Efeu - Die Kulturrundschau

Kreuzfeuer, 40 Sekunden lang, völlig irre

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23.06.2018. In der NZZ beklagt der Schriftsteller Chalid al-Chamissi das Grau der Repression, unter dem sogar der ägyptische Humor erdrückt wird. In der taz erklärt die Künstlerin Patricia Belli, wie die Sandinisten gerade ihre letzte Verbundenheit verspielten. Mehr als bizarr findet die SZ, wie sich Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin der Berlinale suchte und fand. Außerdem feiert sie Kamasi Washingtons dyadisch spirituelles Protestalbum "Heaven & Earth". Und die Welt wünscht sich wieder etwas mehr Pepp im Literarischen Quartett.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.06.2018 finden Sie hier

Film

Sowas nennt man dann wohl Selbstfindungsprozess: Mariette Rissenbeek, selbst Mitglied der Berlinale-Findungskommission, wird künftig als kaufmännische Geschäftsführerin gemeinsam mit Carlo Chatrian, der fürs Programm verantwortlich sein wird, die Berlinale leiten. "Mehr als bizarr" finden die SZ-Filmkritiker diese wundersame Verwandlung der Suchenden in eine Gefundene: Der "üble Beigeschmack" drohe "nun sogar den guten Willen zu überschatten, mit dem Carlo Chatrian bereits in Berlin begrüßt wurde". Formal ist Rissenbeek, die bislang German Films, die Auslandsvertretung des deutschen Films, geleitet hat, im übrigen die eigentliche Nachfolge Dieter Kosslicks - ihr Wort steht im Konfliktfall über dem Chatrians. Andreas Busche und Christiane Peitz haben im Tagesspiegel alles Wissenswerte zu dieser Personalie und Konstellation zusammengetragen. Gut vorstellen können sich beide, dass "die Berlinale etwas intellektueller wird, vielleicht wird es auch im Hauptprogramm mehr Filmgespräche geben." Wirkliche Aufbruchsstimmung sieht allerdings anders aus.

Dass es in dieser besonderen Konstellation zu einem Dissens kommen wird, kann sich Fréderic Jaeger von critic.de ohnehin nicht vorstellen: "Wahrscheinlicher ist, dass beide austarieren, was die Berlinale künftig ändern muss, was sie soll und was sie kann, und dabei Kompromisse suchen. Dafür dürfte es durchaus hilfreich sein, dass Rissenbeek eine ungemein freundliche und höfliche Art hat, die zumindest öffentlich keine Kante zeigt. Zu wünschen wäre, dass sie nach innen nicht zu viel Vorsicht bei der nötigen Erneuerung walten lässt." Regisseur RP Kahl glaubt im Deutschlandfunk Kultur, dass Rissenbeek "eine Ermöglicherin sein wird." In der taz hofft Tim Caspar Boehme, "dass das Vertrauen in Chatrians kuratorische Fähigkeiten nicht allzu hart auf die hier bestehenden Strukturen prallen wird."

Kritik an der Personalie Chatrian kommt aus der Schweiz selbst: Susanne Ostwald erinnert in der NZZ daran, dass Chatrians Arbeit als Leiter des Filmfestivals in Locarno nicht bloß auf Begeisterung gestoßen ist: "Chatrians Programm zeugte zwar stets von wahrer Leidenschaft, aber nicht immer von gutem Augenmaß im Hinblick auf die Bedürfnisse des Publikums - es kann aber an einem Festival nicht nur um die 'reine Kunst' gehen. Fürs Populäre auf der Piazza Grande war bisher vor allem Nadia Dresti, Co-Direktorin in Locarno, zuständig. Locarno hat auch ihr, die im Hintergrund agiert, viel zu verdanken." Im epdFilm-Blog blickt Gerhard Midding auf die Höhen und Tiefen des publizistischen Gewitters in den letzten Monaten rund um diese Personalie zurück.

Weitere Artikel: In der SZ beklagt Susan Vahabzadeh den Verlust des Robin-Hood-Motivs im Kino: Weder Gaunerfilme, noch Superheldenfilme haben noch Klassenbewusstein - vielmehr werde "der Kapitalismus umarmt." Thomas Klein schreibt im Filmdienst über das dokumentarische Kino von Stanislaw Mucha. Johannes Wolters befasst sich im Filmdienst mit dem französischen Animationsfilm. Für Kino-Zeit hat Katrin Doerksen filmische Preziosen aus den Prelinger-Archiven zusammengetragen. Kracauer-Stipendiat Lukas Foerster schreibt im Filmdienst-Blog über James Bennings Experimentalfilm "11x14" aus dem Jahr 1977.

