Außer Atem: Das Berlinale Blog

Die Leinwand wird pink vor Zorn - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
09.02.2019. Energetisch aufgeladen verlassen die Kritiker nach Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt "Systemsprenger" den Saal. François Ozon prangert den Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche an. Und das Forum macht Erkundungen im satanischen Oberammergau. Der zweite Berlinale-Tag im Rückblick.
Energiebündel: Helena Zengel in "Systemsprenger"

Berlinale, zweiter Tag. Ziemlich umgehauen sind die Kritiker von der Energie, die die kleine Helena Zengel als schwer erziehbares Kind in Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt "Systemsprenger" auf die Leinwand bringt. Der Film "jagt uns durch alle Gefühlszustände, die in diesem vereinsamten Kind mit all seinen Traumata wabern", erklärt Thekla Dannenberg im Perlentaucher. "Die Leinwand wird pink vor Zorn. So sieht ein mentaler Filmriss aus." Der Film "kann mit dem unkontrollierbaren Mädchen kaum Schritt halten", staunt Andreas Busche im Tagesspiegel. Zengles Performance grenzt an ein "Wunder", schreibt Verena Lueken in der FAZ. Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland sah "einen sehr guten und oft schönen Film, der zugleich zum Verzweifeln ist."  Etwas skeptisch zeigt sich allerdings Andreas Fanizadeh in der taz, was die schlussendliche Lösung betrifft, die der Film nahelegt: "Ist das nicht ein wenig konservativ gedacht? Ohne traditionell vorgestellte Familie kein kindliches Glück? Soll tatsächlich das ganze Streben von Sozialarbeit und Kinderpsychologie darauf ausgerichtet sein, die häufig so dramatisch scheiternde Lebensform Kleinfamilie im 1-zu-1-Maßstab zu restaurieren?" Gunda Bartels hat für den Tagesspiegel mit der Regisseurin gesprochen.

Unauffällige Schauspieler: Francois Ozons "Grâce à Dieu"

Die Kritiker loben den "fast dokumentarischen" (Christiane Peitz, Tagesspiegel) Ansatz, mit dem François Ozon in "Grâce à Dieu" einen Missbrauchsskandal in der Kirche aufarbeitet. Dabei bleibt er ganz "parteiisch" und ein "Verbündeter der Opfer", schreibt Peitz weiter. Der Auteur bleibt gegenüber dem auf einer realen Geschichte beruhenden Fall demütig, lobt Perlentaucher Thierry Chervel: Ozon "nimmt sich zurück, auch die Schauspieler stehen ganz im Dienst der Sache. Manche von ihnen sind in Frankreich sehr prominent und im Film doch ganz unauffällig."

Über beide Wettbewerbsfilme haben sich im critic.de-Podcast Olga Baruk, Till Kadritzke, Philipp Schwarz und Hannah Pilarczyk unterhalten.

Die Moderne in ihrer Pracht: Wang Quan'ans "Love me Tender"

Wang
Quan'ans Wettbewerbsfilm "Love me tender" ist leider nur sehr "durchschnittlich gelungen", seufzt Fabian Tietke in der taz. Im Gegensatz dazu liegt für Susanne Lenz von der Berliner Zeitung hier ein Bärenkandidat vor. Perlentaucherin Anja Seeliger hat sich durchaus erst einmal ein bisschen gelangweilt, aber noch lange nachgedacht über den Film. Fazit: "Während uns die Moderne schon wieder abhanden zu kommen scheint, kann man sie in der Mongolei noch in ihrer ganzen Pracht bewundern." Für den Tagesspiegel bespricht Gunda Bartels den Film.

Satanismus in Oberammergau: "Die Kinder der Toten"

"Eine Art satanisches Oberammergau im Alpenland" beobachtet der staunende taz-Kriitker Ekkehard Knörer in Kelly Coppers und Pavol Liskas auf Super8 gedrehter, im Forum gezeigter Elfriede-Jelinek-Adaption "Die Kinder der Toten".

Für die taz spricht Barbara Wurm mit Thomas Heise über seinen Film "Heimat ist ein Raum aus Zeit" und die Geschichte der DDR. Thekla Dannenberg wirft für den Perlentaucher einen Blick in die Sektion "Native Cinema" mit indigenem Kino. Silvia Hallensleben empfiehlt im Tagesspiegel die Hommage des Forums an die Schauspielerin Delphine Seyrig. Christian Blumberg berichtet im Tagesspiegel von der Auftaktkonferenz der von Filmkritikern veranstalteten "Woche der Kritik".

Elmar Krekeler hat sich für die Welt die mal wieder provinziell witzelnde Eröffnungsgala des Festivals angesehen und dabei mächtig mit den Augen gerollt: "Es wäre ein feiner Anfang, wenn Kosslicks Nachfolger Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek neben einigem anderen überflüssigen Kram im Programm die Gala entweder komplett streichen oder tatsächlich von ihrer Kleintierzüchterhaftigkeit befreien könnten." Ein dümmlicher Witz, den Anke Engelke bei der Eröffnung gerissen hat, lässt Bert Rebhandl im FAZ-Blog über Neukölln grübeln..

Besprochen werden Nikolaus Geyrhalters "Erde" (Tagesspiegel), Jenna Bass' "Flatland" (Perlentaucher, Tagesspiegel), Jayro Bustamantes "Temblores" (taz, Tagesspiegel) undHeinrichBreloers ARD-Zweiteiler "Brecht", den das Berlinale Special zeigt (Berliner Zeitung).

Für den schnellen Blick stets interessant: Der Kritikerspiegel von critic.de und die Cargo-SMS vom Festival.