9punkt - Die Debattenrundschau

Riesige Entladungswellen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2023. Im Guardian hofft der ukrainische Autor Oleksandr Mykhed, dass die Welt nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms endlich erkennt, dass in der Ukraine ein Genozid stattfindet. In der FAZ wünscht sich die Historikerin Hedwig Richter eine positive Zukunftserzählung als Reaktion auf die AfD. Auf ZeitOnline macht der russische Soziologe Grigori Judin Deutschland dafür mitverantwortlich, dass es keine russische Zivilgesellschaft mehr gibt. In der FR kämpft Stephanie Schlitt von ProFamilia für das Menschenrecht auf Abtreibung. Spon schildert derweil, wie junge Mädchen in Paraguay gezwungen werden, ungewollte Kinder auszutragen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.06.2023 finden Sie hier

Europa

Nach dem Bootsunglück vor Griechenlands Küste, bei dem bis zu 650 Menschen ertrunken sind, wurden einige der Schlepper verhaftet. Aber das sind nur kleine Fische, berichtet Karim El-Gawhary in der taz: "Die Hintermänner sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan, genannt 'Kaiser des Meeres', der auch der Besitzer des gesunkenen Boots sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt 'der Führer', und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das Boot gestartet. Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten, Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht."

Im Guardian beschreibt der ukrainische Autor Oleksandr Mykhed das Leben im Bombenhagel, der Tag und Nacht auf Kiew regnet, und hofft, dass die Welt nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms endlich erkennt, dass in der Ukraine ein Genozid stattfindet: "Das Leben steht während eines Völkermordes nicht still. Das Leben versucht zu überleben. Während ich diese Zeilen schreibe, hoffe ich immer noch, dass die Weltgemeinschaft irgendwie auf diese von Menschen verursachte Katastrophe reagieren wird, die bald eine Nahrungsmittelkrise auslösen, irreversible Folgen für das Ökosystem haben und das Klima beeinflussen wird. Stattdessen begeht die UNO den Tag der russischen Sprache. Das Datum ist nicht zufällig gewählt - es ist der Geburtstag von Alexander Puschkin, einem Dichter aus dem 19. Jahrhundert, dessen Denkmäler in der ganzen Ukraine als Symbol des russischen Kolonialismus abgebaut werden. Während ich diese Zeilen schreibe, erhalten meine Freunde beim Militär, die die Grenze in der Region Charkiw bewachen, den Befehl, Gasmasken bereitzuhalten - eine Ammoniakwolke kommt auf sie zu, weil russische Truppen in der Nacht eine Pipeline beschädigt haben."

Die meisten Russen verdrängen den Krieg, viele haben aber auch Angst, dass sie bei einer Niederlage auf der Anklagebank in Den Haag landen werden, sagt der russische Soziologe und Philosoph Grigori Judin im ZeitOnline-Gespräch, in dem er auch Deutschland dafür mitverantwortlich macht, dass es keine russische Zivilgesellschaft gibt: Denn Deutschland habe die russische Elite, die die Zivilgesellschaft zerstörte, mit Millionen "gefüttert", meint er. Putins Brutalität gegenüber der Ukraine habe weniger mit seiner Zeit beim KGB als mit seinen Jahren in der Sankt Petersburg zu tun, erklärt er außerdem: "Er wurde Vizebürgermeister in St. Petersburg, der 'Stadt der Banditen'. Diese Zeit ist ein Schlüssel für das Verständnis von Putin heute: Je unverschämter und aggressiver du auftrittst, desto erfolgreicher wirst du sein."

Nach 15 Monaten Krieg sind viele ukrainische Soldaten erschöpft, körperlich wie mental, schreibt Ibrahim Naber, der für die Welt mit einigen Soldaten gesprochen hat: "Fast jeder hat mittlerweile Bekannte, die auf dem Schlachtfeld gefallen sind, und alle wissen, es werden in dieser Offensive wohl noch Tausende folgen. Gleichzeitig ist der Wille bei den allermeisten ukrainischen Kämpfern ungebrochen. Erst wenn der letzte 'Ork' oder 'Fucker' vertrieben ist - so nennen sie russische Soldaten abfällig -, sei Zeit für Frieden, heißt es oft."

