Bücherbrief

Die nötige Tiefenschärfe

07.08.2013. Patrick Deville erzählt von den hehren Idealen der ersten Kolonialisten. Ulrike Draesner preist ihre heimlichen Helden. Edmondo de Amicis untersucht den Zusammenhang zwischen Liebe und Gymnastik. Und Josef Foschepoth erzählt, wie Konrad Adenauer den Überwachungsstaat begründete. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2013 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2013 und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Patrick Deville
Äquatoria
Auf den Spuren von Pierre Savorgnan de Brazza, Roman
Bilger Verlag 2013, 400 Seiten, 29,80 Euro



Patrick Devilles Roman ist bisher erst einmal besprochen worden, aber in Fragen der internationalen Literatur ist die NZZ in der Regel so verlässlich wie überzeugend. Der französische Autor erzählt in "Äquatoria" die Tragödie des Idealismus, nach der die edelsten Vorhaben mitunter die schlimmsten Verheerungen zur Folge haben: Er folgt dem Aristokraten, Abenteurer und Schwärmer Pietro Savorgnan de Brazza durch Äquatorialafrika, dem Brazza die Freiheit, Gerechtigkeit und Republikanismus bringen will, stattdessen aber den französischen Kolonialismus beschert. Begeistert und erschüttert folgt NZZ-Rezensentin Ingeborg Waldinger dieser Erzählung durch Zeit und Raum, quer durch Afrika vom Atlantik bis zum Indischen Ozean, zu afrikanischen Königen, Sklavenhändlern wie Tippu Tip oder auch Blaise Pascal. Außerdem vergisst Waldinger nicht die "exzellente" Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller zu loben.

Ulrike Draesner
Heimliche Helden
Über Heinrich von Kleist, James Joyce, Thomas Mann, Gottfried Benn, Karl Valentin u.v.a
Luchterhand Literaturverlag 2013, 368 Seiten, 19,99 Euro



Ulrike Draesner hat sich einen Namen gemacht als kluge Menschenkennerin, die in ihren Romanen und Erzählungen mal scharfzüngig-böse, mal hinreißend poetisch von Liebe, Sehnsucht und Sex in der deutschen Mittelschicht erzählt. Nach dem Schriftstellerinnen-Band "Schöne Frauen lesen" widmet sie sich in den Essays über "Heimliche Helden" nun den männlichen Autoren von Kleist über James Joyce und Thomas Mann bis zu Gottfried Benn. Als "unerschöpfliches Leseerlebnis" preist Nicole Henneberg in der FAZ die kunstsinnigen und immer auch sehr witzigen Essays. In der SZ bewundert Eberhard Geisler vor allem die Fähigkeit der Autorin, bei aller wissenschaftlichen Untermauerung immer Erzählerin zu bleiben. (Hier eine

Fawwaz Haddad
Gottes blutiger Himmel
Roman
Aufbau Verlag 2013, 352 Seiten, 22,99 Euro



Im Original ist dieser Roman von Fawwaz Haddad bereits 2010 erschienen, da konnte der syrische Schriftsteller noch nicht ahnen, dass sein im Irak angesiedeltes Schreckenspanorama bald Wirklichkeit in Syrien werden sollte. Umso mehr hat "Gottes blutiger Himmel" die RezensentInnen schüttert: Er erzählt von einem Vater, der seinen radikalisierten Sohn aus dem Irak zurückholen will, wohin der mit einem Al-Qaida-Trupp gezogen ist. Dort erlebt der Erzähler unvorstellbare Gewalt und Grausamkeit auf allen Seiten und kehrt schließlich traumatisiert und voller Hass auf seinen Sohn heim. In der FAZ zeigte sich Hubert Spiegel zutiefst bewegt von diesem Roman, der sehr kunstvoll die Blickwinkel der verschiedenen Akteure ausleuchte. In der NZZ lobte Angela Schader, wie vorurteilsfrei und erkenntnisreich Fawwaz Haddad schreibe. Im Deutschlandfunk hat sich Larissa Bender mit dem Autor unterhalten, den sie ebenso bedeutend wie großartig findet.

