Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Rausch, ein Glanz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2017. Einen großen Menschheitstext erkennt die Nachtkritik in Elfriede Jelinkes Mode-Stück "Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)", das Kant mit Roland Barthes und Gisele Bündchen verbindet. Schließlich trug sie ja auch Chanel, als sie die KPÖ verließ, weiß die SZ. Jörg Widmanns Oratorium "Arche" versöhnt die Kritiker jetzt auch mit der Akustik der Elbphilharmonie, vor allem in Block E. Die NZZ huldigt den poetischen Interventionen des Architekten Zhang Ke in Pekings altem Hutong-Viertel. Der Freitag begutachtet am Rande Berlins Mufs und Superspaces.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2017 finden Sie hier

Bühne


Elfirede Jelineks "Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)" am Düsseldorfer Schauspielhaus. Foto: Sebastian Hoppe

Als großen Menschheitstext begreift Andreas Wilink in der Nachtkritik Elfriede Jelineks in Düsseldorf uraufgeführtes Stück "Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)". Es sei ein Stück über Mode, aber zugleich bibelfester Traktat, Exorzismus und "Tragödie, die sich bekümmert um das Menschenwesen": "Im wiederholt Gesagten verzerren sich Genuss und Konsum und die Kategorien von Natur und deren kultureller Verbildung in der Mode und ihrem Jargon. Jelinek redet über Billig- und Massenhersteller, Baumwoll-Produktion in Indien, Fronarbeit für Designer-Labels, heideggert, beruft sich auf Roland Barthes, setzt Kant ('Die Einbildungskraft ist ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstands') ins Verhältnis zu Gisele Bündchen, bewertet die Schwäche des Euro, ätzt darüber, was Yamamoto und Kawakubo derzeit entwerfen."

In der SZ fehlt Egbert Tholl allerdings der Furor in der Jelinek' schen Suada. Weil Jelinek nicht gegen sich selbst und ihre Liebe zur Mode anschreiben kann? "Sie liebt sie, verehrte einst japanische Designer, mit denen sie nun im 'Licht im Kasten' abrechnet wegen deren Verstiegenheit. Sie trug Chanel, als sie den Genossen von der Kommunistischen Partei Österreichs die Mitgliedschaft aufkündigte."


In Fehlfarben: Tschechows "Onkel Wanja" am Zürcher Schauspielhaus.

Die Stimme der engen Herzen hat NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico am Schauspielhaus Zürich erlebt, wo Karin Henkel Tschechows "Onkel Wanja" moralisch, aber "perfekt vergrübelt" inszenierte: "Denn fahl und farblos ist die Welt der elegant Leidenden. Farblos ist die Ornamentik und fahl die Farbskala der Kostüme von Aino Laberenz, Düster-Grau bis Verschossen-Grün aus dem Mottenschrank der siebziger Jahre. Tschechows Menschen lieben falsch, leben falsch und tragen Fehlfarben." Valeria Heintges in der Nachtkritik war das ein bisschen zuviel des Gutes, räumt aber ein: "Stringent ist das alles, in seiner depressiven Untätigkeit, seinem Aneinandervorbeireden, seinen Versuchen, aus der Lethargie zu krabbeln."

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs "Macbeth"-Inszenierung am Münchner Residenztheater ("Selten wurde eine Schlachtplatte so ästhetisch serviert", konzediert Christopher Schmidt in der SZ), Karin Beiers Inszenierung von Ayad Akhtars islamische Familientragikomödie "The Who and the What" am Hamburger Schauspielhaus (FAZ, Welt), Tim Egloffs etwas überspitzte, aber durchaus berührende Mannheimer Inszenierung von Clemens J. Setz' Stück "Vereinte Nationen" (Nachtkritik), Oliver Reeses Inszenierung von Tracy Letts' Stück "Eine Familie" in Frankfurt (FAZ), Alain Platels Choreografie "nicht schlafen" mit Musik von Gustav Mahler und aus Kinshasa im Haus der Berliner Festspiele (taz).
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Musik