Besprochen werden die Verfilmung von Ian McEwans Roman "Am Strand" mit Saoirse Ronan (Standard), Stanislaw Muchas Dokumentarfilm "Kolyma" (FAZ) und die zweite Staffel der Superhelden-Serie "Luke Cage" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

Im Tagesspiegel begutachtet Bernhard Schulz die Entwürfe aus dem Programmwettbewerb für Schinkels Bauakademie in Berlin: "Vier der fünf Preisträger kommen aus Berlin. Das besagt Einiges über den Wettbewerb... Die einzigen Nicht-Berliner legten bei der Vorstellung am Mittwoch den Finger in genau diese Wunde, als sie erklärten: 'Für mehr Dynamik und weniger Seilschaften wird die Bauakademie in einer rotierenden Intendanz geführt.'"

Weiteres: Dezeen stellt einen New Yorker Wolkenkratzer des britischen Architekten David Adjaye vor, der bereits bestens auf die Lieferung per Drohne ausgerichtet ist.

Archiv: Architektur

Kunst

Patricia Belli: Desquilibradas, 2018 Installationsansicht. Berlin Biennale, Akademie der Künste. Foto: Timo Ohler

Die Berlin Biennale zeigt auch Arbeiten der nicaraguanischen Künstlerin Patricia Belli, die in ihrer Arbeit die Proteste gegen das immer autokratischere Regime Daniel Ortegas aufnimmt. In der Toninstallation "Desequilibradas" hört man Fragmente einer demagogischen Rede der Vizepräsidentin Murillo, aber auch die Namen der etwa hundertfünfzig seit dem 18. April in Nicaragua Getöteten. In einem sehr interessanten taz-Interview mit Eva-Christina Meier erzählt die Künstlerin, wann ihre Verbundenheit mit den Sandinisten ein Ende hatte: "Mit den ersten Toten. Tote hat es die ganzen Jahre über schon gegeben, aber unter der Landbevölkerung, also weit weg. Doch plötzlich gibt es Tote 'in deinem eigenen Haus'. Mit den Protesten begonnen haben die Studenten. In Nicaragua fängt man schon mit 16, 17 Jahren an zu studieren und beendet die Universität sehr jung - vier, fünf Jahre später. Die Revolution ist für die Jugendlichen Geschichte. Viele Freiheiten, obwohl es keine absolute Meinungsfreiheit gibt, sind für sie selbstverständlich. Den Bruch mit der Revolution, der mir schwerfällt, diese Loyalität kennen sie nicht."

Weiteres: Nur mit Spott quittieren kann Olga Kronsteiner Standard, wie unermüdlich der Wiener Kunstbetrieb das Werk Gustav Klimts mit immer neuen Jubiläen, Ausstellungen und Souvenier-Produktionen ausschlachtet: "Das Klimbim lauert überall." In einem zweiten Text meldet Kronsteiner, dass das Leopold-Museum Klimts Werk "Apfelbaum II" aus der Ausstellung zum "Jahrhundertkünstler" zurückziehen musste, weil es 2001 an den falschen Erbengemeinschaft restituiert wurde.
Archiv: Kunst

Bühne

In der Nachtkritik berichtet Janis El-Bira zum Abschluss der Autorentage von der langen Nacht der Autoren.

Besprochen werden Boris Charmatz' Tanzperformance "Enfant" an der Volksbühne (Tagesspiegel), das Stück "Zwischen den Säulen" des Kollektivs Markus & Markus in den Sophiensälen (Tagesspiegel) und Ferruccio Busonis Oper "Doktor Faust" in Osnabrück (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Was ist nur aus dem ägyptischen Humor geworden, klagt der Schriftsteller Chalid al-Chamissi in der NZZ: "Viele denken sehnsüchtig zurück an die Springflut von Liedern, Gedichten und Kunstwerken, welche die Revolution Anfang 2011 freigesetzt hatten. Auf den Hausmauern erschienen Verse, wir ergötzten uns an geistreichen Graffiti, der Mutterwitz, für den die Ägypter berühmt sind, stand in prächtigster Blüte. Mit der repressiven Politik ist das alte Grau in unsere Straßen zurückgekehrt."

Kann bitte jemand das dösende Literarische Quartett aufwecken, ruft Marc Reichwein in der Welt, der sich bei der aktuellen Sendung - mit Martin Schulz als Gast - mitunter tödlich gelangweilt hat: "Ein Streit würde dieser ZDF-Sendung gut tun; Polemik und Kontroverse wären wichtig, um uns spüren zu lassen, dass hier mit Leidenschaft um Lesestoffe gestritten wird."