Der Generalbundesanwalt ist einer Terrorgruppe auf der Spur, die in Deutschland antisemitische Anschläge verübt hat - und zwar auf Betreiben des Irans, berichtet Jonas Mueller-Töwe in t-online.de unter Berufung auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs. "Mindestens vier Verdächtige werden dabei einem sogenannten Operativteam zugeordnet... Drei von ihnen sollen mutmaßlich für einen Brandanschlag auf eine Schule in Bochum und Schüsse auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen verantwortlich sein. Zudem wird ihnen ein Anschlag auf die Synagoge in Dortmund angelastet, der im Planungsstadium scheiterte. Der vierte Verdächtige gilt den Ermittlern als Drahtzieher im Iran. Die Gruppe habe aus antisemitischen Motiven im Auftrag einer iranischen Eliteeinheit gehandelt."
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Ideen

"Achtzehn Prozent für die AfD. Das ist schlimm", meint in der FAZ die Historikerin Hedwig Richter. Aber den Vergleich mit Weimar sollte man doch besser unterlassen, warnt sie. "Er blockiert eine angemessene Zukunftspolitik, nicht zuletzt, weil er die Ausgangslage falsch darstellt. Der Weimar-Reflex erhebt die Hasenherzigkeit zur politischen Raison. Er will die Problemstrukturen des vergangenen Jahrhunderts, komme was mag, auf unsere Zeit überstülpen. Doch wir haben andere Herausforderungen." Nämlich den Klimawandel und die Furcht vor seinen Folgen - alle Weimarvergleiche spielen da nur der AfD in die Hände, meint Richter und fordert statt dessen positives Denken: "Der Gedankengang ist etwas kompliziert, fast dialektisch. Es geht letztlich auch darum, dass die demokratische Aufbruchdimension und nicht die populistische Angstdimension den Sieg davonträgt. Statt im Heizungskeller über Weimar und die Fragilität der deutschen Seele zu weinen, sollten die Menschen lieber aufs Dach klettern und Solarpaneele installieren."
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Geschichte

In der NZZ blickt Ulrich M. Schmid auf die Geschichte des Kachowka-Staudamms, eines der megalomanischen Projekte, das im Rahmen des "Großen Stalin-Plans zur Umgestaltung der Natur" entstand: "Der Bau des Kachowka-Staudamms wies eine wichtige geopolitische Dimension auf. Zum einen wollte man das bisher leistungsfähigste Wasserkraftwerk der Welt, den amerikanischen Grand-Coulee-Damm, übertrumpfen. Zum anderen sollte das Wunder der sowjetischen Ingenieurskunst auch den globalen Einfluss des Kremls stärken."
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Stichwörter: Kachowka-Staudamm

Gesellschaft

Laut Koalitionsvertrag will sich die Ampelregierung um eine Neuregelung des Paragrafen 218 kümmern. Weil das bisher geltende Gesetz Schwangere bevormundet und Abbrüche kriminalisiert, "wird es in Deutschland immer schwieriger, keine problematischen Erfahrungen beim Abbruch zu machen", meint Stephanie Schlitt, Vize-Vorsitzende von Pro Familia, im FR-Gespräch mit Bascha Mika. Pro Familia fordert einen "Paradigmenwechsel, der den Fokus auf die schwangere Person setzt": "Nur weil eine Person schwanger ist, verliert sie ja nicht ihre Menschenrechte. Und dazu gehört das Recht auf eine selbstbestimmte Familienplanung und auf die entsprechende Gesundheitsversorgung. (…) Schwangere bringen den Respekt vor dem werdenden Leben mit - selbst wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden."

