9punkt - Die Debattenrundschau

Nichts, was es nicht gibt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2018. Pittsburgh und die Briefbomben konnten nur geschehen, weil verrückte Rechtsextreme der Propaganda Trumps glauben, kommentiert der Atlantic. Im Observer lotet Nick Cohen die Tragödie der Labour-Partei aus, deren Klientel gegen ihre Interessen stimmte und deren Führung vom Brexit träumt. Libération sucht nach Gründen für die Pandemie des Nationalismus.  In der SZ erzählen Jaroslav Rudis und Michal Hvorecky, wie Putin die Öffentlichkeiten in der tschechischen Republik und der Slowakei manipuliert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.10.2018 finden Sie hier

Politik

Ein Attentat auf eine Synagoge in Pittsburgh mit elf Toten, Briefbomben an prominente Trump-Gegner - das alles konnte geschehen, weil verrückt gewordene Rechtsextreme der Hasspropaganda Donald Trumps glauben, schreibt Adam Serwer in einem viel retweeteten Kommentar im Atlantic: "In den rechtsextremen Fiebersümpfen, wo jedes Wort Trumps verehrt wird, haben die Kommentatoren Trumps Tiraden mit immer neuen Details ausgeschmückt. Der Abgeordnete Matt Gaetz fragte, ob George Soros…, den Trump für die Proteste gegen den Supreme-Court-Kandidaten Brett Kavanaugh verantwortlich machte, und der Ziel einer der Bomben war, hinter dem Flüchtlingszug aus Honduras steckte. NRATV, das Propagandaorgan hinter der National Rifle Association brachte zwei Obsessionen der Republikaner zusammen, Wahlbetrug und Migration. Chuck Holton erzählte den Zuschauern des Kanals , dass Soros Flüchtlinge nach Amerika schickt, damit sie gegen Trump stimmen können."

Das Massaker in Pittsburgh wundert in der New York Times Jonathan A. Greenblatt, Direktor der Anti-Defamation League, überhaupt nicht. Obwohl die Anzahl der antisemitischen Vorfälle in den letzten Jahren insgesamt zurückging, schreibt er, "verzeichneten wir im vergangenen Jahr den größten Anstieg seit Beginn dieser jährlichen Prüfung durch die A.D.L. im Jahr 1979 - ein Anstieg der antisemitischen Vorfälle um 57 Prozent im Jahr 2017. Zu diesen Vorfällen gehören hochkarätige Vorfälle wie der Marsch von Neonazis in Charlottesville, Virginia, mit dem Gesang 'Juden werden uns nicht ersetzen', körperliche Übergriffe, Vandalismus und Angriffe auf jüdische Institutionen. Ein Teil dieses starken Anstiegs geht auf einen starken Anstieg antisemitischer Vorfälle in Grundschulen und auf dem Campus zurück, der sich im zweiten Jahr in Folge fast verdoppelt hat."

Laurent Joffrin analysiert in Libération den internationalen Triumph der Nationalismen - von den USA, über Brasilien, die europäischen Länder bis zu den Philippinen. An wirtschaftlichen Problemen allein kann's nicht liegen, meint er, sonst würden nicht Länder wie die Schweiz, die Niederlande oder Deutschland mit abrutschen. "Die ökonomische Krise bildet nur das Bühnenbild. Aber sie erklärt nicht, das Stück. Es sind kulturelle, gesellschaftliche Gründe, die den Unterschied machen." Der Appel ans Zusammenleben greife da zu kurz. Er sei zwar "richtig in vieler Hinsicht, aber auch allzu fromm, wenn sich die Arbeiterviertel in Ghettos verwandeln und sich die Communities misstrauisch beäugen und zuweilen aufeinander losgehen, wenn sich die Probleme in den Vorstädten konzentrieren und die ländlichen Gegenden sich verlassen fühlen."
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Ideen

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg sprach vor einer Woche in Wien zum Thema "Demokratie - wer hat Angst vor dem Volk?" Die NZZ druckt die Rede, in der Muschg die immer wieder als Vorbild gepriesene Schweizer Demokratie aufs Korn nimmt - und das Internet: "Da gibt es nichts, was es nicht gibt, wenn es etwas bringt. Dafür erlaubt die schlaue Technologie nicht mehr, Politiker von Demagogen zu unterscheiden oder schiere Narzissten von grandiosen Präsidenten. Ein globaler Unternehmer wie Christoph Blocher kann ungestraft als bodenständiger Eidgenosse auftreten und eine Schweiz vertreten, die ihm passt, ob sie existiert oder nicht. Ein Emoji, das er zum Stimmenfang einsetzt, nennt er 'Gottfried Keller' und lobt seinen 'Martin Salander' - ein Fake, von dem nicht einmal das Gegenteil wahr ist."
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Europa

