Der Kongress "Die Freiheit im Blick", den die Zeitschrift Osteuropa gerade zusammen mit dem Goethe-Institut und der polnischen Botschaft in Berlin ausrichtet, dürfte wohl zu den spannendsten Veranstaltungen des gesamten Gedenkjahres gehören: Versammelt hat sich die halbe mitteleuropäische Intelligenzija, um über Aufbruch, Freiheit und die Verheißung Europa zu diskutieren. Rita Süßmuth seufzte in ihrem ansonsten etwas pastoralen Statement hübsch lakonisch: "Geist - davon kann es ruhig mehr geben". Der polnische Botschafter Marek Prawda warb sehr überzeugend für die unruhestiftenden Qualitäten der Polen. Und der große Adam Michnik, unerschütterlicher Dissident und Herausgeber der Gazeta Wyborcza, blickte in seiner Eröffnungsrede auf die Zeit des großen Aufbruchs und ihre hässliche Kehrseite, die Jugoslawienkriege, zurück und schloss daran ein flammendes Plädoyer auf Europa, das nun endlich mit zwei Lungen atme. Der Text, der der Rede zugrunde liegt, ist nur im Print - in Osteuropa nachzulesen:

"Was bedroht Europa heute? Auf der einen Seite ein zu Schwäche führender Zynismus, der jede Wertelehre und jedes Wertesystem aushöhlt, auf der anderen Seite alle autoritären oder gar totalitären Projekte. Wir sprechen über ein multikulturelles Europa, was natürlich gut ist. Dennoch - wenn wir in Europa einen großen Anteil von Bürgern aus der Welt des Islam haben, die als Minderheit unter Verweis auf die europäischen Grundsätze Rechte einfordern, wenn sie aber zur Mehrheit geworden sind, diese Rechte anderen verweigern, da das ihre Grundsätze sind, so ist darauf hinzuarbeiten, dass die Europäische Union die demokratischen Werte standhaft verteidigen kann.

Natürlich vereinfache ich. Aber darauf beruht das Paradox der Demokratie, dass sie ihre Feinde stets toleriert. Und sie muss so sein, wenn auch nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wenn diese Grenze überschritten wird, schlägt sich die Demokratie selbst die Zähne aus. Ich habe mir sehr oft die Frage gestellt, warum die Weimarer Demokratie untergegangen ist. Weil niemand sie verteidigen wollte - weder die Intellektuellen noch die Gewerkschaften und auch nicht die Arbeiter. Es siegte ein partikularer Egoismus, der die Nazis an die Macht brachte. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht, oder sie wiederholt sich nur als Farce - wie Marx mit Hegel sagte -, doch die Demokratie ist nie garantiert. Es könnte wieder so weit kommen, dass niemand die Demokratie wird verteidigen wollen.

Wenn ich zeitgenössische Theaterstücke ansehe oder Literatur lese - vor allem junge polnische Künstler -, sehe ich hier Verachtung für die Institutionen eines freien Staates. Man kann natürlich sagen, dass die Eliten alles dafür getan haben, um zum Gegenstand von Verachtung zu werden, doch wenn niemand den demokratischen Staat verteidigen wird, wird er schließlich unterliegen. Meine Obsession ist die Verteidigung der Republik. Das Wesen der Auseinandersetzung in jedem unserer Länder lautet: Verteidigst du die liberalen Werte oder bist du mit einer Art Staat vom Schlage des Putinismus einverstanden?"

Die Veranstaltung geht heute den ganzen Tag über im Roten Rathaus in Berlin weiter, mit Diskussionen zu Europa in Bewegung, Freiheit der Kultur oder europäische Öffentlichkeit. Dabei sind unter vielen anderen Ales Steger, Ivaylo Ditchev, Ilmar Raag und Mykola Rjabtschuk.