9punkt - Die Debattenrundschau

Die Substanz von Demokratie und Rechtsstaat

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2024. Populismus ist "kein politischer Stil", mahnt der Historiker Christian Lotz in der FR, sondern erstarkt, wenn man gesellschaftliche Probleme ignoriert. In der Jüdischen Allgemeinen erzählt Alon Nimrodi, Vater einer Geisel, von hundert Tagen Hölle. Spon berichtet von einem hämischen Ratespiel der Hamas über die Überlebenschancen der israelischen Geiseln. Die Bauernproteste zeigen: man muss romantische Vorstellungen von der Landwirtschaft ablegen, fordern die Ruhrbarone. Warum sind alle überzeugt das Richtige zu tun, aber niemand ist zufrieden, fragt der Schriftsteller Etgar Keret in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2024 finden Sie hier

Politik

Während ausführlich über die Völkermordklage gegen Israel berichtet wurde, hat man den Eindruck, dass es die Verbrechen der Hamas kaum noch in die Wahrnehmung der Medien schaffen. Gestern verlinkten wir auf einen Artikel der New York Post über die drei Gelseln Noa Argamani, Itai Svirsky und Yossi Sharabi. Die beiden letzteren scheinen von der Hamas ermordet worden zu seien, nachdem die Terroristen in den sozialen Medien hämische Ratespiele inszeniert hatten, welche von den Geiseln wohl überleben würde. Allzuviel ist in den deutschen Medien darüber nicht zu finden. Bei Spiegel online spricht Thore Schröder von einer "besonders zynischen Botschaft" und sieht Israel in einem Dilemma: "Rein militärisch scheint die Hamas den Krieg um Gaza zu verlieren. Doch politisch hat sie Israel eine schwere Verwundung beigebracht. Für sie sind die israelischen Gefangenen Verhandlungsmasse. Freigelassen werden sie nur, wenn Israel Maximalforderungen erfüllt, palästinensische Kämpfer freilässt und die Angriffe in Gaza beendet."

"Wie sehen meine Tage aus? Meine letzten hundert Tage? Wie die Hölle. Jeder einzelne davon", schreibt Alon Nimrodi, Vater des Soldaten Tamir, 18, der am 7. Oktober als Geisel genommen war, in der Jüdischen Allgemeinen: "Ich weiß, dass drei gute Freunde, mit denen er sich auf der Militärbasis die Stube geteilt hat, vor seinen Augen erschossen wurden. Und dann wurde er zusammen mit zwei anderen, Ron Sherman und Nik Beizer, verschleppt. Vor etwa einem Monat hat die Armee in einem Hamas-Tunnel die Leichen von Ron und Nik gefunden. ... Verzeihen Sie, aber ich weine einfach, ich wehre mich nicht mehr dagegen. Ich weine den ganzen Tag. Wenn ich weine, dann weine ich ... Ron und Nik sind erstickt. Die Terroristen haben sie getötet, indem sie einfach die Lüftung abgestellt haben."

Trumps Sieg bei der Vorwahl in Iowa ist für den Wahlausgang nicht besonders relevant, meint Stefan Kornelius in der SZ, offenbart aber "viel über den Zustand der Republikaner und des ganzen Landes": "Trump hat es vermocht, sein Bild von Amerika in die Köpfe zu pflanzen. Zu sehen ist ein Land in wirtschaftlicher Not, am weltpolitischen Gängelband und unter höchstem Migrationsdruck. Zu sehen sind der Niedergang eines guten alten Amerika und der Aufstieg einer progressiv-liberalen Gutmenschenclique, die Werte verhökert und Arbeiter verhöhnt. Zu sehen sind zwei Amerikas, aufgeladen und hochaggressiv, die sich am Ende dieses Wahljahres wohl gar zwischen Bürgerkrieg und Emigration entscheiden müssen. ... Das dystopische Bild einer untergehenden Gesellschaft beherrscht die Köpfe gerade der Trump-Wähler, die sich nichts weniger ersehnen als eine Erlösung. Diese apokalyptische Schwingung wird im Laufe des Jahres zunehmen, sie wird bei den Trump-Gegnern zu gewaltiger Mobilisierung führen, und sie wird das Land in eine große Krise stürzen. Am Ende werden die USA nicht vor die Frage gestellt, ob sie Joe Biden für zu alt und seine Wirtschaftspolitik für zu einseitig halten. Sie werden nur eine Frage beantworten müssen: Wollt ihr diesen Trump?"
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Gesellschaft