Alex Rühle unterhält sich für die SZ in Wien mit den Schriftstellern Jaroslav Rudiš und Michal Hvorecký. Beide wurden in der Tschechoslowakei geboren. Rudiš lebt heute in Tschechien, Hvorecký in der Slowakei. Beide Länder werden von Populisten regiert, die kräftig von Russland unterstützt werden, erklärt Hvorecký, der auch einen Roman ("Troll", hier Rühles Besprechung) zum Thema geschrieben hat. Er sieht in den russischen Botschaften Trolle ihre Lügenmärchen verbreiten: "Russland wird als Freund und slawischer Bruder dargestellt, Putin als herausragender Staatsmann. Damit verbunden ist auch die Beschönigung der gemeinsamen Vergangenheit, etwa der Okkupation 1968, nach dem Prager Frühling. Damit soll den Bürgern der Austritt aus EU und Nato schmackhaft gemacht werden. Dazu kommt die Hetze gegen die vermeintliche 'Lügenpresse'." Damit einher geht laut Hvorecký auch eine Welle des Antisemitismus: "Vor fünf Jahren haben acht Prozent der Slowaken gesagt, sie wollen keine jüdischen Nachbarn. Jetzt sind es 30 Prozent. Es gibt gerade mal 2 000 Juden in der ganzen Slowakei, die alle ganz versteckt leben. Das ist vollkommen irrational."

Nick Cohen lotet im Observer die Tragödie von Labour aus: Die Klientel der Partei hat für den Brexit gestimmt, also gegen die eigenen Interessen. Einige mutige Labour-Abgeordnete fordern dennoch ein zweites Referendum. Aber die Führung von Labour, die von einem "Sozialismus in einem Land" träumt und darum innerlich für den Brexit ist, hält sich zurück: "Labour-Führer haben bisher keine Reden gehalten oder Programme publiziert, die zeigen, wie ein linker Brexit funktionieren soll, vermutlich, weil eine Politik, die die schwächsten Regionen und die ärmsten Leute am härtesten trifft, schlecht als links beschrieben werden kann. Die Tragödie der Labour-Partei und ganz Großbritanniens ist, dass die Opposition, in dem Moment, wo sie am dringendsten gebraucht wird, sich selbst mit einer Linken wiederfindet, die genauso ratlos ist wie die Rechte."

Kenan Malik kritisiert ebenfalls im Observer ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen eine Österreicherin, die den muslimischen Propheten Mohammed wegen seiner Ehe mit einem Kind einen "Pädophilen" nannte. Auch wenn diese Österreicherin der extremen Rechten zuzurechnen sei, sollte ihr die Meinungsfeiheit nicht im Namen eines Respekts für Religionen genommen werden, so Malik: In dem Urteil stecke mehr als Heuchelei. "Die Kriminalisierung religiöser Beleidigungen könnte Religionen selbst der Schere des Zensors aussetzen. Vor allem Muslime sollten sich dessen bewusst sein. Im heutigen Klima ist es der Islam, auf den häufig gezielt wird, von Versuchen, den Koran zu verbieten bis zu der Idee, die Ausübung der Religion zu begrenzen. Statt Verletzliche zu schützen, wie viele behaupten, helfen solche Gesetze den Reaktionären, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der mulimischen Community."
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Internet

Constanze Kurz warnt in ihrer FAZ-Kolumne von der Allgegenwart des Trackings, mit dem das Verhalten der Nutzer ausspioniert wird, besonders bei Mobiltelefonen, wo man sich weniger dagegen wehren kann als bei Computern. Die EU bereitet eigentlich ein Gesetz dagegen vor, die ePrivacy-Verordnung - eigentlich: "Zwar hätten die Europäer allen Grund, sich vorbeugend gegen Manipulationen der EU-Wahlen im Mai 2019 zu wappnen. In der Realität jedoch blockieren und verzögern nationale Regierungen, einschließlich der deutschen und der österreichischen, seit Monaten die Konsensbildung bei der ePrivacy-Verordnung." Gegen die ePrivacy-Verordnung machen nicht nur Google und Facebook, sondern auch die Zeitungen Druck, berichtete neulich Netzpolitik (unser Resümee).
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