibt JoAnn Wypijewski: Es ist Zensur. "Die bei Redaktionsschluss angekündigte Wiederauferstehung des Buches durch den Skyhorse-Verlag ändert daran nichts. Es sind absurde Zeiten, in denen sich die Zensoren als Gerechtigkeitskrieger verkleiden. Für sie ist der degenerierte Mann, wie Allen genannt wurde, das eigentliche Objekt der Auslöschung. ... Man muss sich keine Illusionen über die Gesellschaftsordnung oder den 'freien Marktplatz der Ideen' machen um zu verstehen, dass die Sackgasse immer dann erreicht ist, wenn jemand einem anderen befiehlt, den Mund zu halten. Das Problem der privaten Zensur unterscheidet sich nicht so sehr von dem Problem der Geheimhaltungsvereinbarung."
Archiv: The Nation

New York Times (USA), 05.04.2020

Für die neue Ausgabe des Magazins begibt sich Gary Greenberg zur Abwechslung in eine ganz andere Laborsituation und berichtet, wie die Wissenschaft alles daran setzt, uns mit einem Cannabisprodukt aus der Retorte den perfekten Trip zu verschaffen: "Das Cannabis-Business steht an einem kritischen Punkt mit Pot als einem regulären Konsumprodukt, von dem der Konsument bestimmte Qualitätsstandards erwartet, so wie bei Kartoffelchips und Seife auch. Der finanzielle Faktor ist klar: Trotz andauernder Verbote in 17 Staaten, ist die legale Droge ein 8-Milliarden-Dollar-Geschäft. Um Cannabis so populär und lukrativ zu machen wie Alkohol mit 200 Milliarden Dollar Umsatz, muss zuerst ein Problem gelöst werden: Kaum vorstellbar, Millionen von Nutzern die Sache schmackhaft zu machen, ohne den Effekt garantieren zu können. Firmen wie MedMen und INSA mögen ja glauben, den Code schon geknackt zu haben, doch das bleibt zu beweisen bei einem Produkt, das derart komplex ist wie Cannabis. Was diese Unternehmen sicher wissen, ist, dass das Milliarden-Dollar-Rennen begonnen hat … Die Neurologin Adie Rae hat eigens einen Fragebogen ausgearbeitet, um die Gewinner der jährlich in Portland, Oregon stattfindenden Cultivation Classics zu bestimmen. Cannabis-Wettbewerbe sind populär, aber Cultivation Classics sind wohl der einzige, bei dem die Juroren einen Nachmittag lang einer Wissenschaftlerin zuhören müssen, die über prädikative Algorithmen und Blindversuche spricht. 160 Leute erhalten ein schwarzes Täschchen mit Dutzenden nummerierten Glasampullen, darin je eine Knospe einer regional und organisch gezogenen Cannabispflanze. Die Aufgabe: innerhalb eines Monats mit je einer 48-Stunden-Pause jede Pflanze probieren und den eigenen psychischen Zustand vor und nach der Einnahme genau beobachten. Eine Pin gewährt den Probanden Zugang zu einer Website, auf der sie den ersehnten Effekt bewerten können, ob sie schläfrig wurden oder stimuliert, sozial oder eher verschlossen, kognitiv gehemmt oder angeregt, ob es Nebeneffekte wie rote Augen oder Angstzustände gab und Aroma, Aussehen, Geschmack nach ihrem Wunsch waren."
Archiv: New York Times