Edmondo de Amicis
Liebe und Gymnastik
Roman
Manesse Verlag 2013, 256 Seiten, 19,95 Euro



1892 erschien dieser kleine Roman, vor über hundert Jahren also. Jetzt steht er im 21. Jahrhundert und macht absolut bella figura, lobt FAZ-Rezensentin Christiane Pöhlmann, die vor allem die furchtlosen Rollenwechsel der Geschlechter bestaunt. Die Heldin will als Turnlehrerin Italien und die italienischen Frauen mit Gymnastik fit machen für den neuen Nationalstaat. Der Held, ein wenig athletischer ehemaliger Klosterschüler, versucht derweil, sie mit seinen Fähigkeiten als Hausmann zu bezirzen. Die kurzweilige Geschichte spielt in einem Turiner Mietshaus, und wie Amicis seine Milieustudie in modernstem, an mündlichen Ausdrucksformen orientiertem Italienisch zeichnet, hat Maike Albath (Deutschlandfunk) sehr imponiert. Am Ende, freut sich Manuela Reichart im Dradio, steht ein ungewöhnliches Ehekonzept mit ganz neu verteilten Rollen. (Hier eine

Jerome Mulot, Florent Ruppert, Bastien Vives
Die große Odaliske
Reprodukt Verlag 2013, 128 Seiten, 20 Euro



Mit diebischer Freude haben die Rezensenten diesen heiteren Kunstraub-Comic gelesen, für den sich das eingespielte Zeichner-Duo Florent Ruppert & Jérôme Mulot mit Bastien Vivès zusammengetan hat. Besonders apart findet taz-Rezensentin Elise Graton, dass sich dieses männliche Trio Infernal mit filigransten Zeichnungen und einer absolut eleganten Choreografie in drei Diebesschwestern doppelt, die sich wild durchs Leben stehlen, raufen und lieben, ihren größten Coup aber noch vor sich haben: "Die große Odaliske" von Ingres aus dem Louvre zu klauen. In der SZ zeigt sich Fritz Göttler einfach selig nach diesen "Abenteuerferien in den Pariser Museen", in denen er eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt hat: "Das Wichtige im Leben ist nicht, was man tut. Sondern mit wem man es tut."


Sachbuch

Josef Foschepoth
Überwachtes Deutschland
Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 2012, 378 Seiten, 34,99 Euro



In die Debatte um die Abhörpraktiken der NSA passt dieses Buch von Josef Foschepoth wie die Faust aufs Auge. Der Freiburger Historiker untersucht darin, wie die Geheimdienste der Alliierten die alte Bundesrepublik überwachten, und die Rezensenten schlackern mit den Ohren: Nach einer von Konrad Adenauer abgesegneten geheimen Regelung durften die Siegermächte den Post- und Telefonverkehr in der Bundesrepublik nach Belieben überwachen, um alte Nazis oder neue Kommunisten aufzuspüren. Infolgedessen wurden zum Beispiel rund 100 Millionen Briefe aus der DDR geöffnet beziehungsweise beschlagnahmt, ohne dass dies jemand ahnte. In der NZZ empfiehlt Joachim Güntner den Band, weil er der aktuellen Diskussion die nötige Tiefenschärfe verleihe. Dem taz-Rezensenten Jan Korte führt Foschepoth eindrücklich vor Augen, wie anfällig die Exekutive für jede Machterweiterung ist. In der FAZ liest Rainer Blasius mit demselben Entsetzen wie Franziska Augstein in der SZ, wie sich Bundesregierungen und Alliierte am Grundgesetz vergingen.

