Francesca Melandri

Alle, außer mir

Roman
Cover: Alle, außer mir
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2018
ISBN 9783803132963
Gebunden, 608 Seiten, 26,00 EUR

Klappentext

Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich ist? Kennen Sie seine Vergangenheit? Die vierzigjährige Lehrerin Ilaria hätte diese Fragen wohl mit "ja" beantwortet, und auch ihre Angehörigen glaubte sie zu kennen - bis eines Tages ein junger Afrikaner auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung in Rom sitzt und behauptet, mit ihr verwandt zu sein. In seinem Ausweis steht: Attilio Profeti, das ist der Name ihres Vaters … Der aber ist zu alt, um noch Auskunft zu geben.
Hier beginnt Ilarias Entdeckungsreise, von hier aus entfaltet Francesca Melandri eine schier unglaubliche Familiengeschichte über drei Generationen und ein schonungsloses Porträt der italienischen Gesellschaft. Und sie holt die bisher verdrängte italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts in die Literatur: die Verbindungen Italiens nach Äthiopien und Eritrea bis hin zu den gegenwärtigen politischen Konflikten verknüpft Melandri mit dem Schicksal der heutigen Geflüchteten - und stellt die Schlüsselfragen unserer Zeit: Was bedeutet es, zufällig im "richtigen" Land geboren zu sein, und wie entstehen Nähe und das Gefühl von Zugehörigkeit?

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 04.09.2018

Rezensentin Thekla Dannenberg schätzt die italienische Autorin Francesca Melandri für ihre genaue Beobachtung, Recherche und erzählerische Souveränität. Qualitäten, die auch den neuen Roman ausmachen, versichert die Kritikerin, die hier die Familiengeschichte der Lehrerin Ilaria Profeti liest, vor deren Tür plötzlich ein äthiopischer Flüchtling steht, der sich als ihr Neffe zu erkennen gibt. Schon die Kraft, mit der Melandri in ihrer zwischen den Perspektiven switchenden Geschichte die Besetzung Abessiniens mit den aktuellen Fluchtbewegungen aus Äthiopien verknüpft, dabei vom faschistischen Rassismus der Italiener in den Dreißigern erzählt, verschlägt der Kritikerin den Atem. Vor allem aber bewundert sie, wie die Autorin das Verdrängen und Vergessen in der Nachkriegszeit vor Augen führt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.07.2018

Nachdem er ihren neuen Roman gelesen hat, glaubt Paul Jandl, in Francesca Melandri eine neue Elena Ferrante entdeckt zu haben: "Alle, außer mir" handelt von der italienischen Lehrerin Ilaria Profeti, die vor ihrer Haustür von einem ihr bis dato unbekannten Neffen überrascht wird. Er ist ein geflüchteter Äthiopier, weshalb Ilaria sich gezwungen sieht, sich mit der faschistischen Vergangenheit ihres Vaters auseinanderzusetzen, der 1935 für Mussolini in Afrika tätig war. Darüber hinaus muss sie sich nun umso dringender eine Meinung über die derzeitige Flüchtlingspolitik Italiens bilden, fasst Jandl zusammen. In seinen Augen hat der Roman nicht nur genaue historisch-politische Analysen zu bieten, sondern auch eine "gut ausgedachte" und anschauliche Geschichte. Beides verknüpft sich laut Jandl zu einem brandaktuellen Sittenbild, das der Rezensent als äußerst wertvolle Lektüre empfunden hat.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.07.2018

Christiane Pöhlmann sieht in Francesca Melandris im Original 2017 erschienenen Roman die Themen Identität, Verdrängung, Familie und Kolonialismus vorzüglich in einer Erzählung aus individueller Erfahrung und historischem Hintergrund behandelt. Dass Melandri ihr Personal nie vorführt, wenn sie die Conditio humana beleuchtet, scheint ihr bemerkenswert. Ebenso gut gefällt ihr, wenn die Autorin nicht auf historische Kontinuitäten abhebt, sondern auf die individuelle Verabeitung von Zeitläufen. So wird Geschichte für Pöhlmann universell. Umso bedauerlicher für die Rezensentin, dass der Text gegen Ende doch in einen historischen Roman übergeht, solide, lehrreich zwar, aber auch schablonenhaft und weniger packend, meint sie. Die Übersetzung von Esther Hansen fällt gegenüber dem Original an Eleganz und Klarheit ab, erklärt Pöhlmann.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 12.07.2018

