9punkt - Die Debattenrundschau

Trainingsmodule für Algorithmen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2016. Die Attentate verschärfen die Konflikte zwischen Wallonen und Flamen in Belgien wieder, meint politico.eu. Was ist nur mit den Sozialdemokraten los, fragt die Zeit. Facebook stellt Journalisten allenfalls ein, um sie überflüssig zu machen, meint Gizmodo. Die Rechercheure von correctiv.org erklären, warum sie Klage gegen den Bundesrechnungshof einreichen. Götz Aly fragt in der Berliner Zeitung, warum Deutschland nicht des deutschen Feldzugs gegen die Sowjetunion gedenkt.Ganz Deutschland lacht über Jan Böhmermanns Ai Weiwei-Performance. Und Julia Franck protestiert in der Zeit gegen Verleger, die ihre Einnahmen haben wollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.05.2016 finden Sie hier

Europa

Die Attentate in Brüssel haben die Identitätskonflikte in Belgien, die gerade ein wenig abflauten, wiederbelebt, schreibt der belgische Journalist Henri Goldmann bei politico.eu: "Die Fortschritte des Front national in Frankreich und der rechtspopulistischen Parteien in Deutschland und Österreich, die Wiederkehr des Vlaams Belang in Flandern, die Verachtung des Islams und der Muslime und die Zurückweisung der Asylsuchenden lösen überall soziale Panik und eine Identitätskrise aus, die die Gruppen am unteren Ende der sozialen Skala beschädigt. Das Feuer wird von gemäßigt rechten Politikern noch angeheizt."

Warum ist die Linke derzeit nur so uninspiriert und kraftlos, fragt sich der Politologe und Philosoph Rainer Forst in der Zeit. "Linker Nationalismus und National-Keynesianismus, aber auch der mäandernde Gabrielismus, der versucht, alle linken Widersprüche in sich selbst auszutragen, sind Ausdruck einer Linken, die sich nicht mehr zutraut, die wahren Probleme zu benennen und nach politischen Lösungen zu suchen; die Aufgabe scheint einfach zu groß zu sein, da sie einschlösse, nationale und globale Gerechtigkeit wirklich zusammenzudenken und nicht gegeneinander auszuspielen. Darin drückt sich ein gravierendes strukturelles Problem derzeitiger sozialdemokratischer Parteien aus. "

Dazu passt ganz gut das Porträt der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, das Stefan Wilke eine Seite zuvor in der Zeit gezeichnet hat: "Menschliche Tragödien sind längst so verwirrend international wie die Geschäfte vieler Unternehmen. Politiker stellen sich mühevoll darauf ein, aber Hannelore Kraft zieht sich in die kleinste aller Welten zurück, in ein rheinisches Legoland."

In der FAZ denkt Raphael Gross nach dem Auschluss von Ken Livingstone aus der Labour-Partei über die Ursachen des Antisemitismus in der britischen Linken nach: "Auch einige Labour-Wähler, die aus den früheren Randgebieten des Empire gekommen sind, dürften sich von den Relativierungen Livingstones und vieler linker Studentengruppen angesprochen fühlen: Der Holocaust scheint in Konkurrenz zur Erfahrung der Kolonialverbrechen zu stehen."

Außerdem: Wolfgang Streecks gestrige Generalattacke auf Angela Merkel (unser Resümee) steht im FAZ.Net jetzt online. Im heutigen Aufmacher des SZ-Feuilletons bescheinigt Gustav Seibt der AfD einen "radikalen Antiliberalismus mit völkischem Beigeschmack" als "weltanschaulichen Kern".
Archiv: Europa

Internet

Mit Patrick Beuth wendet sich in Zeit online ein Veteran an die neue Generation der Internetnutzer: "Liebe Snapchat-Nutzer, Ich weiß, wir haben unsere Differenzen. Euer Internet besteht aus Fotos und Videos, meines aus Buchstaben. Ihr findet, Regenbogenkotze sagt mehr als 1.000 Worte, ich mag Nebensätze. Ihr lest das hier vermutlich nicht einmal. Trotzdem möchte ich euch warnen: Sie sind hinter euch her! Sie kommen, um euch zu holen! Mit 'sie' meine ich alle, die Snapchat beruflich nutzen, und nicht, weil sie es wollen. Die Spaßbremsen. Die Uncoolen. Die euch schon Facebook versaut haben, zusammen mit euren Eltern."

Facebook möchte mit "Facebook Instant Articles" zu Nachrichtenseite Nummer 1 im Netz werden und hat zu diesem Zweck sogar Journalisten als "News Curators" angestellt. Michael Nunez von Gizmodo hat mit einigen von ihnen gesprochen: "In den Interviews haben diese ehemaligen Redakteure von grauenhaften Arbeitsbedingungen und einer Kultur der Geheimniskrämerei gesprochen, in der sie als verzichtbare Außenseiter behandelt werden. Nach einer Tour durch Facebook sagen fast alle, dass sie glauben, nicht angeheuert worden zu seien, um dort wirklich zu arbeiten - sie vermuten, dass sie als Trainingsmodule für Algorithmen dienten."

