Außer Atem: Das Berlinale Blog

Rein imaginär: Miguel Gomes' 'Tabu' (Wettbewerb)

Von Lukas Foerster
15.02.2012.


Am Anfang steht ein vollbärtiger, traurig dreinblickender Mann im Dschungel, dann verwandelt er sich vielleicht in ein Krokodil, vielleicht wird er von einem gefressen. Dazu leise, verspielte Klaviermusik und eine sanft dröhnende Voice-Over-Stimme, die über die Möglichkeit eines melancholischen Krokodils nachdenkt. Dann Schnitt auf eine ältere Frau, die alleine im Kino sitzt, bald aufsteht und mit dem Auto nach Hause fährt. Der Film im Film, mit dem "Tabu" beginnt, ist zu Ende, aber gleichzeitig setzt er sich fort im kontrastarmen Schwarz-weiß und dem 1.37:1-Bildformat des klassischen Kinos, das Miguel Gomes' dritter Langfilm bis zum Ende durchhält. Auch die Klaviermusik weht noch ein paar Einstellungen lang nach. Das melancholische Krokodil wird schließlich ebenfalls wiederkehren, als fröhliches Babyreptil, das in einer afrikanischen Badewanne planscht.

Aber zunächst: Kapitel eins ("Das verlorene Paradies"), drei Frauen in Portugal. Pilar, die Frau aus dem Kino, die alleine lebt und politisch überaus aktiv ist. Ihre deutlich ältere Nachbarin Aurora, die regelmäßig alles Geld, das sie auftreiben kann, im Casino verspielt. Und Auroras schwarze Haushälterin Santa, die von ihrer Chefin unter Voodoo-Verdacht gestellt wird und in ihrer Freizeit in einem Buchklub Robinson Crusoe liest. Später, im zweiten Teil ("Paradies"), setzt wieder ein dröhnender Voice Over ein, dafür verlieren die Menschen im Film plötzlich ihre Stimmen, es geht zurück nach Afrika, in Auroras Jugend, kurz vor dem Ausbruch der antikolonialen Befreiungskriege. Sie begann damals gerade eine Affäre mit einem schnurrbarttragenden Weltenbummler.

Miguel Gomes, ein faszinierender Regisseur, der mit jedem Film schwerer ausrechenbar wird, erzählt eine Geschichte, in die viele andere Geschichten eingelassen sind. Alle Stimmen, die im Film auftauchen, haben einen Hang zum Fabulieren. Es geht dann unter anderem um Männer, die sich in Affen verwandeln, wenn sie in der Bahn kein Ticket lösen wollen, um einen schattenboxenden Neurotiker, dessen Vater jeden Sonntag russisches Roulette spielt, mit erwartbarem Ausgang und um eine obskure Beatkapelle, die in einem gewaltig ausladenden Baum für Pressefotos posiert. Wie sich das Fabulieren zu dem historischen Prozess der Entkolonialisierung verhält (oder eben gerade: wie es sich nicht verhält, wie sich die gomesschen Fantasmen gerade nicht so ohne weiteres auf historische Argumente umrechnen lassen), kann man vielleicht an einer sehr schönen Szene ablesen, in der die beiden Liebenden den Himmel betrachten und Tierumrisse in die Wolken eintragen, während die anderen Europäer Schießübungen veranstalten. Die krachenden Schüsse brechen die in wunderbar dreister Manier direkt ins filmische Bild gezeichneten Traumgebilde nicht auf.



"Tabu" ist offensichtlich mindestens auch ein Film über das Kino. "Tabu" ist der Name eines (vermutlich fiktionalen) Berges in Afrika, aber auch der des letzten und schönsten Murnau-Films (hier auf Youtube), eines Stummfilms, der schon zum Zeitpunkt seines Entstehens gewissermaßen aus der Zeit gefallen war: Im Jahr 1931 war Hollywood schon voll und ganz im Tonfilm angekommen, Murnaus anachronistisches Südsee-Epos wurde erwartetermaßen zu einem kommerziellen Misserfolg. Partielle Stummheiten im Reich der Töne erkundet auch Gomes' "Tabu". Die gesamte Ästhetik des Films ist infiziert von Filmgeschichte - vor allem von jener Phase Anfang der Dreißiger Jahre, als das Tonfilmkino sich seiner eigenen Sprache noch nicht ganz sicher war und das Stummfilmkino in ihm ein gespenstergleiches Nachleben führte.

Nun ist der Film dabei aber von nichts weiter entfernt als von Filmen wie "The Artist" oder "The Good German" und deren literalem Interesse an Filmgeschichte ("so sah das damals aus und das machen wir jetzt auch"). Gomes' Zugang zur Filmgeschichte funktioniert nicht positivistisch, wie bei Hazanavicius, auch nicht fetischistisch, wie bei Guy Maddin, sondern sozusagen rein imaginär (und ist vielleicht am ehesten vergleichbar mit dem des philippinischen Regisseurs Raya Martin, die Himmelszeichnungen könnte sich Gomes sogar direkt aus Martins "A Short Film About the India Nacional" abgeschaut haben). Es geht nicht um das mühselige (und oft ja auch angeberhafte) Nachstellen historischer Stile; eher um so etwas wie eine immer schon korrumpierte Selbsterinnerung des Kinos, um euphorische Verunreinigungen des Gegenwärtigen durch Spuren einer gleichzeitig er- und wiedergefundenen Vergangenheit.

Lukas Foerster

"Tabu". Regie: Miguel Gomes. Mit Teresa Madruga, Laura Soveral, Ana Moreira, Carloto Cotta u.a., Portugal / Deutschland / Brasilien / Frankreich 2012, 119 Minuten. (Vorführtermine)