Masha Gessen
Der Beweis des Jahrhunderts
Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman
Suhrkamp Verlag Berlin 2013, 321 Seiten, 22,95 Euro



Die Wissenschaft hat wohl kein wunderlicheres Genie aufzubieten als
Grigorij Perelman, der 2002 eines der größten Rätsel der Mathematik, die Poincaré-Vermutung, löste, aber jede Ehrung für diese geistige Herkules-Tat ablehnte. Eigentlich lehnt Perelman auch alles andere ab: die Wissenschaft, die Universität, andere Menschen. Er zog sich ganz von der Welt zurück. Masha Gessen, die bereits ein sehr erhellendes Porträt über Wladimir Putin verfasst hat, geht der Geschichte dieses Mannes nach, und wie Norbert Lossau in der Welt versichert, belässt sie es nie beim Klischee von Wahn und Genie, sondern beschreibt klug und spannend die Parallelwelt der Mathematik wie die der sowjetischen Wissenschaft. Auf Spiegel Online bemerkt Thomas Andre, dass Gessen Perelman zwar das Asberger-Syndrom zuschreibt, aber niemals Faszination und Bewunderung für diesen Mann verliert. Der Guardian findet nach Lektüre des Buches, dass Perelman allen Grund hatte, sich aus der Welt der sowjetischen Mathematik mit all ihren "Intrigen, Denunziationen und unfairen Wettbewerben" zurückziehen.

Frank Lorenz Müller
Der 99-Tage-Kaiser
Friedrich III. von Preußen - Prinz, Monarch, Mythos
Siedler Verlag 2013, 464 Seiten, 24,99 Euro



Nichts geht Historikern mehr auf die Nerven als die Idee, dass es auch anders hätte kommen können. Der 99-Tage-Kaiser steht für die nachholende Sehnsucht, dass sich Deutschland in eine liberalere Richtung hätte bewegen können. Aber er starb halt nach 99 Tagen. Und so klar es heutigen Historikern heute ist, dass Wilhelm II. Übles vorgezeichnet und selbst schon angerichtet hat, so eilig versichern sie, dass Friedrich III. den Lauf der Geschichte nicht verändert hätte. Frank Lorenz Müller ist hier offenbar keine Ausnahme, aber seine bisher doppelt besprochene Biografie liefert dem entzaubernden Ansatz offenbar auch eine Menge Munition. Patrick Bahners macht es in der FAZ sichtlich Spaß, den virtuellen Kaiser vom Sockel gestoßen zu sehen und das verbürgte Fatum eintreten zu lassen. Und auch Wilhelm von Sternburg stellt in der FR ein für alle Mal fest, dass Friedrich III. die Geschichte nicht umgeschrieben hätte. Gegen Bismarck wäre er gar nicht angekommen, so liberal war er sowieso nicht, und außerdem ein Zauderer. Beide bescheinigen Müllers Biografie eine ausgezeichnete Lesbarkeit. (Hier eine

Hellmut Flashar
Aristoteles
Lehrer des Abendlandes
C. H. Beck Verlag 2013, 416 Seiten, 26,95 Euro



Hellmut Flashar ist immerhin Herausgeber der deutschen Aristoteles-Gesamtausgabe, der Mann muss sich also auskennen. Der Klappentext verspricht nicht nur, dass er alles erzählt, was man heute über das Leben des Artistotels weiß, sondern dass er auch in jedes seiner Bücher einführt, und das ist gewiss keine schlechte Idee. Sie geht auf: Dieses Buch ersetzt "Regalmeter von Spezialforschung", freut sich Johan Schloemann in der SZ. Wie Schloemann betont auch Christof Rapp in der FAZ und Hans-Albrecht Koch in der NZZ, dass sich das Buch ausdrücklich an einen breiten Leserkreis wendet und alle wünschenswerten und anregenden Kontextualisierungen bietet. Rapp lobt Flashars Mut zur Verallgemeinerung - endlich einer, der Aristotel nicht dem fragmentierten Blick der Spezialisten überlässt! (Hier eine