Efeu - Die Kulturrundschau

Das höhere Abschreiben

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19.08.2015. Tex Rubinowitz hat aus einem Lexikon abgeschrieben? SZ und Presse zucken die Schultern: Das haben auch Thomas Mann oder Michel Houellebecq. In Boston zeigt derweil eine große Ausstellung über den Einfluss asiatischer Kunst auf die Amerikas, dass alles neue mit Kopieren beginnt. Auf Zeit online nimmt sich Florian Werner Dr. Dre zur Brust: Gibts in Compton keine Hispanics und keine Frauen? Die taz kommt enttäuscht aus Peter Bogdanovichs erster Komödie seit fünfzehn Jahren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2015 finden Sie hier

Literatur



Lyrik
ist in der Türkei derzeit stark. Das liegt zum einen an den Gezi-Protesten, zum anderen an den Sozialen Medien, erzählt Achim Wagner auf Qantara. So wird auf Twitter etwa unter dem Hashtag #şiirsokakta dazu aufgerufen, Gedichte im öffentlichen Raum zu schreiben: "Lyrik in ihrem Ausdruck als Straßenkunst ist in türkischen Städten unübersehbar geworden. Waren es für mehrere Monate insbesondere die Verse Cemal Süreyas, wie "Hayat kısa, / Kuşlar uçuyor" ("Das Leben ist kurz, / Die Vögel fliegen"), und Turgut Uyars, wie "İkimiz birden sevinebiliriz göğe bakalım" ("Wir beide können uns auf einmal freuen lass uns in den Himmel schauen"), die sich im öffentlichen Raum lesen ließen, führte das immer weitere Anwachsen der Bewegung dazu, dass man sich inzwischen beinahe die komplette jüngere türkische Lyrikgeschichte von der Straße aus erschließen kann (oder natürlich über ihre Spiegelung im Internet), von Tevfik Fikret über die Dichter der Garip-Bewegung, von Ahmed Arif, Nilgün Marmara, Özdemir Asaf, Can Yücel oder Attilâ İlhan bis zu bekannten Gegenwartsdichtern, wie etwa Gülten Akın, Haydar Ergülen, Birhan Keskin."

Nachdem Frank Fischer und Joseph Wälzholz ihn gestern beim Wikipedia-Abschreiben erwischt haben, gibt sich Autor Tex Rubinowitz heute gegenüber Lothar Müller zerknirscht, was den SZ-Redakteur allerdings wenig interessiert, denn: "Nicht erst, seit Thomas Mann für das "Typhus"-Kapitel in den "Buddenbrooks" das Konversationslexikon ausschrieb, ist "das höhere Abschreiben" mit den Lexika im Bunde. Sehr zu empfehlen als Schulung im Lexikonstil ist nicht nur für noch unsichere Autoren wie Tex Rubinowitz das Spiel..." Anne-Catherine Simon legt in der Presse noch nach: Auch Michel Houellebecq oder Urs Mannhart haben abgeschrieben, ohne dass ihnen daraus ein Plagiatsstrick gedreht worden wäre: "Außerdem muss man von derlei einzelnen Übernahmen nichts wissen, um Bücher zu beurteilen; denn diese werden davon weder weniger noch mehr wert, entscheidend ist allein das Wie und Drumherum. Ist es plumpe Abschreiberei, ist meist auch der ganze Text plump."

Die französische Presse überbrückt den Sommer mit ausführlichen Features über und mehrteiligen Gesprächen mit Michel Houellebecq, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ. Der gibt dem Affen mächtig Zucker: Ariane Chemin von Le Monde "hat der Schriftsteller ein Gespräch verweigert - und sie im Figaro angegriffen: Ihr Journalismus sei eine Mischung aus Fakten, relativ plausibler Fiktion und böswilligen Unterstellungen - auf dem Niveau der Klatschillustrierten. Auch verschickte er Mails an Freunde, Verleger, Kritiker, die er davor warnte, mit Le Monde zu reden." Mehr dazu hier. Heute erscheint zudem Teil 2 der sechsteiligen Houellebecq-Serie in Le Monde.