Die Bauernproteste der letzten Tage haben gezeigt, wie zäh sich romantisierende Bilder von der Landwirtschaft halten, schreibt Michael Miersch bei den Ruhrbaronen. Und die Politik macht mit, will unbedingt die Familienbetriebe retten. Aber die Romantisierung ist falsch. "Beispiel Tierwohl: In Museumsdörfern kann man sich ansehen, wie Tiere früher gehalten wurden. Milchkühe standen oftmals lebenslang angekettet in dunklen Ställen. Die Schweinekoben waren zuweilen kaum größer als das Schwein selbst. Die Vorstellung vom romantischen Bauernhof, der einem Streichelzoo ähnelt, stammt aus Kinderbüchern, nicht aus der Realität vergangener Tage. Die schlechte Behandlung von Tieren begann nicht mit der Industrialisierung und Rationalisierung des Agrarsektors. Daher sollte man die Verbesserung des Tierwohls nach vorne denken und nicht rückwärts."

Statt eines AfD-Parteiverbots schlägt Volkan Agdar in der taz einen "Masterplan Antifaschismus" vor, um alle anzuprangern, die seiner Meinung nach eine "faschistische Wahl" treffen: "Auf diese Menschen muss ab sofort und im Sinne der unantastbaren Würde aller Menschen ein hoher Anpassungsdruck ausgeübt werden. Maßgeschneiderte Gesetze gegen Nazis wären eine Möglichkeit dafür. Viel effektiver erscheint es jedoch, diese Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen unter Druck zu setzen, sie im Alltag in der Schule, im Verein, am Arbeitsplatz, auf der Straße und in der Kneipe als Nazi oder Naziunterstützer:innen zu outen und auszugrenzen. Damit es möglichst unattraktiv für dieses Klientel ist, in Deutschland zu leben. Wer faschistische Ideen unterstützt, soll geächtet werden und sich dafür schämen müssen. Denn niemand wird als Nazi geboren. Und es gibt kein Recht auf Nazipropaganda." Würde das auch für sich selbst als Linke Lesende gelten, die die Hamas unterstützen?

"Bilde ich mir das nur ein, oder stehen in letzter Zeit alle auf der Verliererseite", fragt der israelische Schriftsteller Etgar Keret in der SZ. Alle haben starke Meinungen und sind überzeugt, das Richtige zu tun, beobachtet er, aber alle verlieren: "Nicht nur ich und du - alle anderen auch. Sogar die unaufgeklärten Idioten, die du nicht ausstehen kannst. Ja, selbst die, denen es irgendwie gelang, Wahlen zu gewinnen, die wir hätten gewinnen müssen, was wir nicht verstanden, und die dann umgekehrt nicht verstehen konnten, wie wir danach ihnen den Wahlsieg wegschnappten. Wo man auch hinblickt: Republikaner, Demokraten, in Gaza bombardierte israelische Geiseln, in Gaza bombardierte palästinensische Zivilisten, Evakuierte, Flüchtlinge - ist irgendjemand auf dieser Welt zufrieden damit, wie die Dinge gerade laufen? Wladimir Putin, Benjamin Netanjahu, António Guterres, Wolodimir Selenskij, Jahia Sinwar von der Hamas: Sieht ein Einziger von ihnen zufrieden aus?

