Magazinrundschau
Wie eine geschärfte Säge
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
27.02.2024. Der New Yorker schildert die katastrophalen Lebensbedingungen nordkoreanischer Zwangsarbeiter in China. Noema erzählt, wie man in Somaliland politisch debattiert: rhythmisch. Was ist heute eigentlich links, fragt sich die amerikanische Autorin Rebecca Solnit in Literary Hub. En attendant Nadeau erinnert an die vielen Ausländer in der Resistance. Der Guardian lernt, wie man Geschichte heute erforscht: mit Genanalysen.
New Yorker (USA), 26.02.2024
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Außerdem: Kathryn Schulz beschreibt die Gefahren von Sonnenstürmen. Shane Bauer erzählt in einem Brief aus Israel von den Aggressionen israelischer Siedler gegen die Palästinenser. Anthony Lane erwärmt sich für den romantischen Dichter Lord Byron. Maggie Doherty liest eine neue Biografie über Carson McCullers. Justin Chang sah im Kino Nuri Bilge Ceylans "Auf trockenen Gräsern".
Noema (USA), 21.02.2024
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"Die unterdrückte Person sagte:
'Wie bitter es auch sein mag,
die Wahrheit ist notwendig:
[Ihr] verkauft die Flughäfen
verkauft die Häfen,
exportiert alle Mineralien,
oder seid die Makler;
[Ihr] verwirrt die Jugendlichen,
verkauft sie an Schmuggler.
Bei Allah, ihr habt euch selbst in Gefahr gebracht;
Ihr seid ohne Gewissen.'"
Eine Debatte muss mindestens zwei Seiten haben, und bald meldete sich ein weiterer Dichter zu Wort, der die Regierung verteidigte und Weedhsame und Ganey als Verräter bezeichnete, die ihrem Land die wirtschaftliche Entwicklung verwehrten. Daaha Cabdi Gaas schrieb:
"In meinem Geist und meinem spirituellen Herzen
scheint es, dass den Dichtern gesagt wurde
dass der Zweck der Poesie
ist, [die Regierung] auf unfaire Weise anzugreifen;
wisst ihr, dass das eine Tragödie ist
und Ärger [die Poesie zu benutzen]
wie eine geschärfte Säge"
Am Ende dieser poetischen Debatte hatten mehr als 90 Dichter rund 120 offizielle und inoffizielle Gedichte beigesteuert. Sie hatte mehr Dichter und Gedichte hervorgebracht als jede andere Debatte und das in Rekordzeit. Etwa sechs Monate später wurde in Somaliland ein neuer Präsident gewählt. Die Kandidaten diskutierten über Korruption, nationale Ressourcen und internationale Anerkennung - Themen, die durch die Gedichtdebatte aufgewühlt worden waren. Muse Bihi Abdi, der später die Wahl gewinnen sollte, kam sogar, um mit den Dichtern über ihre Kritik zu sprechen. Weedhsame war erfreut, dass sie anerkannt wurden. 'Zumindest haben sie gesehen, dass eine junge Dichtergeneration sich organisieren kann', sagt er. 'Sie sehen, dass wir die Stimmen der Menschen beeinflussen können.'"
Elet es Irodalom (Ungarn), 23.02.2024
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Literary Hub (USA), 23.02.2024
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New Statesman (UK), 27.02.2024
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© SHK/Hamburger Kunsthalle/bpk Foto: Elke Walford
Peter E Gordon ist irritiert über seine eigene negative Reaktion auf Caspar David Friedrichs "Der Wanderer über dem Nebelmeer". Nachdem er die problematische politische Rezeption des Werks Friedrichs vor allem während der NS-Zeit nachgezeichnet hat, stellt er klar, dass damit über den künstlerischen Wert des Bildes noch nichts ausgesagt ist: "Das bringt mich zurück zu meiner allergischen Reaktion auf Friedrichs Werk. Diese Reaktion ist nicht politisch, oder vielleicht ist sie noch nicht politisch. Was mich stört, gehört in den Bereich der Kunst selbst. Man achte auf die Körperhaltung des Wanderers, wie er sich dem Nebelsee stellt, und frage sich: drückt diese Figur auch nur einen Hauch von Bescheidenheit aus? Von Verletzlichkeit? Ironie? Leid? Die einzige ehrliche Antwort, die man geben kann, ist, dass die Gesamtheit der Komposition des Gemäldes den Effekt hat, das Subjekt zu panzern und über die Landschaft zu erheben, auf die es blickt. Alles in seiner Haltung, sogar der Wanderstock, der ihm einen dritten Halt auf der felsigen Anhöhe verschafft, vermittelt den Eindruck stoischer Ataraxie oder Unberührtheit. Er fühlt sich nicht bedroht von der Szene, die sich ihm bietet; er ist nicht einmal ein Teil derselben; seine bürgerliche Kleidung akzentuiert den tiefen Abgrund zwischen seiner zivilisierten Subjektivität und der regellosen Welt."
