9punkt - Die Debattenrundschau
Enorm fruchtbarer Grund
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
In einem fulminanten Essay ruft Timothy Garton Ash im Guardian die Politiker und Institutionen der EU dazu auf, die entstehenden autokratischen Regimes in Polen und Ungarn viel aktiver zu bekämpfen als bisher. Zwar seien einige vielversprechende Maßnahmen unternommen worden, um diese Länder von Geldströmen abzuschneiden, die oft zu interner Klientelpolitik missbraucht werden. Aber vor allem sollte die Europäische Volkspartei endlich die ungarische Fidesz ausschließen: "Eine solche europäische Parteigruppe sollte an der Spitze einer europäischen Demokratisierung stehen. Aber sie hält an der Mitgliedschaft einer Partei fest, die nicht nur die liberale und pluralistische Demokratie daheim schleift, sondern ihren letzten Wahlkampf mit einer brüsselfeindlichen, fremdenfeindlichen Agenda bestritt, inklusive Antisemitismus, der auf George Soros zielte... Die europäische Volkspartei toleriert Fidesz nicht nur, sondern unterstützt sie aktiv. Wie der Fidesz-Abgeordnete Joszef Szajer in einer Dank-Email (die an Politico geleakt wurde) schrieb, kam der EVP-Chef Manfred Weber 'nach Budapest, um unseren Wahlkampf zu unterstützen und fest an unserer Seite zu stehen.'" Weber ist ein CSU-Politiker.
Dankend hat die Stadt Trier sich von den chinesischen Orwellianern eine scheußliche Marx-Statue stiften lassen. Schon erstaunlich, wie der Marxismus die Kurve kriegt, schreibt Richard Herzinger in der Welt: "Musste man sich früher davor fürchten, dass die Kommunisten einem das Häuschen im Tessin oder in der Eifel wegnehmen würden, hätten sie in der Bundesrepublik einmal das Sagen, bietet die aktuelle chinesische Variante des Marxismus-Leninismus jedem die Aussicht, sich noch ein paar mehr davon dazuzukaufen, sofern er sich am Siegeszug des dort herrschenden staatsgesteuerten Turbokapitalismus beteiligt. Das erleichtert es doch ungemein, an dem Vordenker der Weltrevolution auch die guten Seiten zu sehen..."
Tom McTague porträtiert für politico.eu den Labour-Strippenzieher Jon Lansman, der die Momentum-Gruppe gründete und als maßgeblich für den Erfolg Jeremy Corbyns gilt. "Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten für Labour, glaubt er - und er sieht eine Menge schlechte Nachrichten: gesunkener Lebensstandard, unbezahlbare Wohnungen, Studiengebühren von 9.000 Pfund. 'Dies ist ein enorm fruchtbarer Grund', sagt er, 'ich glaube, die Zukunft ist rosig für uns.'" Unter Lansman sei Labour zur größten Partei Europas aufgestiegen, so McTague. Und vor 2015 waren die meisten bei Labour über sechzig, jetzt sind sie in den Zwanzigern.
In Kroatien plädiert die Bischofskonferenz wie die Akademie der Wissenschaften und Künste gegen die Verabschiedung der Istanbuler Konvention, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen will, erzählt die Autorin Ivana Sajko auf Zeit online: Das sei alles nur "Gender-Ideologie" und stehe der kroatischen Bildungs- und Erziehungstradition entgegen. "Ende März folgte eine sehr große ultrakonservative Versammlung in Zagreb, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, die im Begriff war, die Istanbuler Konvention ratifizieren zu lassen. Aus allen Landesteilen kamen Busse in die Hauptstadt und die katholischen Vereine, die die Demonstration organisiert hatten, boten danach - als Bestandteil des Ausflugs - einen Besuch bei Ikea an. ... Die Bischöfe jedoch unterstützten diese Versammlung mit den Worten, die Kirche akzeptiere 'die Kolonisierung' nicht, 'welche in die Anthropologie eindringt, auf der die Identität aufgebaut wird'."
Geschichte
Ebenfalls in der NZZ erinnert der Osteuropahistoriker Fabian Thunemann mit Blick auf Russland daran, dass Diktaturen selten durch Unruhen gestürzt werden: Viel erfolgreicher sind Verschwörungen.