Magazinrundschau
Die menschliche Antwort auf das Massif Central
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
10.08.2010. In Newsweek diskutieren Hinterbliebene von Opfern über eine geplante Moschee in der Nähe von Ground Zero. Der New Yorker beschreibt die Lähmung der amerikanisch-iranischen Beziehung. In Eurozine beklagt Alexei Venediktov den deprimierenden Zustand der freien Presse in Russland. Magyar Narancs warnt die Ungarn davor, sich die russische Demokratie zum Vorbild zu nehmen. Das TLS erzählt, wie ein Anzug HG Wells zum Theaterkritiker machte. In Telerama beklagt Alain Badiou Frankreichs Ermattung. Der Boston Globe fordert, die Diskriminierung von Dicken und Ungeschminkten zu verbieten. Al Ahram denkt über das Schreiben des Dichters in der Fremde nach.
Newsweek (USA), 08.08.2010
In New York soll eine neue Moschee erbaut werden. Oder eher ein islamisches Mehrzweckzentrum mit Gebets-, Konferenz- und Ausstellungsräumen, einem Seniorentreffpunkt, Swimmingpool, Gymnastikraum und Auditorium. Kein Problem - läge sie nicht gerade mal zwei Häuserblocks von Ground Zero entfernt. Die Debatte, die darüber erwachsen ist, beschreibt Lisa Miller am Beispiel zweier Frauen, die am 11. September einen Sohn verloren haben (beide waren Feuerwehrmänner). Sally Regenhard, von deren Sohn nichts geblieben sei, das sie hätte beerdigen können, ist gegen die Moschee. "Es sei zu früh, sagt sie. Es sei zu nahe an Ground Zero, und es sei gefühllos gegenüber Menschen wie ihr, deren Angehörige immer noch über das 6,47 Hektar große Gelände hinaus verstreut sind, auf denen die Türme einst standen. Wenn die Leute, die hinter dem Bau der Moschee stehen, wirklich Frieden wollten, wie sie sagen, dann würden sie sie woanders bauen, aus Respekt vor der Heiligkeit des Platzes. 'Man ändert nicht Herzen und Hirne, indem man seine Religion anderen aufdrängt'", sagt Regenhard, die auch an die Kontroverse über das Karmeliter-Kloster in Auschwitz in den späten 80er Jahren erinnert. Adele Welty stimmt Regenhard zu, dass Ground Zero heiliger Boden sein sollte. Aber er ist es nun mal nicht. "Sie würde es lieben, wenn das Stück Erde, auf dem Timmy das letzte Mal ging, eine Oase für geschäftige New Yorker sein könnte, die ihre Köpfe frei machen wollen. Statt dessen, sagt sie, 'ist es eine erstklassige Immobilie. Wenn es heilig wäre, gäbe es dort keine Bulldozer und andere Geräte.' Sie glaubt nicht, dass ein Umzug der Moschee eine Antwort wäre. 'Über wieviele Blocks reden wir? Fünf Blocks, ein anderer Bezirk? Eine andere Stadt? Wir kritisieren moderate Muslime, weil sie nicht die Hand ausstrecken und ihre Stimme erheben. Aber wenn sie es tun, werden sie kritisiert."
New Yorker (USA), 16.08.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q19/A28310/ny.jpg)
Hendrik Hertzberg ärgert sich über die Proteste - insbesondere der jüdischen Anti-Defamation League - gegen die Moschee nahe Ground Zero und stellt sich auf die Seite des - jüdischen - New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg, der den Bau der Moschee in einer Rede von "schroffer Eloquenz" verteidigte: "Wir mögen vielleicht nicht immer mit jedem unserer Nachbarn übereinstimmen', sagte er. 'So ist das Leben. Und es ist Teil des Lebens in einer vielschichtigen und engen Stadt. Aber wir erkennen auch, dass es ein Teil der New Yorker ist, mit ihren Nachbarn in gegenseitigem Respekt zu leben. Es war genau dieser Geist der Offenheit und Akzeptanz, der am 11. September angegriffen wurde."