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Ideen

Der Philosophie-Professor Christian Lotz erläutert in der FR die verschiedenen Faktoren, die den Populismus begünstigen, der in aller Welt erstarkt. Er weist daraufhin, dass Populismus "kein politischer Stil" ist, wir es also nicht mit einer Kritik an rhetorischen Mitteln zu tun haben, sondern gesellschaftliche Probleme der gegenwärtigen Demokratiekrise zu Grunde liegen, die seit Jahrzehnten kaum angegangen werden. Hierzu zählt nicht zuletzt die Entgleisung kapitalistischer Ideologie: "Dass viele Menschen auch solche Irrationalität noch für rational halten, zeigt das ganze Ausmaß, wie Ideologie heute gelebt wird. So basiert alles auf einer Systemrationalität, die im Ganzen gesehen irrational wird: dem Argument, dass Wachstum notwendig generiert werden muss, wird alles untergeordnet, selbst wenn dies die Konsequenz hat, dass es bald keine Welt mehr geben wird, die dieses Wachstum generieren kann. ... Der Populismus basiert auf dem Unbehagen, dass mit der Instrumentalisierung von Politik und der fortschreitenden Steuerung der Gesellschaft die Eliten sich mit einer Weltsicht 'von oben herab' ihre Machträume erweitern. ... Kapitalistische Eigentumsverhältnisse anzutasten, bleibt das Tabu. Populismus ist dessen Symptom."
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Medien

Während es in konservativen amerikanischen Medien ungeteilte Unterstützung für die deutsche Israel-Politik gibt, ist in linksgerichteten Medien von Zensur pro-palästinensischer Stimmen zu lesen, berichtet Frauke Steffens in der FAZ: "Unter den Kritikern Deutschlands sind auch viele linke jüdische Intellektuelle, die die deutsche 'Staatsräson' und den Umgang mit Antisemitismus problematisieren. Zu den prominenten Stimmen zählen außer Gessen zum Beispiel Peter Beinart, Judith Butler, Sarah Schulman und Naomi Klein. Israel und die deutsche Regierung seien der Ansicht, Deutsche müssten Israel verteidigen, weil ihre Vorfahren Juden ermordeten, schrieb Beinart 2022. Das sei 'analytisch und moralisch falsch', denn die besondere Verantwortung der Deutschen nach dem Holocaust gelte nicht exklusiv den Juden, sondern der Sache der Menschenwürde. 'Wenn deutsche Behörden Deutsche davon abhalten, die Würde der Palästinenser zu verteidigen, auch mit Hilfe von Boykotten, dann kommen sie der moralischen Verantwortung der Geschichte nicht nach, sondern sie verraten sie', schrieb Beinart und bezog sich auf die Bundestags-Resolution gegen die BDS-Bewegung, die Israel boykottiert."
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Überwachung

Die Schweizer Regierung hatte ihren Bürgern beim Beschluss zur sogenannten Kabelaufklärung versprochen, dass es nicht zu einer Überwachung von Schweizern kommen würde. Es kam anders, wie eine Recherche der Onlinemagazins Republik zeigt, schreibt Florian Wüstholz in der taz: "Seit das Gesetz in Kraft ist, wird mit der Kabelaufklärung der schweizerische Internetverkehr systematisch überwacht, nach Stichworten durchsucht und ausgesonderte Inhalte auf Vorrat gespeichert. Die Behörden können sämtliche Kommunikation nach Personennamen, Telefonnummern, Bezeichnungen für Waffensystemen oder sonstigen Begriffen durchforsten. Die Warnungen vor einem 'Schnüffelstaat', vor einer Schweizer 'Mini-NSA' haben sich bewahrheitet. Auch vor einem 'Fichenstaat 2.0' wurde gewarnt, in Anlehnung an den sogenannten Fichen-Skandal (vom Französischen 'fiche' für Akte) am Ende des Kalten Kriegs, als bekannt wurde, dass der Schweizer Geheimdienst fast eine Million Bürger*innen überwacht hatte. In den Jahren nach der Umsetzung des Gesetzes entstand eine besorgniserregende Diskrepanz zwischen den offiziellen Versprechungen und der tatsächlichen Umsetzung. Die anfänglich betonte Begrenzung auf konkrete Bedrohungen scheint einem umfassenderen Ansatz gewichen zu sein."
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Stichwörter: Schweiz, Kabelaufklärung