In Paraguay ist Abtreibung überhaupt nicht möglich. In Spon berichtet Nicola Abé, wie religiöse Aktivisten beispielsweise in der Casa Rosa María junge Mädchen zwingen, ungewollte Kinder auszutragen. "Paraguay war schon immer erzkonservativ, nun tobt ein Kulturkampf, den meist die illiberalen Kräfte gewinnen. Als eines der ersten Länder weltweit führte der Staat 2017 ein 'Register für ungeborenes Leben' ein, wo im Mutterleib verstorbene Babys eingetragen werden. Im selben Jahr war Paraguay das erste Land, welches das Konzept und das Wort 'Gender' gänzlich aus dem Lehrplan verbannte. Für beides lobbyierten nicht nur religiöse Gruppen vor Ort; Schützenhilfe erhielten sie von evangelikalen Organisationen aus den USA. Das Beispiel Paraguay zeigt, wie mächtige Akteure sich international vernetzt haben, um eine Agenda wider jeden gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben."

Die Linke sollte nicht mehr wie paralysiert auf die Rechte starren und faule Kompromisse machen, um nur ja niemanden zu verärgern, fordert in der taz Robert Misik: "'Vorherrschende Meinungen' oder Konventionen sind keine unveränderbaren Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in eine progressive Richtung verändern.... Falsch ist dennoch nicht, dass es Maß und Ziel braucht. Man wird die eigenen progressiven Werte erfolgreicher verfechten, wenn man sie in einer Sprache vorbringt, die mit dem Alltagsverstand und den Werten breiter und verschiedener Milieus und Segmente der Gesellschaft eine Verbindung findet. "

Früher wollte man unbedingt einen Jungen, heute ein Mädchen: In der NZZ blickt der Soziologe Walter Hollstein bedrückt auf das Männerbild, das heute oft verbreitet werde: "Die medialen Bilder infiltrieren dabei mehr und mehr die soziale Wirklichkeit. So haben verschiedene internationale Fluggesellschaften festgelegt, dass allein reisende Männer nicht mehr neben Kindern sitzen dürfen. Die generelle Verteufelung von Männern, wie sie in feministischen Zirkeln gang und gäbe ist und immer weiter um sich greift, ist menschlich verwerflich und sozial problematisch. Denn sie hat Folgen: Junge Männer ziehen sich zunehmend aus der Gesellschaft zurück, das hat eine Studie des 'Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung' bereits 2007 gezeigt."

Außerdem: In der Welt macht die Literaturwissenschaftlerin Anne Meinberg sehr deutlich, was sie vom Gendern hält: Nicht viel. "Was ist das überhaupt für ein Frauenbild, das hinter der Forderung steht, die Frau in jedweden Kontexten erst sichtbar machen zu müssen?"
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Wissenschaft

Hieronymus Bosch, Aufstieg der Seligen, Bildtafel aus dem  Polyptychon "Visionen des Jenseits", 1505-1515. Abb. Wikipedia
In der FAZ empfiehlt Alexander Kosenina wärmstens die Ausstellung "Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst" im frisch und "ungeheuer modern" renovierten (gilt leider nicht für die Webseite) Medizinhistorischen Museum in Berlin: Untersucht wird, wie man neuronale Netzwerke anregt und misst. Denn "wie eine Idee, eine Willensentscheidung oder ein Traumbild entsteht, bevor es neuronale Spuren hinterlässt", sei immer noch unklar. "So ist es beispielsweise erstaunlich, dass Wahrnehmungen bei Nahtoderfahrungen nach Herzstillstand oder Hirnverletzungen große Ähnlichkeiten mit alten Gemälden aufweisen. Im Sterbeprozess kommt es wie bei Schlaganfällen zu riesigen Entladungswellen. Diese messbaren neuronalen Ereignisse erzeugen häufig Bilder von dunklen Tunneln mit starkem Lichteinfall. So etwas ist schon Anfang des 16. Jahrhunderts in den 'Visionen des Jenseits' von Hieronymus Bosch zu sehen."
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