Die beeindruckende Lichtshow ist abgebaut, doch die Kritiker sitzen noch immer in der Elbphilharmonie und fühlen der Akustik des Saals auf den Zahn. Kent Nagano gab mit seinem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg die Uraufführung von Jörg Widmanns Oratorium "Arche". Dabei handelt es sich um eine wahre, die ganze Menschheitsgeschichte umfassende "Materialschlacht", berichtet Julia Spinola in der SZ. Klanglich bietet sich diese allerdings "detailliert und präzise" dar, wofür Spinola sowohl dem Akustiker Yasuhisa Toyota als auch dem Dirgenten Kent Nagano dankt. Manuel Brug von der Welt hatte zur Elphi-Eröffnung noch sehr geschimpft, gibt sich nun aber von Herzen versöhnt: Das neue Konzerthaus sei "ein fantastisches Showgirl" -die Plätze K/1/25 und M/2/8 sollte man sich somit als Orte privilegierten Kunstgenusses vormerken. "Frontal zur Bühne" sollte man sitzen, rät denn auch Christian Wildhagen in der NZZ: "Toyotas akustisches Design begünstigt kammermusikalische und ebenso feinsinnig gemischte Instrumentalkombinationen (...). Deren Klang schwebt wie eine von allen Seiten zu betrachtende Skulptur im Raum, überaus plastisch, doch stets ohne Mühe auf dem breiten Podium zu lokalisieren." Seine klare Empfehlung: Im Block E sollte man Platz nehmen.

Nur bekräftigen kann das Eleonore Büning von der FAZ, die ebenfalls im Block E das von Riccardo Muti dirigierte Konzert des Chicago Symphony Orchestra erlebt hat: "Ein Rausch, ein Glanz", schwärmt sie. Sorgen bereiten ihr allerdings die etwas beengten räumlichen Verhältnisse des auf einem alten Kaispeicher aufsitzenden und entsprechend ziemlich steilen Saals.

Mit einem Konzert des Ensemble Resonanz wurde außerdem auch der Kleine Saal der Elbphilharmonie eröffnet. Dieser fällt architektonisch weit weniger spektakulär, dafür geradezu intim aus, schreiben die Kritiker. Aufgeführt wurde unter anderem Georg Friedrich Haas' Komposition "Release". Dessen "Musik der Klangfarbenexzesse in reibungsvoller Mikrotonalität eignete sich besonders gut dafür, die Resonanzen des exzellenten Saals auszutesten", erklärt Wolfgang Schreiber in der SZ. Achim Ost lobt in der FR "die Transparenz des Ensembles". Petra Schellen resümiert die Eröffnungskonzerte in einer geradezu literarischen taz-Reportage. Ebenfalls in der taz vergleicht Regine Müller die Elbphilharmonie-Eröffung mit der (von deutlich weniger Tamtamtam begleiteten) Eröffnung des Musikforums in Bochum.

Weiteres: Peter Uehling (Berliner Zeitung) und Jan Brachmann (FAZ) beschäftigen sich mit den von Robin Ticciati und Vladimir Jurowski dirigierten Berliner Konzerten mit dem Deutschen Symphonie-Orchester und dem Rundfunk-Sinfonieorchester, denen sie ab der kommenden Saison als Chefdirigenten voranstehen werden. Sehr beeindruckt von Jurowskis Darbietung zeigt sich auch Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Für die Berliner Zeitung unterhält sich Susanne Lenz mit der Musikjournalistin Yvonne Kunz über das Phänomen des Jihad Rap. Zum Tod des Poptheoretikers Mark Fisher schreiben Christian Werthschulte (taz), Simon Reynolds (Blissblog) und Adam Harper (Rouge's Foam).

Besprochen werden ein Konzert des Geigers Renaud Capucon mit dem Deutschen Symphonie-Orchester (Tagesspiegel), ein Konzert von Pippo Pollina (NZZ), ein Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters unter Pablo Heras-Casado (NZZ), das Konzertprogramm "Kino im Kopf" des Collegium Novum Zürich (NZZ) und Aufnahmen des Wiener Pianisten Friedrich Gulda (FAZ).
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Film

Im Deutschlandfunk lässt sich ein Radioessay über das japanische Kino von Perlentaucher-Filmkritiker Lukas Foerster online nachhören.

Besprochen wird Nicolaus Humberts Dokumentarfilm "Wild Plants" über das Verhältnis zwischen Menschen und Pflanzen (FR, taz).