Weitere Artikel: Beim Berliner Autorengipfel sprachen Schriftstellerinnen und Schriftsteller über die Lage Europas und die Bedrohung durch den Rechtsextremismus, berichtet Arno Widmann in der Berliner Zeitung. Im Freitext-Blog von ZeitOnline berichtet Schriftstellerin und Marzahner Fußpflegerin Katja Oskamp von neuen Anekdoten aus dem Ostberliner Stadtteil. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Fernando Pessoas "Buch der Unruhe". Und die Literarische Welt dokumentiert im Print den Volltext von Maxim Billers Antrittsvorlesung als Poetikdozent in Heidelberg ("Über das Glück, ein Schriftsteller in Deutschland zu sein").

Besprochen werden die Ausstellung "Die Erfindung von Paris" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (NZZ), Silvia Bovenschens posthum erschienener Roman "Lug & Trug & Rat & Streben" (taz), Myriam Rawicks "Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen. Mein Tagebuch, Aleppo 2011-2017" (NZZ), Teju Coles "Blinder Fleck" (SZ), Karl Ove Knausgårds und Fredrik Ekelunds Fußballbuch "Kein Heimspiel" (Welt),  Susanne Fritz' "Wie kommt der Krieg ins Kind" (ZeitOnline), Omar Robert Hamiltons "Stadt der Rebellion" (NZZ), Klaus Cornfields "Kranke Comics" (Tagesspiegel), der dritte Band der Reihe "Perlen der Comicgeschichte" (taz) und Raphael Urweiders Gedichtband "Wildern" (FAZ).
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Design

Stefan Soltek erinnert im literarischen Wochenend-Essay der FAZ an die Typografien des Architekten Peter Behrens und des Gießerei-Unternehmers Karl Klingspors, "die  das Schriftwesen von der Gegenwart in die Zukunft führte. Eckmann- und Behrens-Schrift markieren eindrucksvoll den Stilwandel der Jahre nach 1900, die Herausbildung des Jugendstils und seine Wandlung hin zu einer beruhigten, schließlich geometrisch geprägten Formensprache, die die Neue Sachlichkeit und dann das Bauhaus nach sich ziehen sollte."
Archiv: Design

Musik

Absolut verheerend findet Jens Balzer den Eiertanz, den die Ruhrtriennale und deren Intendantin Stefanie Carp gerade im Umgang mit der israelfeindlichen Kampagne BDS und der Hip-Hop-Band Young Fathers aufführen.

"Gigantisch gut" ist "Heaven & Earth", das neue Album von Kamasi Washington, geworden, schwärmt Jan Kedves in der SZ. Den dyadischen Charakter, den der Titel verspricht, löst das Album gut ein: Es gehe um den Befund des Daseins hinieden wie es ist, und darum, wie es sein könnte - ein spirituelles Protestalbum, das mit vielen Sensationen aufwarte, etwa im Song 'The Psalmnist': "Klavier und Schlagzeug scheinen schwer angeschlagen zu sein, bis deutlich wird, dass das Klavier längst die rhythmische Führung übernommen hat, während das Schlagzeug sich komplett ausklinkt. Kreuzfeuer, 40 Sekunden lang, völlig irre. Aus so einem harten Geballer kommt man gemeinsam nur heil heraus, wenn alle genau aufeinander achten, sich gegenseitig an den Lippen und Ohren hängen. ... Große Kunst." Interviews mit Washington haben Jan Paersch (taz) und Kai Müller (Tagesspiegel) geführt.

In der SZ würdigt Reinhard J. Brembeck Simon Rattle, der sich nach den offiziellen Abschiedskonzerten (hier zum Nachhören) morgen Abend mit dem traditionellen Sommerkonzert in der Waldbühne (live übertragen vom RBB) endgültig von seinem Posten als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker verabschiedet: Rattle habe sich "nie als Pultstar oder Klangmagier verkauft, er wollte nie mit Emotionen übertölpeln. Vielmehr versucht er stets den Nachweis zu führen, dass die von ihm dirigierten Stücke aktuell sind, dass sie nicht nur als Musik begeistern können, sondern auch zum gesellschaftlichen Diskurs etwas beizutragen haben."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline verabschiedet sich Jan Freitag vom einstigen Musiksender Viva, der zur allgemeinen Überraschung tatsächlich erst jetzt seinen Betrieb einstellt. Besprochen werden neue Alben von Jay Rock (Pitchfork) und Christina Aguilera (FR, FAZ), die wiederveröffentlichten ersten drei Alben von The Wire (Jungle World) und ein Konzert der Stones (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik