9punkt - Die Debattenrundschau

Ein bleiernes Gefühl des Krieges

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2023. Es gibt in der amerikanischen Gesellschaft keinen Minimalkonsens mehr, nicht mal mehr über den Wert der Demokratie, beklagt im Interview mit ZeitOnline die amerikanische Philosophin Sally Haslanger. Im Tagesspiegel konstatiert der Historiker Jonas Kreienbaum eine koloniale Amnesie in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, weil Deutschland nie eine Phase der Dekolonisierung erlebt habe. In FAZ und FR folgen jetzt etwas grundsätzlichere Nachgedanken zum Phänomen Berlusconi.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2023 finden Sie hier

Überwachung

In Bayern soll man künftig ohne Anklage zwei Monate in den Knast wandern können. So sieht es das Polizeiaufgabengesetz (PAG) Bayerns vor, das unter anderem bei "drohender Gefahr" eine Vorbeuge- beziehungsweise "Unterbindungshaft von einem Monat vorsieht, die noch mal um einen Monat verlängert werden kann, berichtet hpd. Geklagt hat dagegen der Bund für Geistesfreiheit (BfG): "Die überlange Ausdehnung des Gewahrsams auf insgesamt zwei Monate - vor der Novelle von 2017 waren es 14 Tage, vor 1989 gar nur 48 Stunden -, macht diese Präventivhaft zu einer 'Strafe auf Verdacht' und zu einer 'vorbeugenden Strafe'. Das darf es in einem Rechtsstaat nicht geben", sagt die Vorsitzende des BfG Assunta Tammelleo zu hpd. "Zudem sollte die Unterbindungshaft in Bayern doch angeblich zur Abwehr terroristischer Gefahren dienen", sagt Tammelleo weiter. "Jetzt aber werden verzweifelte Klimaschutzaktivisten der 'Letzten Generation', die mit friedlichen Sitzblockaden für ihr Anliegen demonstrieren, eingesperrt. Die Befürchtung, dass es genauso kommen könnte, hatten viele Kritiker des PAG schon 2017/18 geäußert."
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

Das Landgericht Köln hatte am Dienstag das Erzbistum Köln dazu verurteilt, einem Missbrauchsopfer Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zu zahlen, meldet die FAZ. Das ist nicht so viel wie der Mann gefordert hatte (800.000 Euro), aber doch bedeutend mehr als die Summe, die in kirchlichen Vergleichen herausgekommen wäre: Bis zu 50.000 Euro zahlt die katholische Kirche im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung seit 2021, höchstens 5000 Euro waren es vor 2021. Das ist eine "historische Entscheidung", hofft im beistehenden Kommentar Daniel Deckers, nicht nur wegen der Höhe des Schmerzensgeldes: "Auch die hoch bezahlten juristischen Berater der Kirche, wie die Kölner Strafrechtskanzlei Gercke, die den Verantwortlichen des Erzbistums noch vor zwei Jahren bescheinigt hatten, keine strafbewehrten Pflichten verletzt zu haben, dürften sich ihrer Sache nicht mehr sicher fühlen - und nicht nur sie. Sollte das Kölner Urteil zu ständiger Rechtsprechung werden, würde die Rechtsstellung von Betroffenen eine fundamental andere sein als bisher."

Das sieht auch Annette Zoch so, die das Urteil in der SZ begrüßt, weil der Vorsitzende Richter das Amtshaftungsrecht für anwendbar erklärte. "Das bedeutet: Wenn zum Beispiel ein Staatsbeamter in Ausübung seines Amtes gegenüber einem Dritten einen Schaden verursacht, haftet zivilrechtlich dafür nicht der Beamte selbst, sondern der Dienstherr. In diesem Fall also die Kirche. Das eröffnet den Weg für viele weitere Klagen dieser Art."

Cover: Der Wirklichkeit widerstehenIm ZeitOnline-Interview mit Peter Neumann glaubt die amerikanische Philosophin Sally Haslanger, deren Buch "Der Wirklichkeit widerstehen - Soziale Konstruktion und Sozialkritik" 2021 auf Deutsch erschien, nicht daran, dass in der amerikanischen Gesellschaft noch einen Minimalkonsens gibt: "Es gibt keine gemeinsame Basis mehr. Es gibt viele Menschen, die die fundamentalsten Prinzipien der Demokratie infrage stellen. Und genau deshalb sind die Gräben auch so tief. Die größte Gefahr ist momentan, dass der Dialog abbricht. Und zwar vollständig. Wir stimmen nicht mehr darin überein, was eine Quelle des Wissens ist. Was die Quelle unserer moralischen Überzeugungen ist. Der Schaden, den die Verbreitung von Fake News angerichtet hat, ist kaum zu ermessen. Wir stehen uns heute sprachlos gegenüber."