Amos Oz spricht im Interview mit dem Freitag über seinen Roman "Judas" und die Unschärfen der Israelkritiker: "Die einzige Nation der Welt, deren Existenzrecht immer wieder in Frage gestellt wird, ist Israel, sind wir. Das bereitet mir Unbehagen. Das ist nicht legitim. Es ist legitim, die israelische Regierung auf gut Alttestamentarisch zu verfluchen. Es ist mehr als legitim, die Politik Israels in den besetzten Gebieten scharf zu kritisieren. Eine solche Kritik unterstütze ich sogar. Das Existenzrecht Israels mit einem Fragezeichen zu versehen aber ist dunkel und böse."

Weitere Artikel: In der NZZ verteidigt Björn Hayer die Macht der Literatur gegenüber der Informationsflut im Netz. In der FAZ porträtiert Felicitas von Lovenberg die auf ästhetisch ausgefallene Kinderbücher spezialisierte Sammlerin Gundel Mattenklott.

Besprochen werden Katharina Hackers neuer Roman "Skip" (Spon), Dror Mishanis Krimi "Die Möglichkeit eines Verbrechens" (FR), Anke Stellings "Bodentiefe Fenster" (FR), Paul Westheims "Heil Kadlatz!" (Tagesspiegel) und Munro Prices Buch "Napoleon. Der Untergang" (NZZ).
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Kunst


Jose Manuel de la Cerda, Desk-on-stand, 18. Jahrhundert

In Bostons Museum of Fine Arts hat gerade eine Ausstellung über den Einfluss asiatischer Kunst auf die kolonialen Amerikas begonnen, meldet art daily: "These objects relay the complex story of how craftsmen throughout the hemisphere adapted Asian styles in a range of objects. Objects made in Mexico City, Lima, Quito, Quebec City, Boston, New York and Philadelphia, dating from the 17th to the early 19th centuries, include folding screens made in Mexico (that imitate Japanese and Chinese screens), blue-and-white talavera ceramics (copied from Chinese porcelain) and luxuriously woven textiles (made to replicate fine silks and cottons from China and India). These works reflect the beginnings of globalism, when ships carrying explorers, and later goods, connected the world as never before. It was the first era when Europe, Asia and the Americas were interconnected through trade on a large scale."

Weiteres: Die FAZ hat Kerstin Holms Bericht von ihrem Besuch des Nationalen Skulpturenmuseums im spanischen Valladolid online gestellt. Das ZeitMagazin bringt eine schöne Strecke mit Ken Schles" Fotografien der New Yorker East Village Bohème der Achtziger. Besprochen werden die Ausstellung "Mito e Natura" im Palazzo Reale in Mailand (NZZ) und eine Ausstellung der New Yorker Künstlerin Alice Neel in der Zürcher Galerie Thomas Ammann Fine Art (NZZ).
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Film



Peter Bogdanovichs erster Kinofilm seit fünfzehn Jahren, die Screwballkomödie "Broadway Therapy", konnte Sven von Reden in der taz nicht recht überzeugen: Insbesondere im Vergleich zu Bogdanovichs Screwball-Klassiker "Is" was, Doc" von 1972 bleibe der neue Film auf der Strecke: Er "erreicht nur selten die Rasanz und die atemlose Witztaktung des älteren Films. Die wäre aber wichtig, um die vielen unglaubwürdigen Zufälle und Wendungen der Handlung in den Hintergrund zu rücken. Das unebene Drehbuch und die wenig inspirierte visuelle Umsetzung sind die Hauptprobleme des Films."

In der SZ schreibt Fritz Göttler über die Peckinpah-Retrospektive von Locarno. Besprochen werden Steven Soderberghs auf ZDFneo ausgestrahlte Krankenhausserie "The Knick" (ZeitOnline), Partho Sen-Guptas Thriller "Sunrise" (critic.de, SZ), Anna Muylaerts Komödie "Der Sommer mit Mamã" (Kinozeit, FAZ), Antoine Fucquas Boxerfilme "Southpaw" mit Jake Gyllenhall (Welt, Standard), Christoph Hochhäuslers Politthriller "Die Lügen der Sieger" (Standard), This Lüschers Alzheimerfilm "Rider Jack" (NZZ) und die Tim-Burton-Ausstellung im Max-Ernst-Museum in Brühl (FR).
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Musik