Besprochen werden u.a. Filme, darunter Jean-Francois Richets "Mesrine" (vorzüglich besetzt mit Vincent Cassel und, in einer Nebenrolle, Gerard Depardieu, "Gerard Depardieu ("the human answer to the Massif Central", schreibt Anthony Lane).
Slate (USA), 10.08.2010
Christopher Hitchens ist kein Freund der nahe Ground Zero geplanten, 'Cordobahaus' genannten Moschee. Die Initiatoren findet er sogar höchst unangenehm. Aber wie die Gegner gegen die Moschee vorgehen, hält er für ein Paradebeispiel von Intoleranz und Unvernunft: "Es scheint direkt aus dem Handbuch muslimischer Erpressung zu entstammen. Erkläre, dass etwas 'verletzend' sei, und die Behauptung selbst wird fast schon automatisch ein Argument. Man darf dabei sogar zugeben, wie es der Chef der Anti-Defamation-League Abraham Foxman tut, dass die Gründe für die verletzten Gefühle 'irrational und bigott' sind. Aber hey, warum nachdenken, wenn man einfach fühlen kann? Die behaupteten 'Gefühle' der 9/11-Angehörigen haben uns bereits der Möglichkeit beraubt, die Live-Aufnahmen der Angriffe zu sehen - ein immenses Zugeständnis, das eine allgemeine Trübung dessen zur Folge hat, was eine nüchterne und beständige Erinnerung der genuinen Wut sein sollte."
Eurozine (Österreich), 04.08.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q196/A28301/eurozine.jpg)
Times Literary Supplement (UK), 06.08.2010
H.G. Wells gilt als 'Mann der Zukunft', dessen Utopien von faschistischen Diktaturen und einer Europäischen Union tatsächlich Wirklichkeit wurden. Dass er aber auch ein Kind seiner Zeit war, das liest Claire Harmann in der Biografie "H.G. Wells - Another Kind of Life" von Michael Sherborn. So beschreibe dieser, wie Wells zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere Aufträge aller Art übernahm: "Das Problem für einen neuen Schreiber in den 1890er Jahren war nicht das Veröffentlichen oder der Lebensunterhalt - Michael Sherborne schreibt, dass es in diesem Jahrzehnt mehr als 2000 Journale gab -, aber sehr wohl, sich von der Masse abzuheben und bekannt zu werden. Wells akzeptierte daher alles, was der Journalismus ihm bot und war darauf vorbereitet, alle Arbeiten zu übernehmen, die nötig waren. Als er gefragt wurde, ob er Theaterkritiker für die Pall Mall Gazette werden wolle, war sein größtes Problem, dass er keinen Anzug besaß. Er ließ sich innerhalb von 24 Stunden einen schneidern. Niemand hatte ihn gefragt, ob er jemals im Theater gewesen war."
Außerdem: Nach Lektüre von Jonathan Balcombes "Second Nature", Jean Kazez' "Animalkind" und Adrian R. Morrisons "An Odyssee with Animals" zeigt sich Jennie Erin Smith unzufrieden mit dem Stand der Debatte über die Rechte der Tiere. "Die 'Anwälte der Tierrechte' sind damit gescheitert, die Öffentlichkeit und die Gesetzgeber davon zu überzeugen, dass Tiere niemals gequält oder getötet werden dürfen, einfach weil es Tiere sind; sie haben nur erreicht, dass festgelegt wird, unter welchen Umständen dies geschehen kann."