Laut einer Umfrage des Gallup-Meinungsforschungsinstituts hat der Sozialkonservatismus, also die ablehnende Haltung unter anderem gegenüber Abtreibung, gleichgeschlechtlichen Beziehungen und Transgender-Themen, in den USA den höchsten Stand seit etwa einem Jahrzehnt erreicht. Im Tsp-Gespräch mit Juliane Schäuble erläutert Jeffery M. Jones, Chefredakteur von Gallup: "Einen Teil könnte man als eine Art Gegenreaktion auf die Fortschritte verstehen, die das Land insbesondere in Bezug auf LGBTQ-Themen gemacht hat. Denn in den vergangenen zehn Jahren hat sich die öffentliche Meinung sehr schnell in diese Richtung bewegt. Viele Republikaner fühlen sich unwohl mit diesem Wandel und vor allem dem Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen. Das Abtreibungsurteil des Supreme Courts war deshalb ein Sieg für die Republikaner."

In der NZZ ärgert sich Claudia Schwartz über die westdeutschen Medien, die sich in der Mehrheit, so Schwartz, seit über dreißig Jahren abschätzig gegenüber den Ostdeutschen äußern. In diesem Kontext liest sie auch die Kritik an Dirk Oschmanns Buch "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung". Immerhin vermerkt sie: "Trotz zerrütteten Verhältnissen darf es kein Tabu sein, danach zu fragen, weshalb die AfD den Osten so erfolgreich beackert. Hier schießt Oschmann, der das eine Zumutung findet, übers Ziel hinaus und erweist der Debatte einen Bärendienst. Eine junge Generation wählt mittlerweile in Ostdeutschland auch nicht aus Protest die AfD, sondern weil sich die Ressentiments der Wendeverlierer weitervererben. Doch mit der Diskursbereitschaft der Ostdeutschen untereinander, daraus macht Oschmann kein Hehl, steht es auch nicht zum Besten. Gerne wüsste man in diesem Kontext auch, wie Oschmann den auffallenden Widerwillen im Osten gegen die Nato und den Zuspruch für Putin erklären würde, wenn nicht aus einer tiefsitzenden ideologischen Überzeugung heraus."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

"Deutschland, das seine Kolonien im Ersten Weltkrieg verloren hatte, hat nach 1945 anders als Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande keine Phase der Dekolonisierung erlebt", sagt der Historiker Jonas Kreienbaum, der im Auftrag des Humboldt Forums die Rolle Wilhelm II. in der Kolonialpolitik untersucht hat, im Tsp-Gespräch mit Christian Schröder: "Es gab keine Unabhängigkeitskriege wie in Algerien, keine großen Migrationsbewegungen aus den ehemaligen Kolonialgebieten, die einen Anlass geboten hätten, sich über die koloniale Vergangenheit Gedanken zu machen. Das führte zu einer kolonialen Amnesie in der bundesrepublikanischen Gesellschaft." Zudem kommt er zu dem Schluss, Wilhelm II. habe mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen direkten Genozidbefehl" an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika gegeben. Aber: "Er hat aber durch seine martialischen Äußerungen - wie im Falle der 'Hunnenrede' - zu einem Klima beigetragen, in dem die deutschen Militärs annehmen konnten, dass massive Gewalt von Wilhelm mindestens toleriert werde, vielleicht sogar gewollt sei."
Archiv: Geschichte

Europa

Die Schriftstellerin Giulia Caminito, Jahrgang 1988, ist sozusagen mitten im Berlusconismo aufgewachsen. Wo immer sie hinguckte, er war schon da. In einem sehr persönlichen Text für die FAZ macht sie klar, wie prägend Berlusconi vor allem in den Neunzigern war: "Mein Leben war voller Anekdoten über Berlusconi, während die politischen Entscheidungen, Dekrete und Gesetze, die von seiner Partei vorangetrieben wurden, zweitrangig wurden. Denn Forza Italia war immer Berlusconi, die anderen waren Statisten ohne Einfluss auf die Wähler, es war Silvio, der sie an die Urne brachte und die Massen bewegte. Seinetwegen strömten die Menschen auf die Plätze und sangen den berühmten Refrain: 'Meno male che Silvio c'è', 'Nur gut, dass es Silvio gibt'. Nicht die Partei, nur ihn."