Hier werden so "einige Lebenslügen Europas" in die Luft gesprengt, freut sich voll Grimm Rezensentin Julia Schröder. In "Alle, außer mir" widmet sich Francesca Melandri nämlich einem schmalen, unbeliebten und oft überblätterten Kapitel der italienischen Geschichte, erklärt Schröder: Dem Abessinienkrieg von 1935-36. Gnadenlos beschreibt sie anhand einer Familiengeschichte historische Tatsachen, vor denen viele gerne weiterhin die Augen verschließen würden. Sie erzählt von den Spätfolgen des Angriffs auf Äthiopien und schildert aktuelle Entwicklungen, die vor allem schockieren, weil die Parolen der Rechten von heute so sehr an damals erinnern. Melandris dritter Roman ist ein spannendes, hervorragend recherchiertes und politisch engagiertes Buch, lobt die Rezensentin. Dass Melandri insbesondere bei der Figurenentwicklung auf einige etwas abgeschmackte Stereotype zurückgreift, verzeiht sie ihr leicht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 11.07.2018

Groß nennt Rezensentin Cornelia Geißler diesen Roman der Italienerin Francesca Melandri, der mit der Geschichte der Familie Profeti die Gegenwart der Flüchtlingskrise mit der kolonialistischen Vergangenheit des Landes verbindet: Vor der Tür der vierzigjährigen Lehrerin Ilaria steht auf einmal ihr äthiopischer Neffe. Ihre  anfängliche Skepsis lässt die Rezensentin bald hinter sich. Der seltsame Anfang ergibt für sie im Nachhinein durchaus Sinn, und abgegrast sei das Feld des italienischen Familienromans mitnichten. Melandris Roman stößt tiefer in die Vergangenheit vor als die Romane von Elena Ferrante, versichert  Geißler, die aber auch die Gegenwart sehr verstörend verhandelt sieht. Wie Jodtinktur lässt der Roman die Wunden unser Zeit brennen, meint Geißler mit Blick auf Flüchtlingselend und die CIE - die italienischen Zentren zur Identifikation und Abschiebung.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 03.07.2018

Dieser Roman trifft zielsicher ins "nervöse Herz der Gegenwart", schwärmt Rezensentin Meike Fessmann, die unter der pulsierenden Oberfläche einer Familiengeschichte ein dichtes Netz verdrängter Emotionen, Konflikte und Geheimnisse entdeckt. Erzählt wird die Geschichte einer italienischen Großfamilie, die schon zu Lebzeiten des 1915 geborenen Vaters mit dessen Zweitfamilie konfrontiert wurde und nach dessen Tod Bekanntschaft mit einem jungen Äthiopier macht, der behauptet, der Enkel des Verstorbenen zu sein. Wenn Melandri, die auch als Drehbuchautorin arbeitete und für diesen Roman auf zwei Äthiopienreisen recherchierte, schwungvoll und mit zahlreichen Perspektivwechseln die Biografie des Alten aufblättert, dabei Mussolini-Kult, Abessinien-Krieg und die Kolonialgeschichte Italiens mit aktuellen Migrations- und Sexismusdebatten kurzschließt, verzeiht die angeregte Kritikerin gern die wenigen Längen.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 30.06.2018

Rezensent Marc Reichwein freut sich, dass Francesca Melandris Roman "Alle, außer mir" einen Beitrag zur Aufarbeitung der italienischen Faschismus- und Kolonialgeschichte leistet, die in seinen Augen dringend nötig ist, wenn man die derzeitige politische Situation Italiens verstehen will. Die Handlung kreist um eine vierzigjährige italienische Lehrerin, die plötzlich mit einem äthiopischen Geflüchteten konfrontiert wird, der angeblich ein Enkel ihres Vaters ist, so Reichwein. Dabei bietet der umfangreiche Roman sowohl ein tiefsinniges Familienportät als auch ein ungeschöntes Panorama Roms inklusive der migrantisch geprägten Viertel und das mit der Spannung eines Politthrillers, so der begeisterte Rezensent. Er hat die "große literarische Psychoanalyse" Italien auch im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in ganz Europa als äußerst lesenswert empfunden.