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Stichwörter: Japanisches Kino, Pflanzen

Literatur

Die NZZ bringt Kindheitserinnerungen des Schriftstellers Alain Claude Sulzer. Holm Friebe berichtet in der Welt von seiner Reise nach China. In einer sehr schönen Facebook-Notiz berichtet Katja Kullmann davon, wie es ist, wenn man wie Susan Sontag wohnt. Das CrimeMag bietet einen schon alleine wegen des fantastischen Bildmaterials lesenswerten Auszug aus Reinhard Klimmts und Patrick Rösslers aufwändigem Band zur Gestaltung des Taschenbuchs der 50er Jahre (hier dazu unsere Rezensionsnotizen). Wer die kommenden Trump-Jahre verstehen will, sollte Richard Condons "The Manchurian Candidate" von 1959 wieder lesen, rät Alf Mayer im CrimeMag.

Besprochen werden Elena Ferrantes "Die Geschichte eines neuen Namens" (FR), Mario Vargas Llosas "Enthüllung" (Standard), neue Bücher über Stefan Zweig (Tagesspiegel), Haruki Murakamis Essayband "Von Beruf Schriftsteller" (Tagesspiegel), David Foster Wallace' wiederveröffentlichte Reportage "Der große rote Sohn" (SZ), eine Auswahl von Selma Lagerlöfs Briefen (taz), Lydia Haiders "Rotten" (Standard) und Anna Kims "Die große Heimkehr" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Henrik Ibsens "Ein Vers":

"Leben heißt - dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich.
..."
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Kunst

Jens Thiele gratuliert in der SZ dem Illustrator Klaus Ensikat zum Achtzigsten. Besprochen werden die Ausstellung "Artige Kunst" mit NS-Kunst in Bochum (FR) und die Schau "Caravaggios Erben" im Museum Wiesbaden (die laut Katharina Rudoplh in der FAZ die "schreckliche Schönheit des neapolitanischen Barock" in Szene setze).
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Stichwörter: NS-Kunst

Architektur


Ein Superspace von FAM architects. Bild: FAM architects/Niklas Maak

Christine Käppeler begutachtet für den Freitag in Berlin-Marzahn die Mufs, die Modulare Unterbringungen für Flüchtlinge, die fast alle jwd liegen. Da gefallen ihr die SuperSpaces einer Architektengruppe um FAZ-Kritiker Niklas Maak deutlich besser. Maak greift für Käppeler auch gleich zu einem Stift und zeichnet einen in Vierecke unterteilten Kasten mit einem Zaun davor: "'Gebaut wird für ein Schlaf- und Schutzbedürfnis. Die Frage, was die Menschen von morgens um sieben bis abends um elf machen, wird nicht beantwortet.' Maak zeichnet einen zweiten Kasten, darunter ein Gerüst. 'Wir schaffen hier einen offenen Raum.' In kleinen Kojen sollen Workshops entstehen, in denen Brot gebacken, Stühle gefertigt oder Handys repariert werden können. Dazu soll es eine kleine Markthalle geben, in der Gemüse, Obst und andere Dinge des täglichen Bedarfs angeboten werden. Die Geflüchteten sollen im SuperSpace die Möglichkeit haben, etwas anzubieten - und die Nachbarn einen triftigen Grund, zu ihnen zu kommen."


Zhang Kes Cha'er Hutong in Peking. Foto: ZAO/standardsarchitecture

Ganz verzaubert ist Jürgen Tietz in der NZZ von den poetischen Interventionen des chinesischen Architekten Zhang Ke, vor allem von seinem Umbau  eines traditionellen Hofhauses: "Wie zu einem gebauten Märchen öffnet sich in einer Gasse eine Holztür. Dahinter liegt der kleine Hof des 'Cha'er Hutong' mit seiner mächtigen Esche. Mit sparsamen Eingriffen hat Zhang Ke, der zu den Stars der chinesischen Architekturszene zählt, den Bestand belebt. Im 'Da-Za-Yuan', dem 'großen unordentlichen Hof', hat er mit kleinen Gebäudekuben aus Beton, Holz und traditionellen Ziegeln weitergebaut. Ganz ohne Einschränkungen durch Sicherheits- und Bauvorschriften, wie sie in Westeuropa gelten, wurde und wird hier gebaut. Vielleicht kann erst dadurch der Hof seinen Zauber entfalten."

Dass Architektur nicht nur fantastisch aussehen, sondern auch fantastisch klingen kann, lässt sich in Jürgen Seizews Klangkunst-Stück "Silent Constructions" nachvollziehen, das Deutschlandradio Kultur online gestellt hat: Das "Stück spannt einen Bogen vom historischen Modellbau des Berliner Doms aus dem 19. Jahrhundert über das BMW-Werk in Leipzig bis hin zur Elbphilharmonie in Hamburg."
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