Cargo (Deutschland), 26.02.2024
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Simon Rothöhler unterzieht Jonathan Glazers diese Woche in den deutschen Kinos startenden Film "The Zone of Interest" einem umfangreichen, medienarchivarischen und bildpolitischen close reading. Der Film erzählt in scheinbar schlichten Alltagsbeobachtungen vom Leben der Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß in zwar unmittelbarer, aber durch Mauern abgetrennter Nähe zum Massenmord an den Juden, ohne diesen je anders als durch aufs Off verweisende Spuren (Rauchschwaden über der Mauer, Schreie auf der Tonspur, etc) zu konkretisieren. Die Vorlage des Films ist der gleichnamige, laut Rothöhler aber "ziemlich überflüssige" Roman von Martin Amis, eine Recherchegrundlage bildet das Familien-Fotoalbum der Familie Höß, das auf den ersten Blick ein unscheinbares, aber im Kontext zur Shoah obszönes Idyll zeigt. "In gewisser Weise ist 'The Zone of Interest' ein Komplementärfilm zu László Nemes' 'Son of Saul' (2015). In beiden Arbeiten, die filmisch nachgebaute Täter- bzw. Opferperspektiven maximal bildreflexiv ausreizen, das filmästhetische Konstrukt kritisch testen und auf die Probe stellen, operiert dabei auch eine mitlaufende Bildskepsis. Bei Nemes ist es eine immersive, eng kadrierte, quasi Point-of-View-artige Kamera, die zwar selbst vor den Gaskammern nicht Halt macht, den Horror aber bildmaterialiter letztlich nicht zeigt, sondern durch hypermobile, nie zur Ruhe kommende Bewegungsverwischungen und gezielt gesetzte Unschärfen in Zonen des relativ Unsichtbaren, an den Grenzen des Wahrnehmbaren hält - und insofern sehr bewusst mit dem rezeptionsethischen Problem des Trotz-allem-sehen-Wollens spielt. Dieser konzeptuelle Umgang mit Unschärfen, mit Sichtbarkeit und Opazität, führt, wie auch bei Glazers 'The Zone of Interest', in letzter Instanz zur Frage zurück, worin genau bei diesen Bildern und wo genau in diesen Bildern die (ästhetischen, erinnerungspolitischen, aber auch popkulturellen und meinetwegen unterhaltungskonsumistischen) 'Interessensgebiete' heutiger Zuschauerschaft liegen. Denn es sind, das spricht nicht gegen sie, gehört aber zu ihrer empirischen Realität, auteuristische Festivalfilmbilder, ambitionierte Bilder, die in Cannes etc. Preise gewinnen wollen (gewonnen haben) und dann, wie alle anderen (Film-)Bilder auch, mit ihrem Eintritt in die Bildöffentlichkeit der visuellen Kultur der Gegenwart, eben unvermeidlicherweise in allen möglichen postkinematografischen Formaten fortlaufender Entdifferenzierung zirkulieren. So ist es auch den dokumentarischen Filmaufnahmen dieses Ereigniskomplexes ergangen. Seitdem stehen die u. a. von Alexander Vorontsov (Auschwitz-Birkenau), George Rodger (Bergen-Belsen), Arthur Mainzer (Buchenwald) und Samuel Fuller (Falkenau) während der Befreiung der Lager gedrehten Bilder empfehlungsalgorithmisch gefiltert neben allen möglichen anderen Bildern, sind Streamingplattform- und Feed-Content, werden appropriiert, umgebaut, neu verschaltet, kommentiert, bildkommunikativ invasiv bearbeitet, in kontingente Bildnachbarschaften gestellt, zu polyvalentem visuellen Spielmaterial, zu Memes, GIFs etc. Die avanciertesten filmischen Arbeiten zur Shoah der verganenen Dekade (mindestens) - für mich wären das 'Son of Saul', 'Austerlitz' (Sergej Loznitsa, 2015, gedreht in den Gedenkstätten der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen) und nun 'The Zone of Interest' - reagieren auf dieses plattformbasierte Zirkulationsgeschehen mit Medienspezifik: mit kinematografischen Verdichtungen, die neben einem reflexiveren Umgang mit filmischen Zeitverhältnissen (wie sich diegetisch gebaute Zeit zur historischen verhält) vor allem Fragen des Perspektivismus kritisch bearbeiten."
Harper's Magazine (USA), 19.02.2024
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En attendant Nadeau (Frankreich), 20.02.2024
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Guardian (UK), 27.02.2024
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Außerdem: Mark Townsend berichtet in einer Reportage für den Observer vom Niedergang der Demokratie im Senegal und in Afrika überhaupt.
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