Wenn es auf seinem neuem Album "Compton", wie angekündigt, um die Wahrheit über den Stadtteil gleichen Namens von Los Angeles gehen soll, dann bleibt Dr. Dre manches schuldig, meint Florian Werner auf dem Freitext-Blog auf ZeitOnline ein: "Die größte Bevölkerungsgruppe der Stadt, die Hispanics, kommt überhaupt nicht vor. Angehörige einer anderen signifikanten Gruppe − die Frauen − dürfen zwar hin und wieder einen Refrain oder Hook singen, haben ansonsten aber keine Stimme. Moment, doch: In einem Mini-Hörspiel (...) darf eine Frau verzweifelt um ihr Leben flehen, bevor sie ohne weitere Angabe von Gründen erschossen und wie ein Hund verscharrt wird. Und in dem Stück Medicine Man prahlt Eminem als Gaststar, dass selbst seine Vergewaltigungsopfer einen Orgasmus haben." Kunst und Künstler trennt Werner dabei bewusst nicht voneinander: Denn "Dre stand wiederholt wegen gewalttätiger Ausschreitungen gegen Frauen vor Gericht."

Laibach in Nordkorea - das lässt prächtig über das ohnehin schon sehr komplexe Verhältnis des slowenischen Rock-Kunstprojekts zur Ästhetik und Rhetorik totalitärer Regime nachdenken, meint Nicklas Baschek auf ZeitOnline. Etwa darüber, ob die nordkoreanischen Eliten vielleicht doch ironiebefähigt sind oder von der Welt tatsächlich nichts mehr mitbekommen und dem Laibach-Pathos auf den Leim gehen. "Kann das sein? Kaum vorstellbar. Das würde bedeuten, dass das Regime mit Laibach vorgeht wie Heino mit dem Song "Junge" von den Ärzten ... Durch Heinos Brechung der ironischen Brechung wird all das plötzlich so dekonstruiert, nein dekontextualisiert, dass die Ironie und der kritische Unterton verschwinden. Im nordkoreanischen Kontext werden Laibach so zu Verherrlichern des Totalitarismus - zumindest nach Auffassung der inländischen Propaganda."

Weitere Artikel: Auf Frank Zappas letztes noch vor seinem Tod fertiggestelltes, nun postum veröffentlichtes Album "Dance Me This" hätte Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) gut verzichten können: "Die Musik (...) ist leider viel schlechter gealtert als manches, was viel früher entstand. ... Gehört, verklungen, verweht." In der taz schreibt Tim Caspar Boehme über den Synthesizerpionier David Borden, der heute das Berliner Atonal-Festival eröffnet. Toby Cook (The Quietus) unterhält sich mit Greg Anderson von Sunn o))).Christian Schröder (Tagesspiegel) schreibt den Nachruf auf den Musikproduzenten Bob Johnston.

Besprochen werden das neue Album "Depression Cherry" von Beach House (Pitchfork), das neue Album von Boy (Tagesspiegel), die neue CD der Elektropunker Frittenbude (Welt), das Debütalbum "Vs. Galore" der Wiener Band Chick Quest (Standard), Alfred Wertheimers Bildband über "Elvis and The Birth of Rock and Roll" (Standard).
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Bühne

Rüdiger Schaper (Tagesspiegel) weiß, warum in der Sache Volksbühne und Castorf-Nachfolge in den vergangenen Monaten soviel Gesumm und Gebrumm war und manche Freundschaft über diese Streitfrage zerbrach: "Großbritannien hat die Royals, die Oper hat Bayreuth, Berlin und der Rest der Theaterwelt haben Frank Castorf." Dennoch rät er abschließend zur Gelassenheit: "Dass Frank Castorf, Herbert Fritsch, René Pollesch nicht in Berlin inszenieren, ist nicht vorstellbar. Jetzt und auch in fünf Jahren nicht. ... Denn am Ende machen nicht die Politiker und Kulturdenker, sondern die Künstler das Theater dieser Stadt, die Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner. Das weiß auch Chris Dercon."

Besprochen werden eine erstklassige Aufführung von Mozarts "Così fan tutte" unter der Regie von Jörg Lichtenstein bei den Bregenzer Festspielen (Standard), Nicola Porporas Barockoper "Il Germanico" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (von FAZ und SZ gefeiert), der Ruhrtriennale-Auftakt mit Johan Simons" "Accatone"-Bearbeitung (taz) und Werner Wüthrichs Buch "Die Antigone des Bertolt Brecht" (NZZ).
Archiv: Bühne