9punkt - Die Debattenrundschau
Nicht die allergeringste Bohne
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Religion
Der Kruzifixbeschluss des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder ist schamlos, unchristlich und dient allein der Ausgrenzung, so weit sind sich die Zeitungen einig. Söder hat verfügt, das Kreuz müsse künftig im Eingang aller bayerischer Amtsstuben hängen - allerdings nicht als religiöses Symbol, so Söder, sondern als kulturelles. Das ist "Ketzerei", wie Söder das Kreuz zum "religiösen Hirschgeweih" degradiert, meint dazu Heribert Prantl in der SZ.
Erst als mit der Europäischen Union eine wirklich säkulare Institution für die Friedenssicherung in Europa zuständig wurde, begannen die 70 Jahre Frieden, den die christliche Religion ihren Anhängern nicht schenken konnte, erinnert der ehemalige The European-Herausgeber Alexander Görlach im Tagesspiegel und fügt hinzu: "Religion spaltet mehr, als dass sie eint. Unsere freiheitliche Rechtsordnung betrachtet den Menschen als Gegenstand des Rechts, ungeachtet seiner Herkunft, Religion und anderer Merkmale. Das sollten Konservative, die sehr häufig glühende Europäer sind, zu Markte tragen und nicht das Kreuz zur Schau stellen. So verhelfen sie dem Narrativ eines starken, freien Europas zu neuer Blüte. Das ist es, was an Europa überall in der Welt bewundert wird, seine Friedensordnung und sein Wohlstand. Nicht seine Religion."
Im Bekenntnis zu Land, Religion und Ideen ziehen die Deutschen immer den Schwanz ein, klagt indes Katholikin Birgit Kelle in der Welt enttäuscht darüber, dass die Religion nun doch nicht zurück ist. Sie sieht das Problem Europas nicht in einer "stetigen Islamisierung", sondern vielmehr in einer "grassierenden Entchristlichung".
Der Beschluss zeigt auch die unklaren Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland, schreibt Christian Rath in der taz. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht 1995 gegen das Kreuz in bayerischen Klassenzimmern entschieden - aber der Beschluss hatte kaum Folgen. Die Kreuze hängen da immer noch und werden nur abgehängt, wenn sich Eltern beschweren. "Wenn nun im Eingangsbereich von bayerischen Landesbehörden Kreuze aufgehängt werden, ist eine Widerspruchslösung weder vorgesehen noch praktikabel, schließlich wird eine Eingangshalle meist nur kurz passiert. Für die bayerische Regierung ist eine Widerspruchslösung aber auch nicht notwendig, da das Kreuz hier ja kein Glaubenssymbol sei, sondern nur ein 'Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung'." Im Namen des christlichen Abendlands spricht man in Bayern zur Not sogar dem Kreuz seinen religiöse Symbolik ab.
Und der Bayerische "Bund für Geistesfreiheit München" kommentiert laut hpd.de: "Der neue Ministerpräsident schlägt gleich die richtigen Nägel ein und will eine 'Staatsreligion' wieder fest verankern, obwohl in der Verfassung (Art 142, 1) zu lesen ist, dass keine Staatskirche besteht. So ganz sicher ist er sich seiner Sache wohl nicht, denn er hat sich im Vorfeld rechtlich abgesichert und den 'neutralen' Eingangsbereich der Dienstgebäude für seine Kampagne gewählt, um den zu erwartenden Klagen den Wind aus den Segeln zu nehmen."
Europa
Patricia Hecht stellt in der taz einen Bericht des "Europäischen Parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung" (EPF) vor, der die Aktivitäten des ultrakonservativen Netzwerks "Agenda Europe" untersucht. Es handelt sich um eine Einflussorganisation, die der katholischen Kirche nahe steht und die Verhütung, Abtreibung und Homoehe als Teufelszeug betrachtet: "Das Beunruhigende: Neben dem schnellen und professionellen Aufbau des europaweiten Lobby-Netzwerks und mehr als einem Dutzend politischer Initiativen in den einzelnen Ländern erzielte die Bewegung bereits konkrete politische Erfolge - vor allem in Ländern, in denen der Kampf um Antidiskriminierungsrechte noch eher am Anfang steht. So trieb die kroatische Mitgliedsorganisation 'Im Namen der Familie' das Referendum zur traditionellen Ehe in Kroatien 2013 voran, Ehe gilt dort nun als Einheit von Mann und Frau. In Slowenien wurde 2015 ein Referendum zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe mithilfe des Netzwerks blockiert, schreibt EPF."
Auch in Frankreich wird heftig über den "neuen Antisemitismus" gestritten. Dem Soziologen Farid Laroussi stößt in Le Monde das "Manifest gegen den neuen Antisemitismus", das einige Intellektuelle vor ein paar Tagen im Parisien veröffentlichten (unser Resümee) sehr sauer auf: "Eine derartige intellektuelle Niedertracht ist nicht nur ungenau, sondern versteckt in Wahrheit die grassierende Ideologie der Islamophobie, die seit dreißig Jahren provoziert und die Nation zerreißt, indem sie die eine Gruppe gegen die andere ausspielt."
Internet
Ebenfalls in Spiegel online die Meldung, dass Facebook sein Krisenquartal mit einem Rekordgewinn überstanden hat.
Kulturpolitik
In einem nebenstehenden Artikel ist Moritz Müller-Wirth nur mäßig begeistert vom designierten neuen Intendanten Hartmut Dorgerloh, der zudem nur Zugriff auf die Sonderausstellungen habe. Wie soll das Forum da als ganzes funktionieren? Dennoch hofft er auf noch eine neue zusätzliche Ebene, die die schärfste Kritikerin des Humboldt Forums besetzen soll: Benedicte Savoy, die, wenn es nach Grütters geht, für den "Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext" zuständig sein soll. Sollte Grütters es wirklich gelingen, Savoy "'an zentraler Stelle' einzubinden, an einer Stelle also, die zwingend inhaltlichen Zugriff auf alle bespielbaren Flächen haben müsste, dann hätte sie den strukturellen Lapsus der Forums-Struktur mutig korrigiert".
Und in einem dritten Zeit-Artikel plädiert Viola König, ehemalige Leiterin des ethnologischen Museums in Berlin, dafür, peu a peu "den gesamten Bestand zurückzugeben", womit sie auf einer Linie mit Savoy liegt. (615 Millionen Euro wird das Forum mindestens kosten, dazu kommt ein Etat von jährlich 60 Millionen Euro für den Betrieb. Da fragt man sich schon, ob eine gute Internetadresse nicht ausgereicht hätte, das Material für die Rückgabe vorzuführen.)