Nett ist es auf der diesjährigen re:publica, um nicht zu sagen "muckelig", notiert ein milde enttäuschter Johannes Boie in der SZ. "Die Radikalität, mit der etwa der 'Chaos Computer Club' einmal jährlich auf seiner ebenfalls erfolgreichen Konferenz die Entwicklungen des Netzes auseinandernimmt, kritisiert, forciert, beschwört oder ablehnt, die fehlt auf der re:publica. Dafür gibt es sehr leckeres Kimchi und Currywürste, und nach dem Tagesprogramm lädt Facebook zum Schnitzelessen oder Werbeleute zum Fußballgucken auf das Dach seiner Agentur."
Archiv: Internet

Religion

In der Zeit fordert der muslimische Theologe Abdel-Hakim Ourghi eine "vernunftgemäße Islamkritik", die Gewalt, Frauenunterdrückung und buchstabengetreue Auslegung im Namen der Religion abschafft. Ufuk Özbe hatte eine derartige Reform in der letzten Zeit noch für praktisch illusorisch erachtet.
Archiv: Religion

Urheberrecht

Die Schriftstellerin Julia Franck darf in einer Randspalte der Zeit ihrer Empörung über die Verlagsklagen zum BGH-Urteil über die Ausschüttung der VG-Wort Ausdruck verleihen: "Ja, Verlage stehen unter wirtschaftlichem Druck - aber warum soll es ausgerechnet das Geld der Autoren sein, das diesen Druck lindert? Warum ausgerechnet das Geld der schwächsten Glieder in der Kette, die vom Verkauf eines einzelnen Buches am wenigsten erhalten: 10 Prozent pro verkauftes Exemplar (Verlag und Handel müssen sich die restlichen 90 Prozent teilen). Woher stammt die Überzeugung, dass unsere literarische Landschaft ärmer wird, wenn die Verlage ihr Geschäftsmodell anpassen müssen, während es offenbar wenig interessiert, dass das Durchschnittseinkommen von Autoren im vergangenen Jahr etwa 19 000 Euro betrug?"

In der FAZ hat Patrick Bahners wenig Sympathie für die Selbstinszenierung der Verleger als "geborene Kollegen ihrer Autoren" bei einem Podiumsgespräch in Berlin. "Indem der Verlag den Preis seiner Bücher festsetzen darf, bleibt [dem Autor], wie Jonathan Beck formuliert, das 'Geschacher' erspart. Was hat es zu sagen, dass ein Firmenchef einen solchen abwertenden Begriff für Preisverhandlungen verwendet...? Hier schleicht sich in die Selbstauskunft des Büchermachers aus Leidenschaft sogar der für Bohemiens obligatorische Ton der Skepsis gegenüber dem Wirtschaftlichen überhaupt ein. Dabei ist Beck Volkswirt. Ihm missfällt an den aktuellen Urheberrechtsdebatten, dass die Verlage als Verwerter tituliert werden."
Archiv: Urheberrecht

Medien

Jan Böhmermann hat sich vom Zusammenprall mit dem deutschen Strafgesetz gut erholt und macht schon wieder Witze im Aufmacher des Zeit-Feuilletons: Angela Merkel hat "mich filetiert, einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert und einen deutschen Ai Weiwei aus mir gemacht", sagt er im Interview mit Moritz von Uslar. Meedia zitiert einige entgeisterte Reaktionen bei Twitter.

Correctiv.org hat Klage gegen den Bundesrechnungshof eingereicht, der auf journalistische Anfragen zu seiner Aktivität nicht geantwortet hat und will so laut einer Meldung in eigener Sache "erreichen, dass der Bundesrechnungshof verpflichtet wird, auf unsere Anfrage - und damit später auf Fragen anderer Reporter und Journalisten - zu antworten. Die Öffentlichkeit sollte erfahren können, wie der Bundesrechnungshof arbeitet, wo die Verwaltung finanzielle Fehler macht und was der Bundesrechnungshof kritisiert. Die Klage wird grundsätzlich klären, ob der Bundesrechnungshof selbst bestimmen kann, was er geheim halten will, oder ob er der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldet - auch in den Fällen, die unangenehm sind."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Emran Feroz erzählt in der taz, wie sie ihre Freundin Nadia, die zuvor Politikwissenschaften studierte, aus den Augen und dann an die IS-Milizen verlor: "Wie all ihre Freundinnen stehen auch wir kurz davor, mit Nadia abzuschließen. Wir fühlen uns schrecklich bei diesem Gedanken. Es sind vor allem diese Was-wäre-wenn-Fragen, die unser Gewissen plagen. Was wäre, wenn ich Nadia damals nicht aus den Augen verloren und den Kontakt mit ihr gepflegt hätte? Und was wäre wohl, wenn ich ihr nicht geglaubt hätte, als sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen?"
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Islamischer Staat

Kulturpolitik

"Die Spatzen pfeifen es vom Römer", schreibt ein launiger Jürgen Kaube in der FAZ. Die Literaturkritikerin Ina Hartwig wird von der SPD als Kandidatin für das Amt der Frankfurter Kulturdezernentin ins Spiel gebracht. Das wäre eine Veränderung des bisherigen kulturpolitischen Ansatzes der SPD, so Kaube: "Bemerkenswert an einer solchen Entscheidung wäre, dass Ina Hartwig Neigungen zu einem 'verbreitenden' Kulturbegriff nicht vorgeworfen werden können."
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

In diesem Jahr gibt es einen besonderen Gedenktag, erinnert Götz Aly in der Berliner Zeitung. Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. 27 Millionen sowjetische Männer, Frauen und Kinder fielen ihm zum Opfer. Wie werden die Deutschen mit diesem Tag umgehen? "Was wird unseren politischen Repräsentanten zum 75. Jahrestag einfallen? Hat das Deutsche Historische Museum eine spezielle Ausstellung vorgesehen? Was wird das Militärhistorische Museum in Dresden, betrieben von der Verteidigungsministerin, beitragen? Plant die Kulturstaatsministerin eine Sonderausstellung und eine neue Datenbank zu den Kunstwerken, Buchschätzen und Museumssammlungen, die deutsche Soldaten in der Sowjetunion plünderten und zerstörten? Werden die Berliner Philharmoniker in St. Petersburg, Kiew und Minsk versöhnende Konzerte veranstalten? Nichts davon!"
Archiv: Geschichte