Europa

Die Aufregung über die Bauernproteste ist übertrieben, meint Benedict Neff in der NZZ, ja schlimmer, ein weitreichend friedlicher Protest, werde als rechtsextrem diffamiert: "Unter dem Eindruck einer bedrohlichen Situation schafften es die beiden Minister - und einige andere Politiker -, einen legitimen, landesweiten Bauernprotest in die Nähe von Umsturz und Rechtsextremismus zu rücken." Was soll dieses permanente Warnen vor einem Zusammenbruch der Demokratie, fragt Neff: "Die politische Betroffenheit scheint ehrlich gemeint, ist keine zynische Inszenierung. Dennoch ist die Warnung weniger harmlos, als sie daherkommt. Sie ist auch ein Mittel, um politische Gegner auszuschalten und die Gesellschaft zu einem kollektiven Gegenprotest zu mobilisieren. Habecks besorgte Rede ist eine Form der Propaganda. Ähnlich gestaltet sich auch die Bekämpfung der AfD. Die Partei wird vom Establishment als rechtsextrem deklariert, in manchen Bundesländern darf sie - mit dem Gütesiegel des Verfassungsschutzes - sogar als 'gesichert rechtsextrem' bezeichnet werden."

Für den Historiker Ulrich Herbert muss man die AfD hingegen ganz klar als "rechtsextrem" und demokratiegefährdend einstufen, wie er im SZ-Interview mit Peter Laudenbach sagt. Der zukünftige Umgang mit der Partei ist in jedem Fall eine Herausforderung: "Die demokratischen Parteien sind in einer schwierigen Situation. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder man grenzt sich klar ab und die AfD klar aus, wie bisher. Das zeigt bis jetzt wenig Wirkung und ermöglicht es der AfD, sich als einzige wahre Opposition zu inszenieren. Oder man geht auf sie zu, bis hin zu Koalitionen oder Tolerierungsbündnissen; so wie es in einigen europäischen Staaten schon geschieht. Das geht an die Substanz von Demokratie und Rechtsstaat. Das konnte man in Polen sehen, das kann man in Ungarn sehen, man wird es auch in Italien erleben. Oder man verbietet die AfD und ihre Nebenorganisationen und geht gegen sie vor, in aller repressiven Konsequenz. Das könnte vermutlich nur eine konservative Regierung durchsetzen. Es würde zu einer enormen Polarisierung im Lande führen. Ich bin mir nicht sicher, welche der drei Optionen man sich wünschen sollte."
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Kulturpolitik

Die Berliner Antidiskriminierungsklausel hat viel Wind gemacht (unsere Resümees). Dabei existieren ähnliche Klauseln etwa in Schleswig-Holstein oder in NRW schon seit langem, hat Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen herausgefunden: "Der Landtag von Nordrhein-Westfalen fasste schon 2018 einen Beschluss, nachdem dem Landtag und Einrichtungen des Landes untersagt wurde, der BDS-Kampagne Räume zur Verfügung zu stellen. ... Verschiedene Städte haben in der Folge den Beschluss übernommen und auf ihre Verhältnisse angepasst. 'Von Organisationen, die für ihre Arbeit finanzielle Zuwendungen der Stadt Münster beantragen, setzen wir voraus, dass sie sich gegen jeden Antisemitismus einsetzen und das Existenzrecht Israels verbindlich anerkennen,' antwortet Münster auf die Anfrage dieses Blogs."
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