Außerdem: Nach Lektüre von Jonathan Balcombes "Second Nature", Jean Kazez' "Animalkind" und Adrian R. Morrisons "An Odyssee with Animals" zeigt sich Jennie Erin Smith unzufrieden mit dem Stand der Debatte über die Rechte der Tiere. "Die 'Anwälte der Tierrechte' sind damit gescheitert, die Öffentlichkeit und die Gesetzgeber davon zu überzeugen, dass Tiere niemals gequält oder getötet werden dürfen, einfach weil es Tiere sind; sie haben nur erreicht, dass festgelegt wird, unter welchen Umständen dies geschehen kann."
Slate.fr (Frankreich), 08.08.2010
Jacques Attali denkt in Slate.fr über eine in Wired zuerst aufgespürte scheinbar paradoxe Tendenz nach: Wir telefonieren immer weniger. "Meine Telefonrechnung schrumpft", schreibt Clive Thompson in Wired. Und Attali trägt Statistiken nach: Zahl und Dauer der Gespräche schrumpfen seit Jahren. Was zunimmt, ist der Datenverkehr. Attali sieht es als Folge eines Kults der Individualität: "Die alte Frage vom Ende des 19. Jahrhunderts - warum soll ich abnehmen, wenn jemand mich anklingelt? - ist plötzlich wieder aktuell. Viele Leute antworten nicht mehr, wenn man sie anruft. Wenn Unbekannte anrufen, nimmt man gar nicht mehr ab, und selbst mit Freunden verabredet man sich vorher per SMS für ein Telefongespräch."
Espresso (Italien), 05.08.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q17/A28287/espresso.jpg)
Telerama (Frankreich), 04.08.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q148/A28297/telerama.jpg)
Hier ein ausführlicher Fernsehdialog zwischen Badiou und Finkielkraut:
Magyar Narancs (Ungarn), 29.07.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q91/A28304/magyar.jpg)
Al Ahram Weekly (Ägypten), 05.08.2010
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q73/A28307/ahram.jpg)
(Hier noch vier ins Englische übersetzte Gedichte aus dem neuen Band und hier ein kurzes Interview mit Yamani, in dem er auch über gewisse Ähnlichkeiten zwischen arabischen und spanischen Prosagedichten spricht.)
Vielleicht sollten auch die ägyptischen Theatermacher mal ein Weilchen außer Landes gehen? Nehad Selaiha fühlte sich jedenfalls vom fünften Theatertreffen in Ägypten wenig inspiriert: "Ein Gefühl künstlerischer Erschöpfung und ein beschränkter Horizont zeichnete die Angelegenheit aus."
Boston Globe (USA), 08.08.2010
In den USA ist bei Einstellungen die Diskriminierung wegen Geschlecht, Rasse oder Ethnie verboten. In letzter Zeit gibt es aber immer mehr Diskriminierung - vor allem von Frauen - aufgrund des Aussehens, berichtet die Juraprofessorin Deborah L. Rhode anhand von Beispielen. Sie fordert daher ein Gesetz, dass die Ablehnung eines Bewerbers wegen seines Aussehens verbietet. "Weibliche Arbeitskräfte können bestraft werden, weil sie zu attraktiv sind und dann wieder weil sie nicht attraktiv genug sind. In gehobenen Positionen werden schöne oder sexy Frauen Opfer dessen, was Sozialwissenschaftler den 'Bimbo'-Effekt nennen - ihre Kompetenz wird bezweifelt und ihr Professionalismus abgewertet. Ältere Frauen werden ebenfalls an einem Doppelstandard gemessen und stecken in einer Zwickmühle. Männer können vornehm aussehen, wenn sie altern, sie können in Würde ergrauen. Aber Frauen in einem bestimmten Alter wird oftmals bedeutet, an ihnen müsste 'gearbeitet' werden. Fernsehzuschauer akzeptieren einen Larry King, aber kein weibliches Pendant. Zugleich riskieren Frauen, die den schöngezeichneten Idealen der Gesellschaft zu entsprechen versuchen, lächerlich gemacht zu werden. Man wirft ihnen vor, eitel und narzisstisch zu sein und sich zu sehr anstrengen, jung auszusehen."
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