In der FR macht Arno Widmann das Scheitern von 1968 für Berlusconis Erfolg verantwortlich: Dies wurde "von vielen Italienerinnen und Italienern traumatisch erlebt. Sie waren nicht nur gescheitert, sie fühlten sich auch als Versager. Sie waren angetreten gegen die Herrschenden und hatten verloren. Die Revolution hatte wieder einmal ihre Kinder verraten. Nun begannen die, ihre Empathiefähigkeit nutzend, mit den Wölfen zu heulen. Der Herr des Rudels war über anderthalb Jahrzehnte lang Silvio Berlusconi gewesen. Sein Versprechen war: Lasst mich nur machen und ihr bekommt von mir Brot und Spiele. Berlusconi, der sein Medienimperium mit staatlicher Hilfe erbaut hatte, nutzte es dazu, den Staat selbst sich zur Beute zu machen. Das lief nicht immer in den Grenzen der Gesetze ab, aber genau das war es, wofür Silvio Berlusconi von seinen Anhängern geliebt wurde. Der Gesetzesbrecher als Gesetzgeber - auch ein Männertraum. Die Schafe hatten sich entschlossen, mit den Wölfen zu heulen. Sie hofften dadurch auch einen Anteil von der Beute zu bekommen. Aber es machte auch einfach Spaß, mal bei den Siegern zu sein."

Wie in der späten Sowjetunion gibt es in Russland wieder private Zellen des Widerstands, schreibt im "10nach8"-Blog der Zeit die russische, seit 2022 in Berlin lebende Journalistin Angelina Dawydowa, die von konspirativen "Wohnzimmergalerien, in denen kritische Konzerte, Vorträge und Ausstellungen stattfinden, zu denen nur Bekannte eingeladen werden", erzählt. Aber: "Es herrscht ein bleiernes Gefühl des Krieges, der nun schon seit über einem Jahr andauert, ein Gefühl der Ungewissheit, wann und wie der Krieg und die Diktatur in Russland zu einem Ende kommen könnten, und ein Gefühl des Mangels an ständiger Hoffnung und an einem Bild von der Zukunft. Noch vor einem Jahr sind in Russland und in den Ländern, in die die Kritiker des Krieges geflohen sind, viele neue Initiativen entstanden, auch neue Medien im Exil, in denen viel darüber diskutiert wurde, wie alles schnell beendet und das verbrecherische Regime gebrochen werden kann. Jetzt sind wir eher dabei, uns an die neue Normalität zu gewöhnen, ob im Exil oder unter den Bedingungen der Diktatur in Russland. Viele dieser Initiativen funktionieren immer noch und versuchen auch, ihre Arbeit weiter institutionell auszubauen. Die Medien im Exil, die Antikriegsinitiativen und humanitären Organisationen arbeiten weiter, darunter auch einige, die Kriegsverweigerern helfen oder sie beraten."
Archiv: Europa

Ideen

Nützen Proteste und Demonstrationen eigentlich überhaupt etwas? Den großen Wandel bei Klimakrise, Rassismus oder Gentrifizierung gab es bisher jedenfalls nicht, meint in der taz Tobias Bachmann. Es fehlt eben an einer "positiven Idee nach vorne", antwortet ihm im Interview die Philosophin Rahel Jaeggi. Die Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen!" ist für sie ein gutes Beispiel für eine solche "positive Idee": "Für viele Bewegungen sind gerade die Zusammenhänge fraglich. Welche tieferliegenden Strukturen gibt es, die Rassismus, Sexismus und Kapitalismus verbinden? Das wirft auch die Frage nach der Vorstellung von gesellschaftlichem Wandel auf. ... Haben wir zum Beispiel ein individualistisches Verständnis von Rassismus, führt das auch zu einer individualisierenden Gegenstrategie, zum Beispiel zu Anti-Vorurteils-Trainings in Unternehmen. Verstehen wir Rassismus als strukturelles Problem, ergeben sich andere Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten - zum Beispiel die Black-Lives-Matter-Proteste der vergangenen Jahre. Ein besseres Verständnis von Ungerechtigkeiten kann also dazu führen, dass vereinzelte Akteure sich als kollektive Akteure wahrnehmen. Eben weil sie sehen, wie ihre unterschiedliche Betroffenheit miteinander verbunden ist."
Archiv: Ideen